Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Die süße Ruhe im Wahnsinn: über ein spätes Gedicht von Friedrich Hölderlin

Die letzten sechsunddreißig Jahre seines Lebens verbrachte Friedrich Hölderlin in einer unaufhebbaren Welt von Wahnsinn und Distanz. Warum berühren uns plötzlich seine einfachen Gedichte aus jener Zeit?

Im Dezember 1801 war der einunddreißigjährige Friedrich Hölderlin von seiner schwäbischen Vaterstadt Nürtingen zu Fuß nach Bordeaux aufgebrochen, wo man ihm – zum wiederholten Mal in seinem Leben – eine “Hofmeisterstelle” angeboten hatte, eine Anstellung als Erzieher, diesmal bei der Familie des begüterten Weinhändlers und Konsuls Daniel Christoph Meyer aus Hamburg. Hölderlin hatte den Großteil seiner bedeutendsten Gedichte in den drei vorausgehenden Jahren geschrieben, inmitten einer Konzentration, die häufig von Unruhe und ebenso jähen wie rätselhaften Abreisen aufgehoben wurde. Diese existentielle Anspannung, welche zugleich Folge und Bedingung seiner Hoffnung war, eine alle Gegensätze vereinende, absolute Sprache und mit ihr einen Ort im Kosmos zu finden, hat sich seinen Texten in immer schrofferen Brüchen und immer monumentaler bewegten Versen eingeschrieben, deren Crescendo eine eigentlich kurze Zeit intensiver Produktivität im Rückblick wie den Bogen einer langfristigen Entwicklung aussehen lässt.

Auch in Bordeaux hielt es Hölderlin nicht lange aus, obwohl er zunächst sehr emphatisch der Begrüßung des Konsuls zugestimmt hatte, dass er “dort glücklich” sein werde. Am 28. Januar angekommen, beantragte er schon Mitte Mai wieder ein Visum und beendete abrupt seine Hofmeistertätigkeit, um sich auf den Rückweg über Paris in seine Heimat zu machen, ohne dass es – wie bei früheren Stellen – zu einem Zerwürfnis oder auch nur zu Problemen mit dem Konsul und seiner Familie gekommen war. “Andenken,” eines seiner stolzesten Gedichte, beschwört im Moment des Abschieds die Welt des südwestlichen Frankreich herauf:

[…]
Noch denket das mir wohl und wie
Die breiten Gipfel neiget
Der Ulmwald, über die Mühl’,
Im Hofe aber wächset ein Feigenbaum.
An Feiertagen gehen
Die braunen Frauen daselbst
Auf seidnen Boden,
Zur Märzenzeit,
Wenn gleich ist Nacht und Tag,
Und über langsamen Stegen,
Von goldenen Träumen schwer,
Einwiegende Lüfte ziehen.
[…]

Den Hölderlin aber, der vier Wochen später zuhause ankam, erlebten die Freunde – mit Schrecken, doch ohne Überraschung – als einen nicht nur geistig Zerrütteten: “Er war leichenbleich, abgemagert, von hohlem wildem Auge, langem Haar und Bart, und gekleidet wie ein Bettler,” notierte Friedrich Matthison, ein Dichterfreund aus gemeinsamen Jahren im Tübinger Stift. Dann habe sich ihm “das schrecklich Bild genähert und mit dunkler, geisterhafter Stimme gemurmelt: Hölderlin.” In jenen Tagen der Heimkehr erfuhr Hölderlin auch, dass seine wahre Liebe, Susette Gontard, die junge Frau eines früheren Arbeitgebers aus dem Frankfurter Großbürgertum, am 22. Juni an Röteln gestorben war.

Hölderlin hatte nach jenem frühen Sommer noch einundvierzig Jahre zu leben, doch die dunkle und lange zweite Hälfte seiner Existenz hatte bereits begonnen. Zunächst kam er wieder, wie schon vor dem Aufbruch nach Bordeaux, bei seinem revolutionär gesinnten, aber auch mit dem Adel wohl verbundenen Freund Isaak von Sinclair in Bad Homburg unter, wo er – wohl eher pro forma – als Bibliothekar eingestellt wurde, bis Sinclair dann im Juli 1805, im Ton eines Beamten fast, an Hölderlins Mutter schrieb: “Es ist nicht mehr möglich, dass mein unglücklicher Freund, dessen Wahnsinn eine sehr hohe Stufe erreicht hat, länger eine Besoldung beziehe und hier in Homburg bleibe.” Sinclair selbst war eben aus der Haft entlassen worden, zu der man ihn wegen seiner revolutionären Kontakte verurteilt hatte, weshalb nicht auszuschließen ist, dass die Betonung von Hölderlins nun permanenter Verwirrung eine vorbeugende Schutzmaßnahme sein sollte. Jedenfalls ließ die Mutter, eine gut versorgte und auf Familienehre bedachte Witwe aus zwei Ehen, Hölderlin gegen seinen hartnäckigen Widerstand in einer Kutsche nach Tübingen bringen, wo er mehr als sieben Monate einer wohlmeinenden, aber im besten Fall seine Situation nicht weiter verschlechternden Behandlung ausgesetzt war, die im Mai 1807 mit dem Verdikt der “Unheilbarkeit” endete.

Mit welchen Begriffen die heutige Medizin und Psychotherapie Hölderlins Krankheit beschrieben hätte, lässt sich aufgrund der spärlich überlieferten Dokumente nicht ausmachen, so dass wir keinen Anhaltspunkt haben, um uns seinen Geisteszustand vorzustellen (deshalb auch schreibe ich unspezifisch vom “Wahnsinn” Hölderlins und zitiere dabei seine Zeitgenossen). Der nun schon Siebenundreißigjährige wurde der Familie des Schreiners Ernst Zimmer zur bezahlten Pflege und Logis anvertraut und sollte im ersten Stock eines turmähnlichen Teils ihres Hauses am Neckar die letzten sechsundreißig Jahre seines Lebens verbringen. Schon lange hatten die Zimmers Hölderlins Dichtung bewundert und kümmerten sich so mit Respekt und nie endender Geduld um ihren Schutzbefohlenen. Der verbrachte einen Teil jeden Tages damit, viele Seiten Papier mit seiner noch schwungvollen Schrift zu füllen, und daneben verfasste er Briefe an seine Mutter bis zu ihrem Tod im Februar 1827.

Um die fünfzig Gedichte und etwas weniger Briefe sind uns – in offenbar eher zufälliger Auswahl – erhalten geblieben. Wie sie zu lesen seien und wofür sie wohl stehen könnten, war von Anfang bis heute eine offene und stets faszierende Frage, die meist unabhängig von der Auslegung seiner großen Dichtung diskutiert wurde. Für die exaltiert romantischen Zeitgenossen wie Bettina von Arnim galt Hölderlins Wahnsinn als die letztgültige Bestätigung seines Genies: “Mir sind seine Sprüche wie Orakelsprüche, die er als der Priester des Gottes im Wahnsinn ausruft, und gewiss ist alles Weltleben ihm gegenüber wahnsinnig; denn es begreift ihn nicht.” In den sich selbst für so “progressiv” haltenden sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fanden linke Literaturwissenschafter Gefallen an der These des französischen Polizeioffiziers Pierre Bertaux, dass die vermeintliche Krankheit des Revolutionärs und Jakobiners Hölderlin Maske einer langfristigen Verstellung in der für ihn gefährlichen Welt der Restauration gewesen sei. Ebenfalls in den sechziger Jahren veröffentlichte der Genfer Germanist Bernard Böschenstein einen Aufsatz, der zum erstenmal mit der Prämisse brach, dass Gedichte eines Wahnsinnigen nur entweder als Zeichen von Genialität oder als Symptome einer Krankheit aufgefasst werden könnten. Wie kein anderer Leser zuvor ließ sich Böschenstein auf den besonderen Ton der späten Gedichte von Hölderlin ein und betonte zugleich, dass es uns wohl nie gelingen werde, den Geisteszustand nachzuvollziehen, aus dem sie entstanden waren. Und gerade darin mag eine Voraussetzung der Schönheit liegen, die wir in ihnen entdecken können.

Anders als die berühmten lyrischen Texte aus seiner ersten Lebenhälfte sind Hölderlins späte Gedichte gereimt. Das heißt, dass zur Wiederholung von Silben- und Akzent-Folgen, wie sie in Vers- und Strophenform eingeschrieben sind, nun auch Wiederholungen des Klangs der Wörter kamen. Die ineinander verfugten Wiederholungen von Rhythmus und Klang aber verstärken einander und bedingen so, zumal angesichts kurzer (also sich schnell wiederholender) Verse, den Eindruck einer Sprache, die sich selbst hervorbringt, scheinbar unanhängig von einer Person, welche ihr Bedeutung und Stimme gibt. Unter den zwischen 1807 und 1843 entstandenen, nicht wirklich datierbaren Gedichten von Friedrich Hölderlin hat mich wegen diesem besonderen Effekt von Rhythmus und Reim – und durchaus nicht gegen ihn – schon lange ein Text mit dem Titel “Der Spaziergang” beeindruckt:

Ihr Wälder schön an der Seite,
Am grünen Abhang gemahlt,
Wo ich umher mich leite,
Durch süße Ruhe bezahlt
Für jeden Stachel im Herzen,
Wenn dunkel mir ist der Sinn,
Den Kunst und Sinnen hat Schmerzen
Gekostet von Anbeginn.
Ihr lieblichen Bilder im Thale,
Zum Beispiel Gärten und Baum,
Und dann der Steg der schmale,
Der Bach zu sehen kaum,
Wie schön aus heiterer Ferne
Glänzt Einem das herrliche Bild
Der Landschaft, die ich gerne
Besuch’ in Witterung mild.
Die Gottheit freundlich geleitet
Und erstlich mit Blau,
Hernach mit Wolken bereitet,
Gebildet wölbig und grau,
Mit sengenden Blizen und Rollen
Des Donners, mit Reiz des Gefilds,
Mit Schönheit, die gequollen
Vom Quell ursprünglichen Bilds.

Aus welchen Zustand des Bewusstseins diese Verse gekommen sind und an wen sie sich wenden wollten, werden wir nie wissen – und damit fehlen glücklicherweise die beiden Grundvoraussetzungen für jene Übung, die man im Gymnasium oder an der Universität “Interpretation” nennt. Stattdessen müssen – und dürfen – wir uns auf die Beschreibung eigener Reaktionen beschränken, ohne zu fragen, wer zu uns spricht.

In ein Verhältnis großer Distanz fühlen wir uns vor allem versetzt. Wenn man in dem Gedicht Landschaft erlebt, so sieht man sie aus “heiterer Ferne,” nicht nur aus Distanz also, sondern aus einer Distanz, die als “heitere” mit sich selbst einverstanden ist und sich nicht aufheben will. Andererseits steht diese Landschaft dem “heiter fernen” Betrachter als ein “gemahltes,” “liebliches,” “herrliches Bild” gleichsam objektiv gegenüber, als ein wirkliches, die Welt still legendes Bild — nicht bloß als eine Landschaft, die “wie ein Bild” aussieht. Die heitere Ferne aber ist Voraussetzung und Folge einer “süßen Ruhe,” die “Einen gerne” in der Landschaft sein lässt, während die Ruhe ihrerseits als “Bezahlung,” als Ausgleich für ein Trauma erfahren wird, als Ausgleich für einen “Stachel im Herzen,” für “Schmerzen,” welche “Kunst und Sinnen” in Hölderlins ersten Leben “gekostet” haben. Dieses Leben allerdings ist hier nicht Vergangenheit, sondern über das Präsenz-Tempus des Textes zeitgleich mit der “süßen Ruhe” und der “heiteren Ferne.”

Keine Handlung, keinen Willen und schon gar kein Bestreben gibt es im Bild einer Landschaft, das mit seiner “süßen Ruhe” für “Schmerzen” von früher bezahlt.” So wie die in regelmäßige Verse geformte und in Reime gefasste Sprache sich selbst hervorzubringen scheint, wird der Spaziergänger von einer “Gottheit freundlich” durch die Landschaft “geleitet” und kann deshalb sich auch selbst “umher leiten.” Nicht einmal die “sengenden Blize” und das “Rollen des Donners” bringen das “reizende,” “milde,” “blaue” Bild der Landschaft in Bewegung oder gar in Unordnung. Dies ist eine Welt ohne Spannungen, eine Welt ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, eine Welt in die einzige Zeitdimension ihrer eigenen Gegenwart gefasst. Und nur aus einem anderen Bild auch, dem “ursprünglichen Bild,” soll sie als Substanz “gequollen” sein, so wie sich das Wasser einer Quelle immer selbst hervorbringen und zu bewegen scheint, ohne Grund oder Auslöser.

Es ist, als sollten diese einfachen Verse eine Wirkung erfüllen, die sie in der zweiten Hälfte von Friedrich Hölderlins Leben gewiss nicht haben konnten; es ist, als wollten sie — zu spät — für einen Dichter Ruhe stiften, der an seinem Streben nach absoluter Sprache und an den Spannungen seiner Zeit zerbrochen war. Denn bis zu seinem Tod blieb Hölderlin unruhig und agitiert, ballte seine Hände nervös in die Hemdsärmel und wurde von Wutanfällen überkommen. Auf den wenigen Portraitzeichnungen der Tübinger Zeit wirkt er erschöpft und ausgemergelt. Doch zugleich gab es Dimensionen der Regelmäßigkeit in seiner Existenz. Er stand meist um drei Uhr morgens auf, wanderte dann im Hausgang oder im “Zwinger” auf und ab, einem Landstreifen zwischen Stadtmauer und Neckarufer, sang, begleitete sich auf dem Kavier und spielte Flöte, führte Selbstgespräche, rezitierte aus seinen eigenen Gedichten oder aus dem Roman “Hyperion” und ging zwischen sieben und acht Uhr schlafen.

Besucher aus der in jenen Jahren wachsenden Gemeinde von Hölderlin-Lesern behandelte er mit grotesken Gesten der Distanzierung, die an die Distanz zur Landschaft in seinem Gedicht erinnern. Er wandte sich ohne Unterschied an sie alle mit Anredeformen wie “Herr Baron,” “Euer Durchlaucht,” “Eure Majestät” und sogar “Eure Heiligkeit,” während er sich sich der bloßen Nennung seines eigenen Namens widersetzte: “Ich, mein Herr, bin nicht mehr von demselben Namen, ich heiße nun Killalusimeno.” Für seine Gäste schnell hingeschriebene Gedichte signierte er oft als “Scardanelli” und datierte sie auf Tage der fernen Zukunft. Auch in den Briefen an die Mutter schien Hölderlin in höchst förmlichen Worten von seiner Höflichkeit Abstand zu nehmen: “Verehrungswürdige Mutter! Ich habe die Ehre, Ihnen zu bezeugen, dass ich über den von Ihnen empfangenen Brief recht erfreut seyn musste. Ihre vortrefflichen Äußerungen sind mir sehr wohltätig, und die Dankbarkeit, die ich Ihnen schuldig bin, kommt hinzu zu der Bewunderung Ihrer vortrefflichen Gesinnungen.”

So als hätte sich Hölderlin in einer stillgestellten und nur manchmal maschinenhaft bewegten Welt zu leben verordnet, wirken seine Texte, in einer Welt, wo die “schwarze Sonne der Ehemaligkeit aufgegangen war,’ wie Peter Sloterdijk kürzlich schrieb, in einer Welt vor allem, die fern von seinen Ausbrüchen war und ihnen doch gleichsam Raum ließ. Vielleicht gehört dieser “süßen Ruhe” und Regelmäßigkeit ein neuer Zauber in der anderen Welt unserer Gegenwart, die nicht mehr nur eine Welt der vielfachen Normen, Deutungen und Optionen ist, sondern auch eine Welt, wo alles früher Unmögliche und alles früher Notwendige zum nur mehr Möglichen wird. Den frühen Beginn unserer modernen Welt aus Komplexität hatte Hölderlin mit der ekstatischen Sprache seiner Oden und Hymnen zu fassen gesucht – und daran war er in klassischer Größe gescheitert. Im späten Moment der Welt-Entgrenzung hingegen klingen die der einfache Rhythmus und die vorsichtige Ferne seiner Gedichte aus den Jahren des Wahnsinns wie ein Trost. Wer sagt, dass schöne Gedichte komplex sein müssen?