Der amerikanische Sport ist Endspiel-fixiert und Sieges-begierig, weshalb jener gut gemeinte Satz von der Teilnahme, die wichtiger sei als der Wettbewerb, hier noch steriler klingt als anderswo. Eine Liga ohne Endspiel – wie die Bundesliga – ist unvorstellbar in den Vereinigten Staaten, deshalb hat man ja schon die bloße Möglichkeit des Unentschiedens eliminiert in den Mannschaftssportarten, wo (auf welcher Ebene immer, von den Profis bis zu den Knirpsen) solange nach je spezifischen Regeln weitergespielt wird, bis ein Sieger feststeht. Ausgerechnet diese Sieges-Ausschließlichkeit verbindet übrigens den amerikanischen Sport mit dem Sport im antiken Griechenland, wo es auch nur einen Sieger und viele Besiegte gab, keine “Silbermedaillen-Gewinner” und schon gar keine “moralischen Sieger.”
In den vier großen nordamerikanischen Mannschaftssportarten (American Football, Baseball, Basketball und Eishockey, mit überaus populären eigenen Meisterschaften im College Basketball und seit diesem Jahr zum ersten Mal auch im College Football) haben sich die etwas über einen Monat gehenden Play-Offs als institutionelle Form jener Endspiel-Fixierung herausgebildet und dann vor Jahrzehnten schon auf Serien von Spielen zwischen zwei Mannschaften (“Best of Three.” “Best of Five,” “Best of Seven”) ausgedehnt, mit denen längst auch in Deutschland die Basketball- und die Eishockeysaison enden. Eine Ausnahme macht allein der American Football, der seine Saison am ersten Februar-Sonntag mit einem einzigen Endspiel, dem Super Bowl, abschließt, dem bei weitem populärsten Ereignis des amerikanischen Sportjahres. Warum im Football keine Serie gespielt wird, erklärt man meist mit seinen besonderen physischen Anforderungen und Verletzungs-Risiken, aber die sind eigentlich beim Eishockey nicht geringer – und gerade dieser Sport hat die längste Saison, einschließlich der längsten Playoff-Zeit. An der Dauer der einzelnen Spiele kann es auch nicht liegen. Zwar dehnt der Super Bowl die sechzig Minuten reiner Spielzeit auf etwas mehr als vier Stunden aus, aber Baseball-Spiele gehen manchmal über eine noch viel längere Zeit, und Eishockey-Spiele sind mit ihren zwei Drittel-Pausen nicht entscheidend kürzer. Die Ausnahme der Zuspitzung auf das eine Super Bowl-Endspiel gehört wohl einfach zum besonderen Inszenierungs-Stil des Footballs, wo es — immer, bis zum Ende, irreversibel und mit höchster dramatischer Intensität — ums Ganze gehen soll. Nicht zufällig wohl sind (eher bildungsbürgerliche und meist banal klingende) Assoziationen zwischen Football und der antiken Tragödie bis heute bei unseren Sport-Essayisten sehr beliebt geblieben.
Alle amerikanischen Playoff-Systeme sind so organisiert, dass in ihrem Endspiel eine Mannschaft aus dem Osten des Landes (fast immer von der Atkantikküste) auf eine Mannschaft aus dem Westen (Pazifikküste und mittlerer Westen) trifft. In ihren jährlichen Varianten zeigt auch die Inszenierung dieses Kontrast beim Football besonders deutliche Konturen, weil die Mannschaften des Ostens mit einer “soliden,” auf physischer Dominanz und Ballkontrolle beruhenden Spielweise identifiziert werden, während man von Mannschaften des Westens Impulse strategischer Innovation und höhere Risikobereitschaft erwartet (als “West Coast Offense” gilt etwa seit einigen Jahrzehnten jede schnell ausgeführte Sequenz von Spielzügen mit vor allem kurzen Pässen des “Quarterbacks” an verschiedene “Receivers” – und sie wurde von Bill Walsh, einem Coach aus Kalifornien, erfunden, der mit diesem Stil eine unvergessene Mannschaft der San Francisco 49ers zu drei Super Bowl Siegen führte). Die Kontrahenten des neunundvierzigsten Super Bowls an diesem Sonntag, die New England Patriots (aus der Gegend von Boston) und der Titelverteidiger, die Seattle Seahawks, verkörpern den regionalen Kontrast denkbar deutlich. New England hat relativ früh in der nun zuende gehenden – nur vier Monate langen – Football-Saison einen Rhythmus effizienter Nüchternheit entwickelt, dem keine andere Mannschaft des Ostens standhalten konnte. Seattle hingegen überstand einige überraschende Niederlagen und qualifizierte sich für den Super Bowl im Spiel gegen die Green Bay Packers erst durch eine Schlussphase, in der massives Glück mit den von den Regeln dieses Sports eröffneten Möglichkeiten für dramatische “Schicksalswenden” konvergierten.
Richard Sherman, ein noch relativ junger, afro-amerikanischer Deckungsspieler der Seahawks, den Präsident Obama beim Sieger-Empfang des vergangenen Jahres im Weißen Haus besonders hervorhob, ist – nicht nur auf dem Feld – ein Star dieser Mannschaft. Seine sportliche Spezialität sind die eigentlich seltenen “Interceptions” langer Pässe des gegnerischen Quarterbacks, mit denen er nicht nur immer wieder das eigene Team in die Offensiv-Position bringt, sondern oft schon sehr früh eine asymmetrische Stimmungsdynamik zwischen beiden Mannschaften zugunsten der Seahawks hergestellt hat. Dabei helfen Sherman mindestens ebenso wie eine herausragende Sprungkraft und Ballsicherheit sein zugleich aggressives und selbstironisches Rede-Talent, mit dem er vor entscheidenden Spielen die Offensivspieler des Gegners öffentlich unter Druck setzt (“you will not be able to throw the ball far away enough from me”). Es ist in den bisher drei Jahren seiner Karriere deshalb immer wieder vorgekommen, dass die Gegner, um Shermans gefürchtete Interceptions zu vermeiden, allzu komplexe Offensiv-Strategien entwickelten, die dann unter dem Druck des aktuellen Spiels mit fatalen Folgen implodierten.
Sich in den (von Zuschauern außerhalb Amerikas als Zumutung empfundenen) langen Auszeiten zwischen aufeinanderfolgenden Spiel-Szenen (bei Ballbesitz von New England) zu fragen, ob und wie Tom Brady, der maximal genau werfende, stets hochkonzentrierte Quarterback der Pariots (und Mann von Gisele Bündchen), auf die Sherman-Herausforderung reagieren wird, das wäre ein Beispiel für die besondere Art der antizipierenden –- auf die jeweils nächste Szene konzentrierten — Teilnahme von Football-Fans an ihrem Spiel. Die Spielzüge selbst werden dann in dem Maß interessanter (und tatsächlich auch schöner), wie man sich gestattet, Momente offener und intendierter Gewalt als Kondensationspunkte strategischer Komplexität zu akzeptieren und verstehen (den Kommentar eines New England-Spielers, dass es wichtig sein wird, sehr früh die physische Konfrontation mit Richard Sherman zu suchen, weil er seit dem Spiel gegen Green Bay an einer Ellenbogenverletzung laboriert, empfand niemand als skandalös). Schließlich haben Fußball-gewohnte Zuschauer eine Tendenz, Football-Spiele zu früh für entschieden zu halten. Einen Ergebnis-Abstand, der drei oder sogar vier Toren entspricht, in fünfzehn Minuten reiner Spielzeit aufzuholen, gehört zu den realistischen – und vor allem strategisch zu nutzenden – Möglichkeiten dieses Sports. Auch sie können natürlich nicht gerantieren, dass keine der beiden Mannschaft einen Anfangs-Vorsprung kontinuierlich ausbaut (was an diesem Sonntag wohl eher New England zuzutrauen waere) — und das Spiel zur Langeweile verdammt.
Zweifellos hat es mit der Staccato-artig fragmentierten Verlaufsstruktur des American Football zu tun, mit seiner strategischen Komplexität und mit jener besonderen Art antizipierender Zuschauer-Aufmerksamkeit, wenn ausführliche, aber immer auf die unmittelbar vorausgehenden und folgenden Situationen fokussierte Kommentare die Kommunikation im Stadion und vor den Bildschirmen bestimmen. Und vielleicht ist eine Kultur des Public Viewing mit ihren außerordentlichen Zuschauerzahlen im Bezug auf den Football noch nicht entstanden, weil Public Viewing (beinahe wie das Kino) eine permanente und wesentlichtlich schweigende Konzentration auf den Bildschirm voraussetzt. Die klassische Sozial-Form des Endspiel-Sonntags im Football hingegen ist die “Super Bowl Party” für zehn, zwanzig, dreißig Freunde, die durchaus Fans der beiden rivalisierenden Mannschaften sein können und sich meist vorab durch bescheidene (Super Bowl-spezifische) Wett-Investitionen zum Engagement motiviert haben. Genau aus dieser Grundstruktur muss die Situation jener (meist von Firmen gemieteten) “Suiten” hervorgegangen sein, die auch zu den neueren Fußball-Stadien gehören und (wenigstens nach meiner Erfahrung) mit der grundlegend verschiedenen Aufmerksamkeitsform dieses Sports nur schwer zu vereinbaren ist. Andererseits haben sich die Lounges und Bar-Bereiche hinter den Suiten der zuletzt eröffneten American Football-Stadien derart ausgedehnt, dass die verlaufende Gegenwart des Spiels – vor allem für Zuschauer auf den teuren Plätzen – von zuviel Kommunikation an die Peripherie der Aufmerksamkeit gedrängt wird.
Das verhält sich bis heute grundlegend anders in vielen Stadien des College Footballs, der – aus europäischer Perspektive: fast unglaublicherweise – an den Herbst- und frühen Winterwochenden insgesamt noch mehr Zuschauer anzieht als die professionelle Football-League. Seine wichtigste Voraussetzung und Differenz liegt in mehreren, miteinander verfugten Dimensionen der räumlichen und sozialen Nähe. Große Zuschauer-Blöcke in Spielfeldnähe sind für die Studenten der beiden Universitäten reserviert, zu denen die Football-Helden gehören (und spielberechtigt sind nur Studenten der ersten vier Bildungs-Jahre, die man “College” nennt). Eine Bar- und Lounge-Kultur kann sich hier nicht entfalten, weil keine alkoholischen Getränke beim College-Sport angeboten werden dürfen. Aber auch nach dem Studium bewahrt man der Mannschaft seines ehemaligen Colleges eine besondere Art von Treue, die nicht allein sportlich, sondern immer auch von nostalgischen Erinnerungen motiviert ist. Ein wichtiges Heimspiel gehört so zum Pflichtprogramm der jährlichen “Homecoming Weekends,” an denen Zehntausende von früheren Studenten zu ihren Colleges zurückkehren.
Allein aus diesem Kontext hat sich der American Football entwickelt und ist erst relativ spät, um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, zu einem erfolgreichen Berufssport geworden (woran die römische Zahl “XLIX” vor dem diesjährigen Super Bowl erinnert). Trotz gelegentlicher Zugeständnisse hat die Dachorganisation des College-Sports – durchaus auch aus wirtschaftlichen Gründen – den im wörtlichen Sinn “konservativen” Gestus in der Selbstinszenierung ihrer Football-Version gegen vielfache Initiativen der Veränderung erhalten. Die Konzentration auf das Spiel wirkt hier insgesamt intensiver als bei der Profi-Version, die meisten Zuschauer sind über Generationen hinweg durch ihre Gesellschafts- und Bildungsidentität verbunden – und nicht wenige von ihnen kennen persönlich den einen oder anderen der weit über fünfzig Spieler ihrer Mannschaft. Es ist kein privilegierter Einzelfall, sondern eher ein Beispiel für die soziale Grundstruktur des College Football, dass ich mit einigen heute als Profis erfolgreichen Spielern, unter ihnen auch mit Richard Sherman von den Seattle Seahawks, während ihrer Studentenzeit an der Stanford University in Kontakt war. Nicht selten sehe ich – mit einigem Stolz – Sherman an für ihn spielfreien Wochenden im Stanford-Stadion neben unserer Mannschaft stehen und denke dann zurück an ein kurzes Gespräch unter kalifornischer Herbstsonne, als er von unserem damaligen Coach für mehrere Spiele gesperrt worden war, weil er sein extrovertiertes Temperament auf dem Spielfeld nicht unter Kontrolle hatte.
Solche lokalen Schichten der Erinnerung spielen für vielen Millionen – wenn auch nicht für alle – Zuschauer beim Super Bowl eine entscheidende Rolle, einfach weil sie die Entwicklung des einen oder anderen unter den insgesamt mehr als hundert Endspielteilnehmern seit seinen College-Jahren verfolgt haben. Manchmal verknüpfen sich die immer herbstlichen Erinnerungen auch mit Erwartungen für die nähere Zukunft. Als ich im Oktober 1989 bei einem Stanford Heimspiel gegen Notre Dame University (das große Traditions-Team dieses Sports) zum ersten Mal live einen Touch Down sah (noch ohne die komplexen Regeln des Spiels wirklich ganz zu verstehen), hieß der schlanke und sehr hochgewachsene Spieler, der den Pass seines Quarterbacks entschlossen gegen doppelte Deckung im Sprung festhielt, Ed McCaffrey. Bald sollte er eine herausragende Profi-Karriere bei den Denver Broncos beginnen, und noch heute ist sein Name jedem NFL-Fan geläufig. Seit der nun vergangenen Saison gehört sein etwas kompakter gebauter Sohn Christan McCaffrey zur Mannschaft der Stanford University und hat bei sechs Heimspielen fast dreihunderttausend Zuschauer begeistert (was umso erstaunlicher ist, als Freshmen im Regelfall kaum eingesetzt werden). In einem Interview sagte sein Quarterback am Ende der Saison (und wahrscheinlich seiner eigenen College-Karriere), er schließe nicht aus, dass Christian McCaffrey in zwei oder drei Jahren ein Kandidat für die Heisman Trophy sein könnte, für die Auszeichung des Jahr für Jahr besten College Spielers, die natürlich meist am Beginn von ganz großen Karrieren (und Einkünften) in der Profiliga steht. Gestern sah ich ihn am Fenster meines Büros auf dem Campus vorbeirennen (anscheinenend war er zu spät aufgewacht – das Football Team trainiert derzeit nicht – und wollte gerade noch rechtzeitig zur Vorlesung kommen). Für einen Moment dachte ich nicht bloß an die nächsten Spielzeiten und an den Super Bowl in zehn Jahren, sondern habe mir auch vorgestellt, wie sich Christian wohl in einem meiner eigenen Seminare machen würde.
Cordelia Borchardt bitte ich, mir zwei amerikanische Gegenwartsromane zu nennen, die Richard Sherman und Christian McCaffrey mit Interesse (oder vielleicht sogar mit Begeisterung) lesen könnten.