Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Ist Bochum besser als man denkt?

Bochum kann für die absolute Steigerung des Bilds von "unentdeckter Schönheit" stehen. Denn seine in der Vergangenheit aufgestaute Stimmung verbaut jede Schönheit. Was ist die Wahrheit einer solchen Stadt?

Zwischen Essen und Dortmund liegt Bochum, jeder weiß das natürlich in Deutschland, aber auch, wenn man nur einen Moment überlegt, dass Bochum immer wieder zwischen Dortmund und Essen verschwindet. Im Ruhrgebiet mit seinem nüchternen Stolz auf die Vergangenheit aus Stahl und Kohle erinnern westlich von Bochum die Stadt Essen, der Name Krupp und Gebäude wie die Villa Hügel an eine Nobilitierung der Gegend während des Zweiten Kaiserreichs, und ähnlich edel und fern klingen heute Namen wie Rot Weiß Essen oder Helmut Rahn aus der ersten Hoch-Zeit des deutschen Fußballs in den Jahren des Wirtschaftswunders. Dortmund, östlich von Bochum, hatte eine große mittelalterliche und dann eine frühneuzeitliche Vergangenheit als Hanse-Stadt und schien seit den ersten beiden Meisterschaften von Borussia in den Jahren 1956 und 1957 immer wieder (doch nicht immer) im Zentrum internationaler Fußball-Faszination auf. Sonst ist Bochum ganz wie Dortmund und Essen — nur eben ohne Borussia und die Hanse, ohne Helmut Rahn und die Villa Hügel.

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Deshalb wohl hat Herbert Grönemeyer, der in Bochum aufgewachsen ist, seine Stadt eine “ehrliche Haut” genannt. Aber abgesehen einmal von der etwas verbissenen Frage, ob eine Stadt denn wirklich “ehrlich” sein kann, mag sich der Verdacht einstellen, jene “Ehrlichkeit” sei nichts anderes als eine fast “radikale” Abwesenheit von Bemerkenswertem in dieser besonderen Stadt von fast Vierhunderttausend. Oder hat Bochum doch etwas zu bieten, potentielle Momente von Schönheit, Glück und Bedeutung, deren Erwähnung nicht gleich in Peinlichkeit umschlägt? Nur wenn es etwas Außergewöhnliches zu sagen gäbe, das manchmal unerwähnt bleibt, wäre es ja plausibel, von so etwas wie “Bescheidenheit” oder gar “Ehrlichkeit” zu sprechen. Ist Bochum, um noch einmal Grönemeyer zu zitieren, tatsächlich “besser als man denkt”?

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Wer aus Distanz spricht über eine Stadt oder über ein Land, der redet in der Sicht der Einheimischen natürlich nie differenziert genug. Immerhin habe ich acht Jahre in Bochum gearbeitet und gelebt, lange genug, um mich mit einer gar nicht leicht zu erklärenden, aber doch tiefen Sympathie daran zu erinnern, dass nichts leicht ist in dieser Stadt, nicht einmal die Stunden des Glücks oder die Tage des Erfolgs. Und selbst wenn sie in der Form von “Geschichte” viel weniger erklären kann, als wir noch bis vor kurzem glaubten, staut sich doch in der Vergangenheit so etwas wie eine Stimmung von Orten auf, eine Stimmung, die bleibt und sich über die Gegenwart legt. Die Vergangenheit von Bochum beginnt schon im späten neunten Jahrhundert und scheint (in der offiziellen Erinnerung zumindest) dominiert von Phasen und Ereignissen, die das Leben dort in vielerlei Weisen prekär gemacht haben: Brandkastrophen, Pestepidemien, Zeiten extremer Verarmung, und immer wieder Bergbau-Unglücke seit dem neunzehnten Jahrhundert. Zwischen 1933 und 1945, das ist mein Eindruck aus affektiver Nähe und räumlicher Distanz, muss die Stadt für die deutschen Machthaber eine Enklave verweigerter Begeisterung und Teilnahme gewesen sein, doch daraus hat Bochum nie viel gemacht. An der Spitze der “bekannten Persönlichkeiten,” mit denen sich die Stadt assoziieren will, steht Carl Arnold Kortum, ein in Mühlheim an der Ruhr geborener, literarisch inspirierter Arzt aus dem späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert, nach dem auch die am ehesten “großstädtische” Straße von Bochum und ein Kaufhaus im Zentrum benannt sind. Und auf dieser Straße steht als “bekanntestes Wahrzeichen” das Kuhhirtendenkmal, sehr unscheinbar wirklich, 1908 aufgestellt zur Erinnerung an Heinrich Kortebusch, den letzten Bochumer Kuhhirten von 1858 bis 1870, als die Industrialisierung endlich für Weidevieh keinen Platz mehr ließ; dann während des Zweiten Weltkriegs zum Bau von Kanonen geschmolzen und neu gegossen nach 1945.

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Kann es das geben, eine Stimmung, die als Kontinuität derart lang und nachhaltig wirkt, durch all die verschiedenen Zeiten der Vergangenheit und ihre besonderen Tonalitäten hindurch? Ja und nein vielleicht: nein, weil sich so eine Stimmung nicht wie eine Farbe oder eine Form identifizieren und beschreiben lässt; ja, weil sie sich am Ende manifestiert, indirekt manifestiert, in der Neutralisierung und Verschattung von allem Großen, das sich in Bochum je zeigen und ereignen mag. Zum Beispiel steht vor dem Bahnhof seit 1977 “Terminal,” ein bedeutendes Werk des großen amerikanischen Skulptors Richard Serra. Serra hat 1981 sogar eine Frau aus Bochum geheiratet, und doch ist die Funktion von “Terminal” in der Stadt nur vergleichbar mit der Funktion einer Verkehrsinsel für das “großräumige Umfahren” des Bahnhofs. Bochum hat ein Schauspielhaus, wo während der späten siebziger und der achtziger Jahre zwei außerordentliche Regisseure, Peter Zadek und Claus Peymann, singuläre Momente in der deutschen Theatergeschichte gestaltet haben. Doch Bochums Name ist selbst in der Erinnerung der Spezialisten unendlich weniger mit dem Werk von Zadek und Peymann, mit den Uraufführungen von Bernhard- und Handke-Stücken verbunden als dies für Hamburg, Berlin oder Wien der Fall ist.

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Vor allem gibt es die 1962 gegründete Ruhr Universität Bochum, wo 1965 die Lehre aufgenommen wurde, die erste Hochschulneugründung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, welche ohne jeden Zweifel bis heute Hunderttausenden von tendenziell unterprivilegierten jungen Deutschen das Studium überhaupt erst ermöglicht hat; die wohl nicht allein in den Geisteswissenschaften die Karrieren von einigen der wirklich bedeutenden akademischen Protagonisten aus den letzten fünfzig Jahren auf den Weg gebracht und befördert hat – und die sich selbst immer schon in der ungelenkigsten Weise vorgestellt hat. Während der frühen Jahre ihrer Existenz “wusste” man von der Ruhr-Universität im Land eigentlich nur, dass ihre Beton-Architektur (die historisch gesehen eine allzu ernst genommene Ausführung von Le Corbusier-Prinzipien sein wollte) angeblich eine skandalöse Zahl von Selbstmorden unter den Studenten provoziert habe – ohne dass die zuständige Pressestelle je wirkungsvoll reagiert oder gar interveniert hätte. In den beiden Bewerbungs- und Bewertungsstadien der sogenannten “Exzellenz-Initiative” während des vergangenen Jahrzehnts schließlich war Bochum die am höchsten bewertete Universität, welche am Ende nicht in die zweistellige Millionen Euro-Wolke des Exzellenz-Status gewunken wurde. Es ist, als habe der lange Bochum-Schatten aus der Vergangenheit eine der besten deutschen Hochschulen eingeholt – und dies mit nachhaltigen Folgen.

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Gibt es so etwas wie Leidenschaft für die Gleichheit in Bochum? Schon eine Beschreibung dieser Art ist wohl zu konturiert und zu optimistisch. Denn Bochum hat zum Beispiel den VfL, früher die unauffälligste Mannschaft der ersten, heute die unauffälligste Mannschaft der zweiten Bundesliga, mit einem sehr schönen Stadion, das der VfL als “unser Zuhause” vorstellt, um es von den “Arenen” und “Parks” der anderen Clubs abzusetzen. In Bochum sind ein halbes Jahrhundert lang Opels gebaut worden, nicht Mercedes, BMWs oder Audis. Bochum könnte nie eine Mannschaft der Nationalspieler sein, das Schauspielhaus nicht die Bühne der Stars und die Universität nicht der Ort der großen internationalen Auszeichnungen. Mit dem Bergmannsgruß “Glück auf!” bringt Grönemeyer seine Stadt zusammen, doch selbst die Stimmung solcher Töne aus der klassenkämpferischen Vergangenheit bleibt eigenartig flach und sogar bleich. Natürlich ist Bochum auch die Konsequenz einer absolut monochromen sozialdemokratischen Tradition in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten. Doch sie ist zu dominant, um als Form wahrgenommen zu werden. Etwas anders formuliert: zu massiv ist die eine dominante Identität von Bochum, als dass es dort einen Ort geben könnte, von dem aus sie sichtbar wird. Selbst so schöne westfälische Restaurant-Namen wie “Rietkötter” oder “Mutter Wittich” verlieren in Bochum an Farbe und Klang.

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Vor allem ist Bochum die Unfähigkeit, etwas aus sich zu machen. Zum Beispiel gehört die Ruhr-Universität nach der auf ihrer eigenen Website angegeben Studentenzahl zu den fünf größten Hochschulen Deutschlands. Doch in offiziellen und inoffiziellen Rankings erscheinen weit kleinere Studentenzahlen, die Bochum zu “einer der fünfzehn größten Universitäten” machen. Dies hat gewiss nichts mit intellektueller Qualität zu tun, ist aber symptomatisch für eine nicht abzuschüttelnde Geste von Ungeschicklichkeit. Und jene Unfähigkeit, etwas aus sich zu machen, kann nicht umgeformt werden in eine Präsenz von Erinnerungen und Werten aus der Vergangenheit. Bochum ist auch nicht wirklich die Stadt, “wo das Herz noch zählt,” statt dem großen Geld.” Eher ist sie “total verbaut, aber gerade das macht sie aus,” um ein letztes Mal Herbert Grönemeyer zu zitieren. Bochum kann weder “ehrlich” sein, noch “besser als man denkt.” Es ist, was es ist, verbaut von einer langen Vergangenheit, unfähig, irgendetwas aus sich zu machen. Doch aus diesem existentiellen Widerstand, aus der Intransparenz, die überwunden werden muss, aus der Notwendigkeit, Konturen zu schaffen, die sich nie ergeben haben, entsteht wohl die Genauigkeit, die Solidität, die Zuverlässigkeit und manchmal auch die wahre Exzellenz in dem, was die Stadt, nicht allein die Universität, leistet. All dies gehört dazu in Bochum, es gehört zu einer Stimmung, die aus tiefer Vergangenheit kommt.