Digital/Pausen

Eliten von morgen: ein letztes Mal Utopie

Zu den Besonderheiten Deutschlands als Kulturnation gehört heute eine in Gesprächen und Texten allenthalben spürbare, fast einstimmige Phobie gegenüber dem Begriff und dem Phänomen der “Elite.” Darin zeigt sich wohl primär eine der vielen und erstaunlich nachhaltigen Reaktionen auf die spätestens seit der Gründung des Zweiten Kaiserreichs im Jahr 1871 angelegte und im Nationalsozialismus gipfelnde Strömung nationaler Selbst-Überheblichkeit. Aus einer komplementären Perspektive aber erscheint das Deutschland unserer Zeit in dieser Phobie auch als eine Gesellschaft, welche — mit vor- oder halbbewussten Verhaltensweisen des Alltags eher als mit expliziten Parolen und Programmen – massiv auf den Wert der Gleichheit setzt, nicht selten sogar um den Preis einer Beschränkung individueller Freiheit. Die deutsche Gesellschaft unterscheidet sich in dieser Hinsicht von Frankreich etwa oder von den Vereinigten Staaten, wo Erwartungen und Hoffnungen für die Zukunft seit jeher auf Traditionen staatlicher und privater Institutionen der Elite-Bildung gebaut haben, auf die “Grandes Ecoles” in Paris und auf eine Handvoll international herausragender Universitäten an der amerikanischen Atlantik-Küste, am Pazifik und in Chicago. Ihre Absolventen können damit rechnen, innerhalb weniger Jahre an Knotenpunkten der Entscheidungsmacht anzukommen.

Vor allem in Deutschland dagegen – und gerade nicht im derzeit offiziell sozialistisch regierten Frankreich – schnellen immer wieder im Blick auf Einzelfälle und unabhängig von Situationen des Missbrauchs sehr prinzipielle Diskussionen über die Legtimität und Begrenzung von Höchstgehältern empor. Sie sind eher Symptome eines Widerstand und Ressentiments gegen Leistungs-Eliten als Kritik an dysfunktional gewordenen Standes- und Positions-Eliten, die den Status Quo von in ferner Vergangenheit erworbenen Privilegien auf Dauer zu stellen versuchen. So wirkt es zunächst wie eine Ironie der Geschichte, dass gerade in diesem so konsequent, ja fast harmonisch auf Gleichheit von Besitzstand und sozialem Status konzentrierten Land die Chancengleichheit zwischen den Generationen offenbar vernachlässigt worden ist. In keiner wirtschaftlich und kulturell vergleichbar entwickelten Gesellschaft liegt die Wahrscheinlichkeit der jeweils jüngsten Generation, die von ihren Eltern eingenommenen Bildungs- und Besitz-Situationen zu reproduzieren, so hoch wie in Deutschland. Sowohl Aufstieg als auch Abstieg sind Ausnahme-Ereignisse. Die mit solcher Statik angeblich verbundenen Zukunfts-Risiken haben kritisch-intellektuelle Stimmen und die jeweilige politische Opposition während der vergangenen Jahrzehnte immer wieder warnend hervorgehoben – ohne einschneidende Veränderungen zu bewirken. Und die Meta-Ironie der historischen Ironie liegt darin, dass Deutschland mit dieser Statik ja sehr gut gefahren ist. Deshalb wohl klingt mittlerweile die verbleibende Polemik der finanziell besser Gestellten gegen Steuererhöhungen fast verhaltener und weniger konturiert als ihr schlechtes Gewissen angesichts noch verbleibender Privilegien, während die schmale (Hartz IV) Unterschicht der langfristig oder permanent Arbeitslosen beginnt, ihr traditionelles Selbstbild als Opfer struktureller Ausbeutung aufzugeben.

Der Begriff der “Elite” hat seinen Ursprung in der französischen Gesellschaft des siebzehnten Jahrhunderts und wurde zuerst für ausgewählte Luxusgüter gebraucht (in der Partizipialform des französischen Verbs “élire”: “auswählen”), mit denen damals neue Markt-Ressourcen von durch den absolutistischen Staat unterstützten bürgerlichen Produzenten erschlossen und genutzt wurden. Das so eingeworbene und akkumulierte Kapital war dann für diese Prozuzenten häufig Grundlage und erster Schritt zur Erhebung in der Adelsstand (“noblesse de robe,” “Kleidungs-Adel” entstand – im Gegensatz zu “noblesse d’épée,” dem “Schwertadel” – als ein Begriff, durch den letzte Differenzen und Hierarchien innerhalb der Oberschicht markiert und noch aufrecht erhalten wurden). So war die Elite als soziale Erscheinung zusammen mit dem Widerstand gegen und der Diskussion über sie denkbar eng an die ersten Mobiliätschancen gebunden, mit der sich die frühneuzeitliche von der mittelalterlichen Gesellschaft absetzte.

Retrospektiv wird deutlich, dass die – sehr begrenzten – Möglichkeiten und Varianten dieser Diskussion bald ausgeschöpft waren. Sie lagen in der Dreiheit eines Anspruchs, einer Reaktion und einer elementaren historischen These. Erstens waren besondere Leistungen mit dem Anspruch auf sozialen Aufstieg zur Elite und umgekehrt vollzogener sozialer Aufstieg mit dem Anspruch verbunden, in Leistung begründet zu sein. Zweitens weckte jede etablierte Elite bald schon die kritische Außen-Reaktion, nicht mehr in Leistung begründet zu sein und deshalb zur Ablösung anzustehen. Drittens ergab sich aus diesen Ansprüchen und den auf sie folgenden Reaktionen die Vision einer historischen Energie, welche zu einer permanenten Umbesetzung im Status der Elite führen sollte.

Heute klingt — zumal in Deutschland — jedes neue Durchdeklinieren dieser drei Theorie-Dimension banal und eben erschöpft, da Ansprüche und reaktive Klagen angesichts einer Situation sozialer Statik tendenziell immer überzogen scheinen. Wer wäre denn wirklich in seiner Existenz reduziert oder gar bedroht von den permanent kritisierten Spitzengehältern, und wer bedürfte andererseits noch wirklich einer Bewegung sozialen Aufstiegs, um in Würde weiterleben zu können? Möglicherweise stehen wir am Beginn jener in der Vergangenheit gelegentlich als Möglichkeit ins Spiel gebrachten Situation, wo auf der Grundlage sich fortschreitend potenzierender technologischer Möglichkeiten die Arbeits-Investition eines Drittels der erwachsenen Menschheit ausreichen würde, um allen Menschen auf unserem Planeten eine Existenz ohne primäre Probleme zu sichern.

Unter dieser Voraussetzung einer vielleicht gerade erst einsetzenden Gegenwart würde verständlich, warum sozialer Aufstieg in Verbindung mit der Zugehörigkeit zu einer Elite seine Faszination als elementarste aller Utopien der Neuzeit zu verlieren beginnt. In einer Gesellschaft, der möglicherweise – vorübergehend zumindest – ihre Selbst-Reproduktion und mithin das Überleben all ihrer Mitglieder so mühelos gelingt, dass sich nun schon der Gedanke an Unsterblichkeit als naturwissenschaftlich zu realisierende Option am Horizont zeigt, könnte die privilegierte Form der Existenz, könnte die Utopie von morgen nicht mehr die Dynamik des Aufstiegs sein, sondern jene Intensität und Erfüllung, die sich markant von der immer gleichen Gewissheit einer garantierten Versorgung abhebt. Privilegiert sein hieße dann gerade nicht mehr, sich von der Verpflichtung auf Arbeit langfristig befreit zu haben, sondern im Gegenteil zu dem Drittel der Menschen zu gehören, die in der Zukunft durch ihre Leistung das Überleben der anderen zwei Drittel sicherstellt; aus besonderer Leistung folgte in der Utopie von morgen gerade nicht mehr ein Anspruch auf hierarchische Dominanz und Reichtum, sondern eine neue Version des Ideals vom unentfremdeten Leben. Das permanent tun zu dürfen, was man gerne tut und also tun möchte, so dass der Kontrast zwischen Arbeits-Zeit und Frei-Zeit verschwindet. So zu leben, dass man sich von jener Vital-Kraft getrieben und erhoben fühlt, auf die Nietzsche mit dem Begriff vom “Willen zur Macht” anspielte. All dies wäre eine neue Form existentieller Erfüllung – und gerade nicht mehr dauernde Entlastung und Delegation von Verpflichtungen an andere. Die Utopie und der Elitismus von morgen erschienen als der symmetrische Gegenentwurf zu jener grotesken Maximierung von Ansprüchen unter Minimierung jeglicher Selbst-Verpflichtung, welche jüngst Peter Sloterdijk als Lebensform der “schrecklichen Kinder der Neuzeit” beschrieben hat.

Dass derzeit sowohl der klassische Sozialismus, verbunden mit gewerkschaftlicher Organisation, wie die mit ihm früher rivalisierende klassisch-bürgerliche Leistungs-Orientiertheit dabei sind, ihre Attraktivität zu verlieren (was sich unter anderem in einem demographischen Substanzverlust der auf beide Positionen eingeschworenen politischen Partien zeigt), stärkt die Vorstellung von unentfremdeter Existenz als einer substantiellen, nicht mehr einfach symmetrisch entgegengesetzten Alternative. Der Sehnsucht nach Vollkommenheit und Erfüllung näherkommen beim Schreiben von Computerprogrammen und beim Schachspielen, beim Kochen und bei der Erforschung unerschöpfter biologischer Potenziale des menschlichen Lebens, beim Golfspielen und beim Vermessen des Universums, in der Pflege eines Gartens und der Entwicklung neuer Technologien, in der Sorge und in der Liebe, ohne die Unterscheidung von Pflicht und Lust, von Egoismus und Altruismus, das könnte einen zukünftigen Moment lang die Elite-Existenz als Utopie von morgen werden – und unsere letzte Utopie.

Dagegen ließe sich einwenden, dass der Traum vom nicht-entfremdeten Leben ja schon einmal Endhorizont in der Tradition des Sozialismus und Kommunismus gewesen war – und dann als einzigartig vielversprechendes Experiment während des zwanzigsten Jahrhunderts im Extrem staatlicher Repression erstarrt und gescheitert ist. Doch dieses Scheitern mag die notwendige Konsequenz einer Zeit der Menschheit gewesen sein, wo unter Bedingungen fortexistierender Knappheit das Privileg der einen immer in den Nachteil und den Mangel der anderen umschlagen musste, die Konsequenz einer Zeit, in der Leistung und Erfüllung noch nicht wirklich zu trennen waren von Ansprüchen des Aufstiegs und der Dominanz. Heute dagegen gibt es Anlass zu der Vorstellung, dass eine Zeit anbrechen könnte, wo sich die Menschen durch ihre Erfindungsgabe gerade von dieser Logik befreien – und wo deshalb das Ideal der Elite als unentfremdetes Leben zum ersten Mal auf die Chance stößt, wirklich zu werden.

Dies ist zumindest eine schöne und ermutigende Hoffnung, die sich aus unserer besonderen Gegenwart freisetzen lässt (und die ich meinem Freund Hans Weiler zum Geburtstag widmen möchte). Zugleich stehen wir aber unter dem begründeten Eindruck, dass die Spanne begrenzt sein könnte, in der unsere natürliche Umwelt die Expansion und das Überleben der Menschheit als kosmische Aberration und Exzentrizität noch zulässt. Dann wäre die vorerst nur in vager Ferne aufscheinende Utopie von Elite als unentfremdeter Existenz unsere letzte Utopie gewesen.

Die mobile Version verlassen