Keine Stadt in Europa ist mir lieber als Lissabon – und das mag mit dem Eindruck zu tun haben, dass sie mich aufnimmt, ohne mir etwas abzuverlangen. Es gibt andere Städte, zu deren Identität eine Liste von “Sehenwürdigkeiten” gehört, die nicht gesehen zu haben, ihren Besuchern ein Gefühl versäumter Pflichterfüllung auferlegt — das unvergleichliche Paris zum Beispiel, London, Barcelona, Wien oder Sankt Petersburg. Lissabon dagegen ist eine kohärente Stimmung, die sich so wenig aufdrängt, dass man sie, von dem unauffälligen, nicht weit vom Zentrum liegenden Flugplatz kommend, erst einmal übersieht, mehrere Tage vielleicht, weil einem die Hauptstadt von Portugal eben nichts abverlangt.
Es hat schon lange kein Jahr mehr gegeben, wo ich nicht in Lissabon war, und zu jedem Besuch gehört ein Abend beim Clube de Fado, im unteren Teil der Stadt, nahe bei der Kathedrale und nicht zu weit vom Tajo, der dort immer breiter dem Atlantik entgegenströmt. Man bekommt im Clube de Fado sehr gutes traditionelles Essen, das drei, vier, fünf Mal unterbrochen wird von einer Viertelstunde Fado-Aufführung, dem portugiesischen Äquivalent des spanischen Flamenco, könnte man (sehr touristisch) sagen, oder der Volks-Musik von Portugal (wenn dieser Ausdruck nicht immer schon allzu deutsch klänge). Zu jedem Auftritt gehören die hellen, in meinen Ohren sehr geordneten Klänge einer klassischen und einer runden “portugiesischen” Gitarre; dazu jeweils eine Stimme, Frau oder Mann, jung oder alt, ohne Ausnahme leidenschaftlich, als ob es um Leben oder Tod ginge fast, jedenfalls nie bloß heiter. Die Texte, die gesungen werden, sind meistens einfach, aber – vielleicht wegen dieser gutturalen Leidenschaft – nur schwer zu verstehen für Hörer, die nicht selbst mit der portugiesischen Sprache aufgewachsen sind. In ihnen geht es um alles, was einem zustoßen kann im Leben (“fado” ist ein – sonst nur selten gebrauchtes – Wort für “Schicksal”): um Liebe, Trennungsschmerz und Sehnsucht, um Einsamkeit, Verlust und Trauer, um Armut, Unterdrückung und Niederlagen:
Mein Liebster, mein Liebster,
Du warst mein Traum und mein Brot,
Du warst mir Fieber und Glut,
Vernunft und Irrsinn,
und Durst und Genuss
in den Morgenstunden des Sommers,
aber auch mein Gefängnis,
oh nein
[…]
jetzt, beim Sonnenuntergang,
wenden sich meine Augen ab
und werden nie zurückkehren,
oh nein
So elementar, ja minimalistisch präsentieren sich die Themen und die Musik des Fado, dass sie aus einer fernen Vergangenheit zu stammen scheinen, wo das Leben einfach und die Gefühle stark gewesen sein müssen. Hinzu kommt die immer drohende Bemerkung der wahren Kenner, dass eine Aufführung wie der Abend im Clube de Fado eigentlich viel zu organisiert und profitorientiert sei, und dass man doch eher in den Bars oder Tavernen bestimmter Gegenden der Stadt auf die Musiker und Sänger warten soll, immer mit dem Risiko, sie am Ende gar nicht zu hören. Der Fado ist tatsächlich an bestimmte Viertel von Lissabon gebunden, an das Bairro Alto (in der Oberstadt), wo sich bis heute – neben Diskotheken und oft etwas schmuddligen Restaurants – eine mittlerweile schon richtig altmodisch aussehende Prostitution gehalten hat; oder in der Mouraria, wo vor Jahrhunderten die “Mohren” von Lissabon lebten. Neben Lissabon gibt es Fado nur noch in Coimbra, der ehrwürdigen Universitäts-Stadt des Inlands, als eine inzwischen etwas fragil gewordene Studenten-Tradition, wie eine Burschenschafts-Welt ohne scharfe Klingen. Fado ist immer ein Ereignis der Authentizität, weil seine Themen und Aufführungen vor allem Gesten beschreiben, denen man nicht entrinnen kann; weil er zu wenigen, sehr spezifischen Orte gehört; und weil damit der Eindruck verbunden ist, dass er aus einer unvordenklich fernen Vergangenheit kommt. Nichts wirkt weniger künstlich, weniger beliebig, weniger vermittelt als der Fado, Mehr noch als bloß das Ereignis ist er das Ritual von Authentizität.
So laufen im Fado – wie in der Stadt Lissabon – mit seltener Intensität und Kohärenz — verschiedene kulturelle Erinnerungen vom atlantischen Westen der iberischen Halbinsel zusammen als ein Strom dieser Authentizität. Die mittelalterlichen “Cantares do amigo” (“Lieder des Freundes”) inszenieren sich um eine weibliche Stimme, die dem aufs Meer oder in den Krieg aufgebrochenen Freund nachtrauert. Bis heute ist der dem deutschen Kyffhäuser-Motiv ähnliche Mythos von Dom Sebastiao lebendig, die Erinnerung an einen glorreichen König, der den Hafen von Lissabon verließ und in der Ferne starb um doch eines Tages zurückzukehren und eine Zeit nationaler Größe heraufzubeschwören. Schließlich besetzt in allen Kulturen, die sich aus der portugiesischen Sprache entfaltet haben, “Saudade” einen weit verästelten Raum, jene schmerzhaft-schöne Wendung auf die eigene Einsamkeit und Sehnsucht.
Nichts widerspricht solcher kulturellen Harmonie und vielstimmig-einfachen Fülle mehr als ein spezifscher Absatz aus der wichtigsten wissenschaftlichen Geschichte des Fado (ihr Autor heißt Rui Viera Nery), die konstatiert und belegt, dass die wesentlichen Züge dieser Form populärer Kunst “während der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts in die heute vertraute Konfiguration” eingemündet sind, entscheidend beeinflusst von der Entwicklung des Radios und der Schallplatte als damals neuen Medien. Auf der einen Seite jener erst jüngst vergangenen Gegenwart hat (ähnlich wie beim argentinischen Tango, nur um wenige Jahre später) der frühe internationale Erfolg des Fado wahrend der fünfziger und sechziger Jahren, konzentriert in der wunderbaren Stimme der “Fado-Königin” Amália Rodrigues, dessen Beliebtheit und Ansehen in Portugal entscheidend gefördert (erst unter dieser Voraussetzung entschloss sich die wertkonservative Regierung von António de Oliveira Salazar, den Fado als Teil des nationalem Kulturerbes anzuerkennen). Auf der Seite seiner Vorgeschichte hingegen löst sich die Tradition des Fado – unter einem ernsthaft historischen Blick – im Laufe von wenigen Jahrzehnten in immer vagere Behauptungen auf, in populäre Mythen und am Ende tatsächlich in ein dokumentarisches Nichts.
Vor der Erfindung des Grammophons und des Radios im frühen zwanzigsten und späten neunzehnten Jahrhundert erfreute sich der Fado immerhin schon einer allmählich wachsenden Beliebtheit, die wohl von der Assoziation mit einigen Varianten der bürgerlichen Sünde und dem bohémienhaften Studentenleben profitierte. 1846 schon war in der Mouraria die Prostituierte Maria Severa gestorben, nachdem sie in ihrem kurzen Leben als Geliebte des Grafen von Vimioso, einem Helden der romantisch-liberalen Imagination, und als Fado-Sängerin, so berühmt wurde, dass sich die Erinnerung an sie bald zu einer portugiesischen Version des sentimentalen Märchens von der “Kameliendame” verklärte. Die ersten Texte portugiesischer Sprache aber, in denen der Name “Fado” für musikalische Formen gebraucht wird, stammen aus der späten Kolonialzeit in Brasilien, unmittelbar nach 1800, und beziehen sich auf Tanz-Rituale afrikanischer Skaven. Ob diese Rituale irgendeine Ähnlichkeit mit dem Fado von Lissabon und Coimbra hatten, werden wir nie wissen – aber es ist durchaus unwahrscheinlich.
Nichts jedenfalls scheint schneidender den impliziten Authentizitäts-Anspruch des Fado zu dementieren als diese erstaunlich kurze Geschichte. Denn wenn seine Tradition nicht als kulturelle Kontinuität in unvordenkliche zeitliche Ferne führt, dann können auch seine elementaren Gesten nicht die Spuren einer ursprünglichen, einfachen, ihrer selbst gewissen und deshalb glücklichen Welt sein. Möglicherweise wurden gerade diese Gesten erst in den frühen Jahren von Grammophon und Radio zu wesentlichen Komponenten des Fado. Doch das bedeutet ja nicht, wenn man es so formulieren kann, dass die Gefühle, die der Fado hervorbringt und seinen Hörern schenkt, falsch sind. Eher sollte uns seine Geschichte überzeugen, die Vorstellung und das Verstehen des Ursprungs von Authentizität überhaupt zu verschieben. Denn sie entspringt nur selten wirklich aus der Tatsächlichkeit von elementaren Gesten, unvordenklichen Traditionen und spezifischen Räumen, zu denen sie gehören. Immer aber geht Authentizität auf eine Sehnsucht nach Konturen der Klarheit und Eindeutigkeit zurueck. Weil wir heute in einem Universum der Kontingenz leben, das heißt in einer Welt, die nicht mehr nur ein Feld der Kontingenz ist, ein Horizont des Zufälligen und Relativen zwischen den Grenzwerten des Unmöglichen und des Notwendigen, sondern ein Universum, welches auch das Unmögliche möglich und das Notwendige kontingent macht, nur deswegen hat diese Sehnsucht zugenommen, seit sie unter neuzeitlichen Vorzeichen enstanden ist. Wir brauchen Momente, wo Sehnsucht – vorübergehend zumindest – erfüllt scheint, und falls sie uns der Fado gibt, dann sollten wir an dieser von ihm produzierten Authentizität festhalten.
Keine philosophische Position aus dem vergangenen halben Jahrhundert ist öfter in Anspruch genommen worden, wenn es darum ging, Authentizitäts-Wünschen (viele von ihnen werden in der Philosophie “Metaphysik” genannt) ihren Grund zu entziehen, als Jacques Derridas “Dekonstruktion.” Dabei war gerade Derrida ein Philosoph der Sehnsucht nach Authentizität. Je mehr wir die Metaphysik hinter uns lassen, schrieb er in der entscheidenden Passage des Vorworts zu seinem Buch “Grammatologie,” desto klarer wird uns, dass wir sie nie überwinden können. Vielleicht hat der Fado eine so singuläre Kraft, weil er sich nicht auf die Authentizität verlassen kann, die er für uns erschafft und uns gibt.