Als ich eingeschult wurde, waren die Erwachsenen der Bundesrepublik längst dabei, die kein Jahrzehnt alten Schrecken der Vergangenheit in einem Bierrausch aus Fleiß und wunderbar erfolgreichem Wirtschaftsstreben zu ertränken. Der Urknall des deutschen Fußballs hatte — wie die erste Stufe einer Rakete — am 4. Juli 1954 das junge alte Land in die Umlaufbahn seiner neuen Respektabilität getragen — während das Spielzeug, von dem wir träumten, ganz auf den Verkehr konzentriert war. Alle Jungen aus der Nachbarschaft eigentlich (selbst die von der “Wickenmeier Waisenanstalt,” wo meine Groß-Tante Kostka unter ihrem Nonnenschleier sorgte und arbeitete), alle Jungen hatten eine mehr oder weniger ausführliche Sammlung von Wiking-Autos, die man nebeneinander aufstellen, tauschen und ohne Aussicht auf Vollständigkeit eben sammeln konnte (bis heute tut es mir weh, dass ich einen blauen Wiking Krupp-Laster nie bekam, den mein sonst immer großzügiger Vater versprochen hatte). Zum Kinder-Fuhrpark gehörten oft auch zwei oder drei aufziehbare Schuco-Autos, manchmal sogar eine ferngelenkte Limousine, und zu Weihnachten setzte das milde Fieber der Modelleisenbahnen ein, mit zwei Lokomotiven, mehreren Güterwagen und einem kleinen Schienen-Rund — was die beliebten Marken “Märklin,” “Trix” und “Fleischmann” für uns schnell zu einem Äquivalent der damals noch hochgehaltenen konfessionellen Unterschiede machte.
Dinosaurier aus Bakalit oder weicheren Versionen von Plastik gab es damals noch nicht in der Spielzeugläden und auch keine Dinosaurier-Kinderbücher, sonst könnte ich mich daran ganz sicher erinnern. Ich hätte sie mir sofort zum Geburtstag und auch zu Weihnachten gewünscht — weil Saurier schon sehr lebhaft durch meine Vorstellung trabten oder sprangen, seit die Eltern zum ersten Mal von ihnen erzählt hatten. Genauer gesagt, denn so hatte ich mir das ganz unverständliche Detail von den “Kaltblütern” zurechtgelegt: die Dinosaurier meiner Phantasie bewegten sich wie riesige Eidechsen, schnell und abgehackt, zwischen langen Momenten des Stillhaltens und unter einer immer archaisch glühenden Sonne. Die Kaltblüter-Prämisse, welche mehr als hundert Jahre ohne Frage gegolten hatte, begann damals gerade revidiert zu werden, was offenbar eine neue, intensive Phase biochemischer und genetischer Forschung auf den Weg brachte, im Vergleich zu der die klassischen zoologischen Beschreibungen bald etwas mythologisch wirkten. Vielleicht war es jener Schub erneuerten Forschungs-Interesses und erneuerter Populär-Faszination, der die Dinosaurier dann endlich in die Spielzeugläden brachte. Ich habe jedenfalls sehr früh geglaubt, ohne jenes Wort noch zu kennen, dass meine sechs- oder siebenjährige Saurier-Begeisterung “avantgardistisch” war.
Drei verschiedene kulturelle Dimensionen flossen schon immer in den Dinosaurier-Bildern zusammen — und deshalb beinahe unbemerkt auch durch meine Phantasie. Die neuesten naturwissenschaftlichen Entdeckungen in ihrer unvermeidlich spekulativen Anwendung auf (nur selten vollständige) archäologische Funde oder Rekonstruktionen; weniger sichtbar, aber vielleicht entscheidend: die sich historisch wandelnden Modalitäten von Zeitlichkeit, das heißt: die verschiedenen Formen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinander zu beziehen; und vor allem eine unwiderstehliche Sehnsucht, immer mehr und immer anderes über sehr ferne Vergangenheiten zu erfahren, obwohl wir ahnten, dass so ein Wissen keine Bedeutung für unsere eigene Welt hatte.
Schon immer und überall auf der Erde waren Knochen gefunden worden, die man heute selbstverständlich als Saurier-Fossilien identifizierte — doch vor dem frühen neunzehnten Jahrhundert wurden sie stets in mythologische Bezugsrahmen eingeordnet. Als Überreste von feuerspeienden Drachen etwa oder als Knochen von Riesen aus ferner Urzeit. Erst seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert, seit der Emergenz jener Zeit-Modalität, die wir seither das “historische Weltbild” nennen und aus der das evolutionäre Denken hervorging, gewannen solche Knochen ihren Status als Spuren innerhalb eines zu “Geschichte” gewordenen Bilds von der Natur. Schon bald provozierten kühne Spekulationen — vor allen in Paris und London — ernsthafte wissenschaftliche Debatten, die zum Beispiel Goethe während seiner letzten Lebensjahre mit leidenschaftlichem Interesse verfolgte. Doch erst 1842 erfand der englische Paläntologe Richard Owen den Namen “Dinosaurier” als ein Kompositum aus den griechischen Wörtern für “Schrecken” und “Eidechse” – ein Wort, das sich vielleicht auch deshalb durchgesetzt hat, weil seine beiden Teile offenbar permanente Reaktionen der menschlichen Psyche eher als genaue vergleichende Beobachtungen widergeben: ein Gefühl des Überwältigt-Seins und eine die überwältigende Größe der Dinosaurier gerade ausblendende Assoziation mit den damals noch jedermann vertrauten Eidechsen. 1858 ermöglichte dann ein fast vollständiger Skelett-Fund in New Jersey die früheste bis heute als angemessen geltende Rekonstruktion des zweibeinigen Tyranno-Sauriers – und löste eine weltweite “Dino-Manie” aus, jene starke populärkulturelle Reaktion auf paläontologisch-wissenschaftliche Bilder von Dinosauriern, die seither nur stärker geworden ist.
Zwar haben sich die durch Dinosaurier-Bilder ausgelösten Phantasien nie ganz von der Forschung getrennt, doch auf der anderen Seite gehorcht ihre Dynamik sicher nicht einer ausschließlich wissenschaftlichen Logik. Die Singularität der Dinosaurier-Faszination könnte etwa damit zu tun haben, dass wir sie – vorbewusst oder halbbewusst – als Embleme einer “absoluten Vergangenheit” auffassen. Dinosaurier dominierten — in einer ungeheuren Differenzierung von Gattungen — das Tier-Leben auf der Erde zwischen zweihundertfünfunddreißig und fünfundsechzig Millionen Jahren vor der Zeitrechnung, ohne dass eine evolutionäre Entwicklungslinie hin zu den heute im Vordergrund stehenden Gattungen, zumal zu den Säugetieren führte — wahrscheinlich mit Ausnahme der Vögel, die als Nachfahren der Dinosaurier gelten. In unserer nicht-wissenschaftlichen Vorstellung aber scheint selbst die evolutionäre Kontinuität zwischen Dinosauriern und Vögeln durch ihren kategorialen Größenunterschied aufgehoben zu sein. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang das “Verschwinden” der Dinosaurier in einer evolutionspragmatisch gesehen erstaunlich kurzen Zeitspanne, für die es noch nie eine konsensfähige Erklärung gegeben hat. Die am häufigsten genannten möglichen Gründe für das “Sterben” der Dinosaurier – wie das Ereignis eines Meteoriten-Einschlags oder ein “abrupter” Klimawandel – haben durchaus mythenfähiges Potential. All diese Voraussetzungen zusammen geben uns den Eindruck, dass Dinosaurier einerseits zur wissenschaftlich gesicherten Vorgeschichte des heutigen Lebens auf der Erde gehören, ohne andererseits in irgendeiner Beziehung evolutionärer Kontinuität mit dem menschlichen Leben zu stehen. Anders gesagt: Dinosaurier sind — aus planetarer Sicht — Teil einer archäologische Vorgeschichte und haben doch – menschheitsgeschichtlich — den abgerückten Status von Versatzstücken aus einer Mythologie. Darauf genau soll sich der Begriff von der “absoluten Vergangenheit” beziehen.
Schon in der Zeit meiner “avantgardistisch”-kindlichen Dinosaurier-Begeisterung hat mich zweitens eine “erlebte Disproportion” zwischen ihrer Körpergröße (vor allem bei den vierbeinig pflanzenfressenden Sauropomorphen) und der vermutet geringen Substanz ihres Gehirns beeindruckt — von der ich natürlich auf minimale Intelligenz schloss. Auch dieser Eindruck ist – leider, bin ich versucht zu sagen – längst revidiert oder zumindest relativiert worden, ohne dass sich damit die Intensität meiner Projektion verändert hätte, und die spezifische Projektion ist nicht, wenigstens in meiner eigenen Vorstellung nicht, als ein Akt der Herablassung gegenüber anderen Gattungen aufzufassen. Eher, so habe ich mir immer wieder neidisch und noch ohne die entsprechenden philosophischen Begriffe vorgestellt, waren Dinosaurier nie mit Problemen “rationaler Entscheidungsfindung” konfrontiert; jede ihrer Bewegungen konnte nur das sein, was sie war, nämlich ein Akt ohne Reflexivität, ohne Bewusstheit von einem Selbst oder gar einer Melancholie.
Natürlich trifft dies in aller Wahrscheinlichkeit für die meisten Tiere zu, doch für meine erste Ahnung von einem Leben ohne Selbstbeoachtung waren Dinosaurier die einzigen Embleme. Hinter solch projizierten Gefühlen, Gedanken und Bildern muss anscheinend immer die menschliche Sehnsucht liegen, in den Bewegungen des eigenen Körpers ganz aufgehen zu können – vielleicht nach der Art jener kurzen und wohligen Momente, während derer man sich beim Strecken der Beine und Arme (oder auch beim Gähnen) in seinem Körper “zuhause” fühlt. Sicher, mein Wissen, dass sich gerade Dinosaurier-Gehirne jene Ebene der Selbstbeobachtung gar nicht leisten konnten, die Voraussetzung für ein Genießen des Zuhause-Seins im eigenen Körper gewesen wäre, dieses Wissen hat später unzählige Male die erfüllte Sehnsucht meiner Projektion durchgestrichen, “eins mit dem eigenen Körper” zu sein. Und doch fährt mir dieses zweite Saurier-Gefühl noch im Alter oft durch Mark, Bein — und Bewusstsein.
“Anthropozän” schließlich ist der noch junge, ökologisch inspirierte Name für unsere Gegenwart als ein Erdzeitalter, das mit den ersten zerstörenden Auswirkungen menschlicher Kultur auf unsere eigene Biosphäre begonnen haben soll — und diese Perspektive hat die Tradition der “Dino-Manie” wohl noch einmal in ihrer Intensität variiert und gesteigert. Zunächst illustrieren die traditionell von Dinosauriern bevölkerten Bilder heißer Tage und feucht-schwüler Nächte auf der Erdoberfläche mittlerweile einen in der Geschichte der menschlichen Imagination noch neuen und zunächst sehr abstrakten Gedanken: es ist der Gedanke an einen Planeten, dessen Bestimmung gerade nicht in der Realität menschlichen Lebens aufgeht. Zugleich ändert sich mit diesem Blick auch der Stellenwert des Wissens vom Verschwinden der Dinosaurier. Dieses Wissen durchschneidet nun nicht mehr allein eine potentielle evolutionäre Kontinuität aus der fernsten Vergangenheit hin zum menschlichen Leben, sondern wird zur warnenden – oder drohenden – Vorwegnahme eines Verschwindens der (eigenen) Menschen-Gattung. Und wenn sich seit Heideggers “Sein und Zeit” in der Philosophie die Intuition und die Obsession einer Angst festgesetzt hat, welche ausgelöst wird durch die unerträgliche Vorstellung von der “Jemeinigkeit” des individuellen – eigenen – Todes, dann löst jetzt mit einem Mal der Gedanke an das (“selbstverschuldete”) Ende der Menschheit als Gattung, wie es das Ende der Dinosaurier geradezu allegorisch vorweggenommen hatte, eine Ambivalenz der Gefühle aus: sie bewegt sich zwischen kollektiver Angst (in Analogie zur Angst vor dem eigenen Tod) und dem — selbst-bestrafenden, aber doch zugleich erleichternden – Gedanken an die Erlösung “unseres” Planeten und “unseres” Universums von der Menschheit als Gattung.
Auch diese Zukunft ohne Menschheit ist als Zeit-Dimension absolut (so wie die Vorstellung von der vergangenen Gegenwart der Dinosaurier tendenziell absolut ist). Denn sie erscheint ja als eine von “uns” abgetrennte Zukunft, als eine Zukunft ohne die zukünftige Resonanz-Gegenwart einer Dimension der Selbstbeobachtung (im Sinn der menschlichen Erfahrung). Sie ist eine Zukunft, welche die Bilder unserer Vorstellung vom Leben der Dinosaurier nicht mehr repräsentieren, illustrieren oder verkörpern können – obwohl diese Bilder uns genau an sie erinnern. Die – absolute — Zukunft von 2015 aber hatte 1954 noch niemand im Sinn.
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