“The Book of Mormon” heißt das erfolgreichste amerikanische Musical dieses nicht mehr ganz neuen Jahrhunderts, und die mit der aggressiv-ironischen Cartoon-Serie “South Park” berühmt gewordenen Libretto-Autoren Trey Parker und Matt Stone nehmen diesmal treffsicher die Heiligtümer amerikanischer Religiosität ins Visier.
Ihre Protagonisten sind zwei junge “Elders” aus der “Kirche von den Heiligen der letzten Tage,” die nach einer raschen Standard-Ausbildung in Utah auf Mission geschickt werden, nicht, wie sie hoffen, nach Florida, sondern nach Uganda. Das “Uganda” des Musicals ist ein von Aids verseuchter und einem verrückten Tyrannen zugrunde gerichteter Alptraum, dessen Bewohner – verständlicherweise — für Religion so wenig Interesse und Geduld haben, dass die Missionare auf verlorenem Posten stehen. Noch nie hat ein “Ugander” den Mormonen-Glauben angenommen. Zu allem Überfluss wirkt einer der beiden “Elders” denkbar verhaltensgestört. Das “Buch Mormon” hat dieser Missionar, wie schnell deutlich wird, noch nie gelesen, weshalb er, von einer explosiven Mischung aus Furcht, Narzissmus und sexuellen Phantasien getrieben, bei seinen Predigten alle möglichen Moralverschreibungen und Zukunftsvisionen erfindet (zum Beispiel ein ausschweifendes Schlaraffen-Leben in Salt Lake City), die seinen Hörern gefallen könnten. Und der Erfolg gibt ihm recht: bald schon konvertieren die ersten “Ugander” zu seiner Kirche, was die Mormonen-Autoritäten auf den Plan ruft, well sie die Methoden des neuen Missionars studieren und ihn feiern wollen.
Wie so eine Geschichte — wenigstens in der Tonlage des Musicals — enden muss, lässt sich dann leicht voraussehen. Die Vorgesetzten entdecken schnell, wie wenig der Glaube der eben getauften Mormonen mit der Orthodoxie ihrer Kirche zu tun hat. Ganz überraschend jedoch gestehen die konvertierten “Ugander,” dass sie die Inhalte des vermeintlichen Irrglaubens ohnehin immer schon auf ihre eigene Weise “als Metaphern” verstanden haben. So feiern die abschließenden Songs und Chöre die eine große Einsicht: gut kann nur eine Religion sein, die ihren Gläubigen Freude bereitet (oder, proto-soziologisch formuliert, “die den Bedürfnissen ihrer Kunden entspricht”).
Viel erstaunlicher freilich als die Handlung des Musicals fiel die offizielle Reaktion der “Church of the Latter Day Saints” aus. Sie hat dem Stück, anfangs noch etwas verhalten, mittlerweile aber geradezu enthusiastisch, ihren mormonischen Segen geschenkt. Im Programmheft findet man mehrere ganzseitige Anzeigen, auf denen gutaussehende junge Frauen und Männer mit verschiedenen Hautfarben den Zuschauern empfehlen, nach der Freude am Musical nun das Buch ihrer Religion mit ernsterer Freude zu lesen. Ein Bild inszeniert diese Botschaft sogar mit einem sympathischen Schuss von gekonnter Selbst-Ironie: “The Book is Always Better.” Aus mehreren Gründen kommt dieser Werbung ein bemerkenswerter Symptomwert zu. Die Mormonen sind eine der größten, wirtschaftlich einflussreichsten und am schnellsten wachsenden religiösen Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten. Daneben haben kompetente Religionswissenschaftler sie immer wieder als besonders typisch für einen übergreifenden kulturellen Stil der amerikanischen Religiosität identifiziert.
Ebenso signifikant, aber weniger Mormonen-spezifisch ist die statistisch belegbare Tatsache, dass sich jene freundlichen Anzeigen an ein – im internationalen Vergleich – außergewöhnlich geneigtes Publikum wenden. Zwar ist der Glaube an Gott sogar in den Vereinigten Staaten während der vergangenen Jahrzehnte zurückgegangen, doch immerhin steht für immer noch über achtzig Prozent der Amerikaner die Existenz Gottes ganz außer Frage — im Vergleich zu knapp vierzig Prozent der Deutschen (vierundfünfzig Prozent im früheren Westdeutschland und nur dreizehn Prozent im ehemaligen Ostdeutschland). Eine Besonderheit dieses weiter zur dominanten sozialen Wirklichkeit gehörenden amerikanischen Gottes, liegt nun darin, dass fast all seine Gläubigen (achtundsechzig Prozent gegenüber etwas über zwanzig Prozent in Deutschland) ihn aus persönlichen Begegnungen zu kennen glauben. Was hat es dann zu bedeuten, wenn eine so emblematische Gruppe wie die Mormonen innerhalb dieser massivsten religiösen Gesellschaft der Welt entschlossen positiv und voll freundlicher Toleranz auf die Parodie und Ironie eines Musicals reagiert? Wohl kaum, dass die Mormonen sich und ihre Religion nicht mehr ernst nehmen. Ebenso wenig, dass es sich um ein Zugeständnis aus beginnender Schwäche handelt.
Die im Alltag nicht zu übersehende, verlässlich dokumentierte und mittlerweile wohl tatsächlich einzigartige gesellschaftliche Zentralstellung der Religion in Amerika ist, allein darin stimmen die Fachleute überein, ein Phänomen voller Rätsel. Man kann sie historisch (in ihrer Entstehung) und soziologisch (in ihrer Struktur) beschreiben, ohne dass solche Beschreibungen zu einer Erklärung ihrer Besonderheit führten. Sicher, die britischen Kolonien in Nordamerika hatten sich schon sehr früh zu einer Zuflucht für religiöse Extremisten entwickelt, die dort “eine scheinende Stadt auf dem Berg” errichten wollten — und tief bis ins zwanzigste Jahrhundert blieb Verfolgung aus religiösen Gründen eine Haupt-Motivation für die Auswanderung nach Amerika. In Reaktion auf die Vielfalt von radikalen Gemeinden im Land verbot seit dem späten achtzehnten Jahrhundert der erste Zusatz (“Amendment”) zur amerikanischen Verfassung dem Staat jede Einrichtung von religiösen Institutionen (“Establishment Clause”) — zugleich aber auch ihre Unterbindung (“Free Exercise Clause”). Die “Free Exercise Clause,” meinen prominente Rechts- und Politikhistoriker heute, sei immer wieder – jedoch nicht in historischer Kontinuität – vom Staat genutzt worden, um bestehende religiöse Gemeinschaften als Grund-Gewebe staatsbürgerlicher Gesinnung zu fördern und zu schützen.
Insgesamt jedoch fällt vor allem – ganz anders als im Leben der amerikanischen Politiker – eine ostentative Distanz der staatlichen Organe zur religiösen Praxis auf. In seinen von einer Reise im Jahr 1904 angeregten Aufsätzen zum Sonderstatus der amerikanischen Religion geht Max Weber von der komplementären Beobachtung aus, dass dort Gemeinden (er nennt sie meist “Sekten”) – und nicht etwa die viel komplexeren “Kirchen” im Sinne von “Konfessionen” – die Grund-Ebene religiöser Praxis bilden. Zweitens werde die jeweilige Gemeinde, wo man “innerweltliche Askese” lerne, das heißt eine besondere “Elastizität” bei der Selbst-Einordnung in soziale Gruppen, zu einem zentralen Element individueller Identität. Aufgrund dieser grundlegenden Funktion, stellt Weber drittens fest, erscheinen theologisch-inhaltliche Unterschiede (etwa zwischen Methodisten, Anglikanern, Katholiken, Lutheranern, Mormonen und sogar amerikanischen Juden) weitgehend neutralisiert.
So treten dann viertens mythologische oder gar sakramentale Strukturen zurück gegenüber der Betonung einer je individuellen Lektüre “Heiliger Schriften” – unter der einen Bedingung, dass solche individuellen Auslegungen im Kontext der Gemeinde nicht exzentrisch erscheinen dürfen (gerade so wird “Elastizität” eingeübt). Vor dem Hintergrund dieser Beschreibung, wird verständlich, was etwa der ehemalige Präsident George W. Bush im Sinn haben muss, wenn er Jesus immer wieder “my favorite philosopher” nennt: Religion existiert in individuell geprägten Sammlungen von autoritären Zitaten (aus den Heiligen Schriften und aus dem Mund Gottes), an denen man sein Leben ausrichtet. Ob ein Gläubiger wie Bush aber den übergreifenden Stellenwert des Kreuzesopfers in der christlichen Mythologie versteht oder Sakramente in ihrem gemeinschaftsbildenden Status, bleibt dahingestellt.
Als der eminente Literaturwissenschaftler Harold Bloom vor gut zwei Jahrzehnten in einem Buch die “American Religion” seiner Gegenwart analysierte, kam er (wahrscheinlich in Unkenntnis von Webers Aufsätzen) zu durchaus ähnlichen Ergebnissen — und zu einer Bewertung, die im scharfen Gegensatz zu Webers insgesamt positivem Eindruck steht. Wie schon Weber betont auch Bloom die Verwischung theologisch-inhaltlicher Unterschiede zwischen den verschiedenen Gemeinschaften der amerikanischen Religion und (unter dem Leitbegriff der “Gnosis”) ihre Tendenz zu höchst individuellen Interpretationen, die oft im Eindruck und der Gewissheit persönlicher Begegnungen mit Gott fundiert seien. Diese Beobachtung nun entspricht genau der Religion der Mormonen – und dem Libretto des Musicals “The Book of Mormon.” Joseph Smith wurde zur Gründerfigur seiner Kirche ja aufgrund des – gnostischen – Anspruchs, von Gott zum Propheten einer bis dato unbekannten Erscheinung und Gegenwart von Jesus Christus in Nordamerika erwählt zu sein. Die Freiheit des Fabulierens, welche sich der Mormonen-Missionar im Musical herausnimmt, treibt die gnostische Tendenz dann auf die Spitze — und bringt sie zu ihrer logischen Erfüllung.
Blooms bittere Kritik an der amerikanischen Religion ergibt sich aus einer einzigen, aber entscheidenden Abweichung von Webers Beschreibung, welche möglicherweise eine historische Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts widerspiegelt. In seiner Sicht findet die nationale Tendenz zur individuellen Auslegung Heiliger Schriften heute in der Gemeinschaft (und in der Gemeinde) keine Grenze und Bewährung mehr. Vielmehr soll sich aus der Überzeugung, in persönlicher Beziehung mit Gott zu stehen, eine grenzenlose Legitimation für millionenfach grenzenlose Egozentrik ergeben. Ihre Theologie und missionarische Praxis mit solchen Begriffen zu beschreiben, das würde sich die “Kirche von den Heiligen der letzten Tage” wohl verbitten. Doch dass sich diese Kirche so eng an ein erfolgreiches Musical angeschmiegt hat, dessen Pointe genau in einer radikalen (bis grotesken) Entgrenzung subjektiver Exegese liegt (“solange sie den zu konvertierenden Kunde Freude bereitet”), lässt sich nicht übersehen – und gibt implizit Blooms Beschreibung der “American Religion” recht.
Die – bisher aufgeschobene – Frage nach der besonderen Rolle des Staats in der amerikanischen Gesellschaft kann dann allerdings zu dem Schluss führen, dass man dem Pessimismus von Blooms Buch wie er sich aus dem Befund eines Schwunds sozialer Bezugshorizonte in der amerikanischen Religion ergibt, nicht unbedingt und vorbehaltlos zustimmen muss. Verglichen mit den europäischen Nationen verhält sich der amerikanische Staat bis heute zurückhaltend, was Interventionen in die Privatsphäre der Bürger angeht (so erklären sich etwa die Schwierigkeiten bei der Einführung einer flächendeckenden staatlichen Krankenversicherung).
Keinesfalls zurückhaltend hingegen erscheint derselbe Staat einerseits in seiner Außen- und Militärpolitik (die internationalen Klagen darüber sind seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts nie verstummt) und – für die Gesellschaft, deren Exekutivorgan er ist — in der Öffentlichkeit. Belege dafür sind die Allgegenwart der Nationalflagge auf dem amerikanischen Territorium ebenso wie die für viele Europäer absurd wirkende Häufigkeit der Anlässe, zu denen die Nationalhymne gespielt wird. Undenkbar, dass ein Spiel im American Football — selbst auf der College- oder der High School-Ebene — ohne Nationalhymne beginnt. Nach dem Abpfiff versammeln sich dann Mitglieder beider Mannschaften – allerdings nie alle von ihnen — auf der Mitte des Spielfelds, um Gott zu danken: für den Sieg, für die Freundschaft, für die Cheerleaders, oder auch weil sie von Verletzungen verschont geblieben sind. Im Gegensatz zum Einleitungs-Moment der Nationalhymne jedoch ist das Gebet ein Moment der persönlichen Begegnung mit Gott, den die (meist staatlichen) Institutionen ermöglichen, ohne ihn verpflichtend zu machen.
In Europa ist seit einigen Jahren zunehmend von einer “Ent-Säkularisierung der Gesellschaft” die Rede und von einer anscheinend komplementären “Re-Politisierung der Religion.” Eher hinter vorgehaltener Hand kommt deshalb auch die Frage auf, ob diese Tendenzen etwas von der “amerikanischen Religion” lernen können. Wer sie im Sinn von Weber und Bloom versteht, was natürlich keinesfalls mit einer Teilnahme an ihren Lebensformen gleichzusetzen ist, wird wohl eher zu einer negative Antwort tendieren. Denn wie zum Beispiel die eingangs zitierten Statistiken zeigen, ist das Interesse von Europäern an jener persönlichen Begegnung mit Gott, die den Amerikanern so wichtig ist (und an den daraus erwachsenden Verpflichtungen für ihr Privatleben), erstaunlich gering – und anscheinend weiter im Schwinden begriffen. Was die “sozial” genannte private Sicherheit angeht, vertraut man eher dem Staat, während “Werte” oder “Lebensstile” als Horizonte individuell-säkulärer Selbstbedienung fungieren.
Wonach sich aber zahlreiche, vielleicht nicht alle europäischen Nationen – mit zwei Weltkriegen und einer Kaskade von Säkularisierungsschüben in ihrer Vergangenheit – sehnen, sind öffentliche Rituale der Gemeinschaft. Die vom Design her ja durchaus elegante, allenthalben sichtbare, doch in ihrer kollektiven Wirkung eigentlich inexistente Europa-Flagge ist ein Symptom für diese Situation. Im Trend liegen dagegen – trotz aller auf faschistische Traditionen verweisenden Mahnungen der Intellektuellen – Ereignisse, welche, ohne “staatlich” auszusehen, Tausende von Menschen in der Konzentration auf einen zentralen Gegenstand des Erlebens zu Gemeinschaften machen: Konzerte, Sportveranstaltungen, Public Viewing, Kirchentage, Papstmessen. Nichts könnte der “American Religion” fremder sein als solche Rituale. Europa hat also wirklich keine Verwendung für den amerikanischen Gott – vielleicht muss es bloß seinen eigenen Gott wieder(er)finden.
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