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1:7 als brasilianisches Sommermärchen

Vor genau einem Jahr sahen nicht wenige Brasilianer ihr Land am Abgrund einer Krise. Die Fußball-Nationalmannschaft hatte zwar eben mit durchaus ermutigenden Leistungen den Confederations-Cup gewonnen, und in Europa vor allem reagierten die Spezialisten mit der damals überzeugenden Prognose, dass am Gastgeber bei der kommenden Weltmeisterschaft wohl doch nicht vorbeizukommen sei. Aber statt kollektivem Hochgefühl löste der Confederations Cup in den großen brasilianischen Städten wilde Proteste gegen die hohen Staatsausgaben für das Turnier des kommenden Jahres aus und konvergierte dann mit Studenten-Streiks, deren explizit werdende Forderungen – etwa als Protest gegen eine bescheidene Erhöhung von Bus-Fahrpreisen — niemand so recht ernst nehmen wollte. Auf der anderen Seite gab es aber keine wirklich plausible Erklärung für die Unruhen — und deshalb trug am Ende die Hilflosigkeit der Interpreten zusammen mit der nervösen Ratlosigkeit einer Regierungspartei, die seit zwölf Jahren an massive Zeichen kollektiver Beistimmung gewohnt ist, mehr zur Stimmung einer nationalen Krise bei als die Manifestationen selbst.

Was mich am meisten überraschte, als ich jetzt zwölf Monate später wieder in Brasilien landete, durch das Ritual der Passkontrolle ging und (gar nicht so lange) auf den Koffer wartete, war meine zunächst fast vorbewusste Reaktion auf das Ende brasilianischer Fußball-Glorie nach dem 1:7 im Halbfinale von Belo Horizonte und dem eigentlich noch mehr ernüchternden 0:3 beim kleinen Finale in der Hauptstadt Brasilia. Plötzlich fehlte mir eine Art affektiver Resonanzschwingung, die ich vorher nie bemerkt hatte, ein Basso continuo von Euphorie und Begeisterung angesichts der sich immer neu einstellenden Gewissheit, ins wahre Land des Fußballs gekommen zu sein. Dabei war schon während der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland das Ende jenes halben Jahrhunderts absoluter Dominanz greifbar geworden, in dem der brasilianische Fußball seit 1958 fünf von zwölf Titeln geholt hatte und permanenter Titel-Favorit war. Es war eine Zeit, in der jede nicht von Brasilien gewonnene Weltmeisterschaft spezifische Thesen oder Mythen der Erklärung hervorbrachte — die national als Entschuldigung funktionierten. In der Erinnerung an charismatische Spieler und ihre auratischen Momente war die große Geschichte dann durch jene vorbewusste Resonanzschwingung weiter präsent geblieben – eben bis zur Fußball-Katastrophe dieses Jahres. Das erstaunliche Überleben der Illusion aus Erinnerung hatte wohl auch damit zu tun, dass sie Teil eines eigenartig romantischen Selbst- und Fremdbildes war, welches das Land international beliebt gemacht hat und an dem die Brasilianer selbst seit den Unabhängigkeitsbewegungen im neunzehnten Jahrhundert mit Leidenschaft hängen. Es ist das Bild – oder besser: der Traum — von einer Nation, in der Zivilisation periphär bleiben kann, weil ein unendlicher Überfluss von natürlichen Rohstoffen und natürlichem Talent die Lösung aller Probleme verspricht.

All dies, das romantische Selbstbild seiner Nation und ihre gebrochene Fußball-Euphorie, schien der Taxifahrer, der mich vom Flughafen in Belo Horizonte zum Stadtzentrum brachte, mühelos und ohne Narben hinter sich gebracht zu haben. Ich hatte ihm aus höflich vorweggenommenem Mitgefühl das Angebot gemacht, auf unserem Weg nicht wie sonst am Minerao, dem WM-Stadion, vorbeizufahren. “Tatsächlich werde ich anders fahren, Senhor,” sagte er, “aber nicht weil mir irgendeine Erinnerung an diese Niederlage weh täte, sondern weil heute dort Cruzeiro [einer der zwei großen Clubs von Belo Horizonte und derzeit Tabellenführer] gegen Santos [die ehemalige Mannschaft von Pelé und auch von Neymar] spielt, vor ungefähr 40,000 Zuschauern — und wir also das Risiko vermeiden sollten, in einen Stau zu geraten.” Auch auf meine immer noch zögerliche Frage, wie er denn das Fiasko der Nationalmannschaft erkläre, reagierte der Fahrer denkbar gelassen. Wichtig sei, sich zunächst einmal klar zu machen, dass das Gesamt-Torverhältnis der letzten beiden Spiele Brasiliens 1:10 gewesen sei, “also keine Katastrophe, sondern eine Wahrheit: wir haben einfach heute weniger Stars als die anderen [“craques” sagt man auf Brasilianisch, und das Wort kommt natürlich vom englischen “cracks”] – was viele Gründe hat, zum Beispiel, dass ein Junge aus der Favela heute auf die Universität gehen kann, wenn er sich anzustrengt, und Fußball nicht mehr der einzige Weg ist, in den Mittelstand aufzusteigen” Er selbst werde die wichtigen Spiele von Cruzeiro weiter am Fernsehen verfolgen und auch ab und an ins Stadion gehen, das gehöre zur Familien-Tradition. “Aber ernster soll man Fußball ja auch gar nicht nehmen,” beschloss Edmilson da Silva unser Gespräch, als wir beim Hotel ankamen, nun beinahe mich mit sanfter Autorität tröstend –und gab mir für alle Fälle seine Business-Karte.

Vielleicht sind die Brasilianer ja erleichtert, dachte ich, erleichtert, dass sie für sich und die Welt nun nicht mehr die Illusion am Leben halten müssen, die eine ganz große Fußball-Nation, die Fußball-Nation des unendlichen Talent-Überflusses zu sein. Genau auf dieses Festhalten an einer Illusion, die niemand mehr glaubte – so sieht man jetzt viel schärfer – hatten sich während der Weltmeisterschaft die leidenschaftlichen Aufrufe zur Soldarität mit der Heim-Mannschaft bezogen, die verkrampfte Bemühung auch, Neymars Verletzung beim Viertelfinale in eine Motivation für das Halb-Finale umzumünzen – und dann im Stadion das a capella-Singen der Nationalhymne aus mehr als fünfzigtausend Stimmen. Diese ganze Last sind die Brasilianer endlich losgeworden, so wie sie auch mit neuer Gelassenheit über die Herbst-Wahlen zum Präsidenten-Amt reden. Wenn Dilma Rousseff – nach den Protesten und der Krise des vergangenen Jahres – im Präsidentenamt bestätigt werde, dann sei das ihrem politischen Talent zuzuschreiben — und auch dem verdienten kollektiven Stolz darauf, dass die staatlichen Institutionen während der Weltmeisterschaft ihre Kompetenz erwiesen haben. Sollte sie aber abgelöst werden, dann läge darin – nach zwölf Regierungsjahren derselben Partei – ein Vorteil für die Institutionen der parlamentarischen Demokratie.

Das ist das Paradox und das Wintermärchen von Brasilien, sechs Wochen nach dem Ende der Weltmeisterschaft, ein Paradox so mild wie die ersten Frühlingstage im August der südlichen Hemisphäre. Obwohl die politischen Probleme des vergangenen Jahres ungelöst blieben (ja nicht einmal identifiziert wurden) und nun auch noch die Illusion von der ewigen Fußballgröße zerbrochen ist, hört man kaum mehr das Wort “Krise.” Das 1:7 des Halbfinales von Belo Horizonte ist nicht zu einer kollektiven “Tragödie” geworden wie das 1:2 im Maracana-Finale von 1950 gegen Uruguay – denn damals funktionierte der Glaube an die eigene (wie wir heute wissen: erst bevorstehende) Fußball-Genialität noch als Ausgleich für vielfältige Frustrationen, die in einer archaisch gebliebenen Gesellschaft und unter einem politischen System mit faschistischen Anklängen entstanden. Heute dagegen kann es sich Brasilien leisten, so viel ruhiger auf die WM-Niederlagen zu reagieren, dass über eine breit angelegte Reform der Fußball-Institutionen kaum diskutiert wird. Stattdessen macht das Verb “des-barbosear” die Runde. Es bezieht sich auf Moacyr Barbosa Nascimento, den Nationaltorwart von 1950, der als einer der besten Torwarte in der brasilianischen Fußball-Geschichte so nachhaltig für die “tragische” Niederlage verantwortlich gemacht wurde, dass er lebenslang auf psychiatrische Hilfe angewiesen war.

“Desbarbosear,” das heißt im August 2014, Felipe Scolari viel Erfolg mit seinem neuen Club in Porto Alegre zu wünschen, statt ihn als Trainer für die Niederlage gegen Deutschland weiter verantwortlich zu machen; Fred, den emblematisch erfolglosen Stürmer der Weltmeisterschaft, in der Absicht zu ermutigen, auf Beleidigungen von Fans seiner eigenen Mannschaft mit einem Streik zu reagieren; ein freundliches distanziertes Interesse an all den vermeintlichen Welt-Stars zu haben, ob sie nun Kaka, Robinho oder Pato heißen, die während der vergangenen Wochen in ihre Heimat zurückgekehrt sind, wo sie nun für etwas weniger Geld und vor nicht ganz vollen Stadien spielen werden, aber andererseits auch viel mehr Freizeit genießen. Dass Dunga, der Nachfolger von Felipao, die Abwehr der Nationalmannschaft stärken wird, ohne irgendwelche inspirierenden Impulse zu vermitteln, das hat er schon in derselben Rolle vor und während der Weltmeisterschaft von 2010 gezeigt – und niemand kritisiert den nationalen Fußballverband, weil er sich nicht um einen ausländischen Star-Trainer bemüht hat. Die Erwartungen sind bescheiden geworden, irgendwann wird Brasilien wieder einmal Weltmeister, es muss ja nicht beim nächsten Mal sein. Kaum jemand lässt sich derzeit in den Bars von seiner Caipirinha oder seinem Bier ablenken, wenn dort auf den Fernsehbildschirmen ein Fußballspiel beginnt, und an den abgesteckten Feldern der früher geradezu mythoglischen “Fußball-Schulen” auf den Stränden von Rio de Janeiro, welche die berühmten Clubs der Stadt unterhalten, versuchen Trainer vergeblich, kleine und größere Jungens zum Mitspielen zu ueberreden.

Im vergangenen Jahrzehnt hat man Brasilien immer wieder unter den sogenannten “Schwellen-Ländern” genannt – und sein Zukunfts-Potential zu bemessen versucht. Vielleicht hat nun das Wintermärchen von 2014 dem Land geholfen, diese “Schwelle” endgültig zu überschreiten. Brasilien ist heute auch in seinem Selbstbewusstsein eine Nation der ersten Welt, mit einer starken Wirtschaft und einem erstaunlich effizienten Bildungssystem, eine Nation, die den Fußball als Kompensationsangebot nicht mehr braucht – und sich, wenn auch mit einigem Zögern und mit Schmerzen sogar, von ihrem liebsten Selbstbild — als Nation der Natur und des unbegrenzten Talents — zu verabschieden beginnt.

All dies wird unleugbar positive Konsequenzen für das Land und seine Bürger haben. Für die Freunde Brasiliens und für seine Touristen ist dabei allerdings auch etwas verlorengegangen.

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