
„Seelenwanderung,“ das klingt nach jener bis heute nicht ganz abgeklungenen Tendenz der Intellektuellen des neunzehnten Jahrhunderts, ihre eigene Sehnsucht nach einer Einweihung in Geheimes und zugleich Überirdisches, wie sie die christliche Tradition nach der harschen Kritik der Aufklärung nicht mehr zu befriedigen schien, in geographisch oder proto-theologisch anderen Kulturen finden zu wollen, in asiatischen Zwischenwelten von Religion und Philosophie (Schopenhauer) etwa oder in Pantheismen mit pädagogischem Anspruch (unter denen Rudolf Steiners Variante bis heute erfolgreich geblieben ist – vor allem bei einer bestimmten Bildungs-Mittelschicht, die kulturell nicht weiter entfernt sein könnte von der Klientel der Scientology, obwohl sie ihr sozial-strukturell durchaus nahe ist). Solange allerdings der Begriff „Seele“ im Kompositum der „Seelenwanderung“ mit dem „Geist“ gleich- und vom „Körper“ abgesetzt wird, interessieren mich Spekulationen zu diesem Thema kaum, weil sie das Verhältnis zwischen dem Geist, der einen Körper sucht oder auch, hinduistisch und buddhistisch, der sich von der Bindung an einen Körper befreien oder erlösen will, weil sie das Verhältnis von Geistern und den Formen ihrer Verkörperungen beliebig lassen (anders gesagt: in den meisten Fällen solcher Spekulation hat die Identität eines Geistes keine Konsequenzen für die Form eines Körpers, in der er konkret wird).
Wenn wir aber, was die christliche Tradition eigentlich schon immer vorausgesetzt hat, unter dem Begriff der „Seele“ eine je besondere Verbindung von Geist und Körper verstehen (wie vor allem bei den zwei in der jüdisch-christlichen „Genesis“ von Gott erschaffenen Menschen), dann wird Seelen-Wanderung zur Reinkarnation (oder Wiederverkörperung), weil ja nun an das Wiedererscheinen eines Geistes in seiner besonderen Identität auch – wenigstens – Grund-Komponenten einer Identität der körperlichen Form gebunden sein müssen. In dieser Dimension von Seelenwanderung and Reinkarnation bewegen sich eigentlich schon all die endlosen – und heute in sympathischer Weise politisch-inkorrekten – Gespräche und Diskussionen über die Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Individuen innerhalb von Familien. Mein sechsundzwanzigjähriger Sohn ist Restaurant-Manager und sieht seinem überzeugt pantheistischen Großvater mütterlicherseits sehr ähnlich, der – ohne es zu wissen – aussah wie manche Hollywood-Schauspieler aus den fünfziger Jahren. Hat also auch mein überbietbar säkularer Sohn ein – noch nicht sichtbar gewordenes — spirituelles Potential wie sein Großvater? Ich selbst entwickele mich, wenn die alten Photos nicht täuschen, immer mehr zu einer physiognomischen Kopie meines 1960 verstorbenen Großvaters, der eine hierarchisch herausgehobene und durchaus einträgliche Rolle im Rotlicht-Distrikt einer Ruhrgebiets-Stadt spielte. Habe ich also existentielle und berufliche Möglichkeiten ungenutzt gelassen – und könnte ich sie vielleicht (über eine Generation hinweg) an meinen bald fünfjährigen Enkel Diego weitergegeben haben, der, wie ich manchmal zu meiner Freude höre, mir ähnlich sehen soll?
Solche Gedankenspiele mit der „Seele“ als Konvergenz von Körper und Geist haben wohl unvermeidlich — auch da, wo dies gar nicht bewusst wird — einen kosmologischen Horizont, der leicht in Religiosität umschlagen kann (ohne dass dies je notwendig wäre). Denn über den an Al Capone erinnernden Großvater und über meinen Clark Gable ähnlichen Sohn bin ich ja – sind wir – einerseits verbunden mit dem Beginn der Menschheit (und sogar ihren Vorgeschichten) und andererseits mit den Zukünften der Menschheit (oder ihrem möglichen Ende). Und nun hat mich vor wenigen Tagen mein Freund Jan Soeffner, ein kompetenter Literaturwissenschaftler „im besten Alter,“ mit der These überrascht, dass in dieser zweiten Bedeutung des Wortes, die eben Verbindung von Geist und Körper voraussetzt, auch unser Verhältnis zu literarischen Texten oft – und vielleicht sogar immer und systematisch – ein Verhältnis der Seelenwanderung ist.
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„Die meisten Menschen, die man auf Martin Scorseses Klassiker ‚Raging Bull’ anspricht,“ schreibt mir Jan, „denken mehr an Robert De Niro als an den Inhalt des Films. Sie denken an das Boxtraining, das er absolvierte, die Kämpfe, die er bestritt, den Boxstil, den er von Jake La Motta (dem darzustellenden Boxer) persönlich lernte, den Tonfall und die Körperhaltung, die er im Film einnahm und die darin sichtbar werdende Lebensart. All dies bleibt im Gedächtnis. Von der Handlung des Films weiß stattdessen kaum jemand etwas zu berichten, nicht einmal an die Dialoge erinnert man sich. Das Handwerk des Schauspielers hat hier etwas Markanteres hervorgebracht als die konzeptionelle Arbeit an diesem ‚Autorenfilm.’
Mit Literatur, denkt man zuerst, hat so etwas nicht viel zu tun. Denn dort soll es ja es um die Leserimagination gehen, nicht um schauspielerische Verkörperung. Doch der Sachverhalt ist komplizierter Ich denke zum Beispiel an Italo Svevo, einen italienischen Schriftsteller des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Für die Abfassung seines großen Romans ‚La Coscienza di Zeno’ (deutsch übersetzt als ‚Zeno Cosini’ oder ‚Zenos Gewissen’) übte er selbst seinen Protagonisten geradezu ein, statt ihn sich nur vorzustellen. So schrieb Svevo in einem Brief vom 17. Februar 1925 an den Dichter Eugenio Montale: ‚Ich nahm Zenos Art zu gehen an, rauchte wie er und spürte in meiner Vergangenheit all seine Abenteuer auf, die sich meinen eigenen angleichen ließen, einfach weil die Erinnerung an ein eigenes Abenteuer eine Rekonstruktion ist, die leicht zu einer völlig neuen Konstruktion wird, sobald man sie nur in eine andere Atmosphäre überträgt. Dadurch verliert sie auch nicht ihren Wert als Erinnerung und nicht einmal ihre Wehmut.’
Das Aufspüren der eigenen Erinnerungen zur Verkörperung eines anderen Charakters sollte später eine maßgebliche Technik des sogenannten ‚Method Acting’ werden, dem auch De Niro anhängt. Tatsächlich war Zeno für Svevo etwas Ähnliches wie La Motta für De Niro: nicht ein Subjekt, mit dem man sich identifizieren konnte, sondern eine Haltung, die es zu lernen und zu durchleben galt. Bald bekamen Svevos Schriftstellerkollegen diese Haltung zu spüren: Svevo wurde berüchtigt für jene Neigung zu schonungslosen ironischen Kommentaren, die man auch von seinem Romanhelden kennt. Er war ein guter Freund von James Joyce und eines der angeblichen Vorbilder für dessen fiktionalen ‚Ulysses’ mit dem Namen Leopold Bloom. Als Svevo sich daran machte, den Roman „Ulysses“ zu lesen, suchte er sich die Zeit aus, in der noch heute viele der Bewunderer von Joyce den ‚Bloomsday’ feiern, und holte dazu, wie er Joyce sofort mitteilte (Brief vom 10. Juni 1924), dessen Bruder Stanislaus zu sich. In seiner Gegenwart las er den Text ‚Kapitel für Kapitel in dem Versuch, ihn zu durchleben.’
Nicht nur im Schreiben, sondern auch beim Lesen vermied Svevo den Kurzschluss zwischen Imagination und Papier. Stattdessen schloss er stets die leibliche Haltung und ihr Umfeld mit ein. Das mag überraschen, weil der Roman von Joyce auf den Geist Blooms, auf sein Bewusstsein angelegt ist – und das war Svevo auch durchaus klar (die bessere Übersetzung seines eigenen Roman-Titels ist ‚Zenos Bewusstsein’). Außerdem scheint der ‚Ulysses’ ein Werk zu sein, das auf endlose Dechiffrierung hin angelegt ist — was von der Literaturwissenschaft mit mehreren Bibliotheken an Sekundärliteratur belohnt wurde. Dass es in der Lektüre stattdessen auf ein ‚Durchleben’ oder auch ein ‚Ausleben’ ankommen soll, scheint eine relativ exzentrische Haltung zu sein.
Dass ein solcher Vorgang durch reine Entzifferungsarbeit keinesfalls geleistet werden kann, ist offensichtlich. Ich selbst muss zum Beispiel gestehen, dass mir Robert Musils ‚Mann ohne Eigenschaften’ lange Zeit sehr überschätzt vorkam. Ich fand diesen Roman zu lang, zu umständlich, teilweise albern und manchmal unerträglich besserwisserisch. Doch dann kam ich auf die Idee, mir Musils Text in österreichischem Tonfall vorzulesen. Seither kann mir dieser Roman gar nicht lang genug sein – mit seiner großartigen intellektuellen Eleganz und unübertroffenen Komik, in der sich die klügsten Betrachtungen immer wieder überraschend ablösen. Den Unterschied machte keine neue ‚Erkenntnis‘ im engeren Sinn des Wortes. Der Roman hatte nur eine andere Haltung gefunden, die sich in der Stimme und ihrer Stimmung niederschlug, in unterschwelligen Gesten und – insgesamt sozusagen – in einer durchgehaltenen Motorik.
Einen solchen Lese-Vorgang möchte ich ‚Seelenwanderung’ nennen. Das Wort ‚Seele‘ ist dabei körperlich zu verstehen. Es geht mir um den Vorgang, wie Bücher verkörpert werden. Die Frage, wie man diesen Vorgang insgesamt vollzieht, ist mir wichtig, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass ein im Text produzierter ‚Inhalt’ einfach als Haltung mit einem Mal in meinen Körper einfahren könnte. Körper müssen, glaube ich, erst einmal ausprobieren und lernen, scheitern und eine Richtung spüren und schließlich finden, bis sie es am Ende gelernt haben, sich an einen fremden Text anzuschmiegen (was natürlich nicht immer gelingt, weshalb jedem von uns viele große Texte ein Leben lang unzugänglich bleiben). Für diesen Vorgang scheint mir ‚Seele‘ das richtige Wort zu sein. Der Geist, wie wir in der Alltagssprache von ihm reden, denkt einmal dies und einmal jenes und kann sich reibungslos immer wieder neu erfinden. Einen Seelenwandel hingegen gibt es nicht von heute auf morgen. Er muss sich am Gelingen und Scheitern langsam abschleifen, bis er sicher und flüssig werden kann. Aber ist der Wandel einmal da, dann spürt man, dass der Geist sich nicht hätte vorstellen können, wie viel sich auf diese Weise ändert. Etwas Ähnliches gilt auch für den Moment der ‚literarischen Seelenwanderung’ im Unterschied zur Auslegung von Literatur. Sie vollzieht sich langsam und hat – in jedem einzelnen Fall – ganz im wörtlichen Sinn – ungeahnte Konsequenzen.
Will man die Macht der Seelenwanderung bewusst beim Lesen nutzen, so kommt man wohl nicht umhin, an den Autor zu denken. Das mittlerweile stramm auf die Sechzig zugehende literaturwissenschaftliche Motiv vom ‚Tod des Autors’ war der Seelenwanderung natürlich nicht förderlich. Dabei kam es von dem eigentlich sympathischen Anliegen, jene klebrige Weihe loszuwerden, welche etwa die deutsche Öffentlichkeit vor ein paar Wochen noch einmal beim Tod von Günter Grass überkam. Vergleichbares gibt es auch in der literaturwissenschaftlichen Welt, wo man ausgerechnet Michel Foucault und Roland Barthes – die maßgeblichen Ausrufer des Autorentods – zum Gegenstand jener Autorenverehrung gemacht hat, die sie bekämpft hatten. Kurz: die geistige Autorität des Autors hat sich vom eigenen Tod nicht sonderlich beeindrucken lassen. Einen intellektuellen Tod starb stattdessen der Körper des Autors. Seit vielen Jahrzehnten schon schreibt man überall dort, wo in ‚vorkritischer’ Zeit das Wort ‚Autor’ gestanden hatte, sehr differenziert und etwas beflissen von ‚Autorfunktionen,’ ,Textintentionen,’ ‚Textstrategien,’ oder ‚impliziten Autoren.’ Diese Begriffe sind komplex, präzis und vor allem konzeptuell sehr unterschiedlich. Was allein sie vereint, ist der Ausschluss der Autoren-Körpers.
Literarische Seelenwanderung aber braucht den Körper des Autors. Dabei geht es nicht um einen individuellen Körper. Der Tonfall, der mir den ‚Mann ohne Eigenschaften’ erschlossen hat, war nicht Musils eigener Tonfall, sondern derjenige eines Kollektivs. Autorenkörper sind relevant als Katalysatoren atmosphärischer und vielstimmiger Seelen. Die Seelenwanderung ruft kulturelles Gedächtnis wach. Nicht die Wissens-Seite dieses Gedächtnisses, für die der Begriff gemeinhin verwandt wird, sondern eine kollektive Variante dessen, was Psychologen das prozedurale Gedächtnis’ nennen, das Gedächtnis, welches Fertigkeiten, Gewohnheiten und Haltungen festhält. Erzählungen lassen verschiedene Seiten des kulturellen Gedächtnisses in den Vordergrund treten: das Wissen, die Fertigkeiten, die erinnerten Ereignisse und Personen, den besonderen Tonfall einer Kultur. Im Fall von ‚Raging Bull’ steht De Niros Haltung im Vordergrund, nicht die erzählte Handlung und ihre narrative Anordnung. Das scheint mir auch für die ‚Coscienza di Zeno’ zu gelten und, wer weiß, vielleicht sogar für den ‚Ulysses.’ Wer sich allein auf Textstrategien und Wissensanordnungen konzentriert, dem wird dies – und die Möglichkeit des Seelenwanderung — allerdings entgehen.“
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Dieser Prozess einer „Seelenwanderung“ zwischen Leser und Autor, über den Jan Soeffner schreibt, unterscheidet sich auch von dem Verhältnis der „Identifikation“ zwischen Lesern und Protagonisten, auf das sich die Literaturwissenschaft bisher konzentriert hat (was natürlich kein Fehler war). Wenn wir uns mit einer wirklichen oder fiktionalen Person identifizieren, so nehmen wir mittels unserer Imagination den besonderen Ort ein, den diese Person besetzt. Im besten Fall der fiktionalen Identifikation löst dann unsere Imagination im eigenen Körper Reaktionen aus, welche sich nicht von den Reaktionen auf eine (der fiktionalen entsprechenden) wirklichen Situation unterscheiden. Unabhängig davon, ob es Appetit, erotische Faszination oder politische Erregung ist, welche eine vorgestellte Situation im Körper des Lesers auslöst, der Körper, an dessen Stelle der Leser sich mit seiner Imagination stellt, ist immer der Körper des Protagonisten.
So gesehen unterscheidet sich des Verhältnisses zwischen Leser und Autor als Seelenwanderung deutlich von der Beziehung zwischen Leser und Protagonisten als Identifikation. Nicht die vorgestellte Umwelt oder Situation des Autors spielt bei der Seelenwanderung die primäre Rolle, sondern der Körper des Autors oder der Autorin selbst. Die literarische Seelenwanderung ist – sozusagen – gelungen, wenn ein Leser Robert Musils eine Passage aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ mit einem österreichischen (oder gar einem kärntnerischen) Akzent liest, das heißt, wenn der Leser – in einer physischen Dimension zumindest – zu Robert Musil wird. Oder auch: wer eine der in ihrer poetischen Form so komplexen und schönen Hymnen von Friedrich Hölderlin rezitiert, der ist – über gut zwei Jahrhunderte hinweg – mit Hölderlin in einer konkreten Weise verbunden, die dem physischen Verbundensein von zwei Tänzern ähnelt und die keinesfalls voraussetzt, dass derjenige, der rezitiert, irgendetwas von der historischen Situation weiß, in der Hölderlin lebte. Dies genau aber ist bei Identifikation – im Hinblick auf historische oder fiktionale Situationen – der Fall.
Die Entdeckung von Jan Soeffner konvergiert mit der Grund-Intuition der neuen permanenten Ausstellung im Marbacher Literatur-Museum, deren Katalog dem Wort „Seele“ eine besondere Sichtbarkeit gibt. Sie eröffnet eine Vielzahl von Fragen und Spekulatonen, die verschlossen blieben mussten, solange das persönliche und vor allem das körperliche Verhältnis der Leser zum Text allein über Identifikation und Protagonisten zu denken waren. Im Sinn der „literarischen Seelenwanderung“ kann man als Leser selbst einem Autor „nahe“ sein, dessen Weltanschauung man verabscheut. So genau sieht die Ambivalenz meiner Reaktion auf den französischen Romancier Louis-Ferdinand Céline aus, der mich mit dem Rhythmus seiner Prosa so sehr in Beschlag nimmt, wie mich seine exaltierte Sympathie aus den dreißiger und vierziger Jahren für den deutschen Nazismus abstößt. Was Balzac angeht, so bin ich mir nun endlich gewiss, dass meine Faszination für sein Werk mehr von der Präsenz seiner Person abhängt als von seinen Protagonisten. Vielleicht kann mir die Dimension der „Seelenwanderung“ am Ende sogar erklären, warum ich schon immer den Eindruck hatte, dass Dante – bei aller tatsächlich grenzenlosen Bewunderung – „nicht mein Typ von Autor“ ist, ohne dass ich mich dafür schuldig fühlen muss.
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