Digital/Pausen

Besatzungskinder, Sudetendeutsche, Gastarbeiter — Szenen nationaler Migrations-Geschichte

Dass die allzu unmittelbare Umsetzung ethischer Impulse in politische Entscheidungen angesichts der gegenwärtigen Migrationswelle eine Situation heraufbeschworen hat, deren Komplexität die zuständigen Institutionen und einen Teil der Bevölkerung in Deutschland überfordert, ist eine Sicht, die während der vergangenen Wochen an Plausibilität gewonnen hat. Doch sie beeinträchtigt in keiner Weise die Schönheit, fast möchte man mit einem Hauch von Paradoxie sagen: die überwältigende Schönheit, millionenfacher individueller Reaktionen des Mitleids und der Großzügigkeit, in denen ein wunschhaftes Selbstbild vieler Deutscher Wirklichkeit geworden ist — und langfristig gewiss auch ihre Wahrnehmung im Ausland verändern wird. Ausgerechnet jene Nation (wenn man von “Nationen” als einer Dimension historischer Kontinuität überhaupt noch reden kann), die während einer gespenstischen Episode von zwölf Jahren die Abscheu vor jedem Anders-Sein zur Industrialisierung des Tötens verdichtet und gesteigert hatte, macht heute durch eine erstaunliche Zahl von Bürgern auf sich aufmerksam, die der Hinwendung zu fremdem Leid und dem Engagement für seine Heilung eine Priorität vor den eigenen Interessen geben.

Darin liegt nicht unbedingt ein Widerspruch zu jener manchmal harsch wirkenden Unnachgiebigkeit, mit der eine – vielleicht andere — Mehrheit von Deutschen auf die Einhaltung von Finanzvereinbarungen unter den europäischen Gesellschaften bestehen wollte. Sie sahen wohl keinen Zusammenhang zwischen den griechischen Staatsschulden und einer Möglichkeit, kollektives und individuelles Leid in diesem Land zu mildern — und mithin auch keinen Anlass zu Reaktionen des Mitleids. Mit manchmal etwas banaler und fast immer auffällig forcierter Selbstwahrnehmung andererseits feiern sich die Deutschen gern als “Spendenweltmeister” oder (vor einigen Jahren) als die Gastgeber eines “Sommermärchens” – weil sie in singulärer Leidenschaft an der Verbesserung ihres Selbst- und Fremdbildes hängen. Dieser Ehrgeiz — und deshalb auch die Schönheit der wenigstens zum Teil von ihm motivierten individuellen Reaktionen — könnte, meine ich, die langfristige, über mehrere Generationen weitergegebene und deshalb heute oft gar nicht mehr bewusste Auswirkung eines Traumas sein, das sich die Deutschen im sogenannten “Dritten Reich” selbst zugefügt hatten, ohne damals natürlich an die Konsequenzen ihres Verhaltens zu denken. Diese Tradition wirkt nicht allein in den Impulsen der Zuwendung und der Großzügigkeit nach, sondern auch in der starken, eben ehrgeizigen Tendenz vieler Deutscher, ihren Staat auf die Übernahme und Verkörperung “ethischer” Einstellungen zu verpflichten.

Weil sie so beide Seiten der spezifisch deutschen Reaktion auf die Migrationsbewegung in ein neues Licht rückt, die besondere Breite ethisch motivierter Reaktionen ebenso wie die Neigung der Politik, sich allzu eng an sie anzulehnen, könnte es lohnend sein, die Geschichte der Weitergabe und der Umformungen jenes Traumas über verschiedene Generationen zu verfolgen und zu erzählen. Ich möchte mit drei Erinnerungsbildern aus der Kindheit einen persönlichen Anfang machen, mit Bildern aus der frühen “alten Bundesrepublik,” die ich – soweit als möglich und ganz bewusst — in der Perspektive meiner eigenen Naivität aus jenen Jahren und auf Distanz von verallgemeinernden Schlüssen halten werde. Um “Besatzungskinder, ”Sudetendeutsche” und “Gastarbeiter” soll es gehen und damit drei Mal um Reaktionen auf die Verarbeitung je spezifischer Modalitäten in der Erfahrung von Anderssein. Denn es ist denkbar, dass aus der Akkumulation des Bestrebens, solchen Herausforderungen — in vorbewusst national-spezifischer Weise – gerecht zu werden, die besondere Einstellung so vieler Deutscher zu Problemen wie der gegenwärtigen Migration entstanden ist.

Als ich am 1. September 1954 in der “amerikanisch besetzten Zone Deutschlands” eingeschult wurde, trennte die bayerische Kultusverwaltung Kinder nach ihrem religiösen “Bekenntnis” in katholische und evangelische Klassen, was selbst im konservativen Würzburg schon damals keiner Alltagswirklichkeit mehr entsprach. Schockierend oder auch faszinierend war aber für die meisten von uns die Erfahrung, dass einige “Klassenkameraden” (wir gebrauchten sehr stolz dieses etwas holprig altmodische Wort) Gesichter mit anderer Farbe und meist auch anderen Zügen hatten. Als ich beim Mittagessen fragte, warum denn mein Kamerad Hansi Grimm so anders aussah, erklärten mir die Eltern (beide waren Ärzte an der Universitätsklinik), dass er ein “Besatzungskind” sei (was mir kaum weiter half) und dass die Väter von Besatzungskindern nicht zuhause wohnten, was mich nur noch mehr verwirrte. Bald lernte ich aber diese Väter kennen. Sie kamen auf Jeeps in Tarnfarbe und mit je einem weißen Stern auf den Türen zu unserem Pausenhof, brachten für alle Kinder Kaugummi (das wir nicht kannten), sehr süßes Milchpulver und Coca Cola mit, das viel besser schmeckte als unsere dünne “Schulspeisungs”-Milch; sie trugen Uniformen und hatten meistens schwarze Haut, konnten kein Deutsch – und lachten gerne und laut. Schon bald waren wir enttäuscht, wenn sie über ein paar Tage nicht zur Pause kamen, und einmal sagte Hansi Grimm, dass ich Grüß-Gott zu seinem Papa sagen sollte – der mich gleich nach dem freundlichen Händeschütteln in die Luft warf und gekonnt wieder auffing.

Bald fand ich auch heraus, wo Hansi Grimm wohnte. Er lud mich nämlich zum Baden ein ins Plantschbecken der “Wickenmeier Kinderbewahrungsanstalt,” einem altertümlichen Gebäude in der Nähe des Schulhauses, wo Nonnen mit strenger Tracht und freundlichen Gesichtern “Kinder ohne Eltern” versorgten. Zwei Jahre lang, bis wir in ein “besseres” Viertel umzogen, bin ich fast jeden Tag in “die Wickenmeier” gegangen und wünschte mir manchmal, wie Hansi dort wohnen zu dürfen. Eines Tages erzählte mir eine alte Nonne mit vielen Fältchen um den Mund (die anderen Nonnen nannten sie “Schwester Oberin” oder “Mutter Kostka”), dass sie die Tante meines Vaters war. Als ich schon in die Abiturklasse ging und in einem noch besseren Viertel wohnte, berichtete die Lokalzeitung, dass Schwester Kostka Schraut in Bonn das Bundesverdienstkreuz verliehen worden war, weil sie, ich zitiere, “in den Kriegsjahren als Oberin eines Heims für mongoloide Kinder ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um das Leben dieser Kinder gegen die Drohung des Euthanasie-Programms zu schützen.”

Im ersten Jahr Gymnasium kamen einige Klassenkameraden, die auch anders waren, ganz ohne die Fürsorge von religiösen Institutionen und ihren Helden aus. Denn die Eltern und sogar die Großaltern dieser Jungen waren immer präsent: beim Abholen nach dem Unterricht, in den Lehrer-Sprechstunden, im Elternbeirat und sogar bei Klassenfahrten im Autobus. Mein neuer Sextaner-Freund Gernot Hettler zum Beispiel sprach anders als wir Unterfranken (“Underfrangen”), in einer weicheren Melodie seiner Sätze und mit rollenden R-Lauten. Schwer erträglich war für unsere täglichen Auto-Gespräche, die sich um die neuesten Modelle von Borgward und Ford, vor allem aber von Opel und Mercedes drehten, dass Gernot von einer Marke schwärmte, deren Namen wir noch nie gehört hatten: “Skoda Oktavia hat zwei Motoren,” sagte er, “die man austauschen kann, muss man nur ein Schräubchen bewegen, und ein Motor wird vom anderen ersetzt.” Jeden Morgen wurde Gernot von seinem Vater und einem für meinen Geschmack unsympathisch großen Schäferhund in die Schule begleitet, der Vater trug eine gelbe Binde über dem Arm, auf der “Kriegsblinder” stand, und ließ sich von dem Schäferhund dann weiter ins Finanzamt führen, wo er als Telephonist arbeitete.

Unser Lateinlehrer, Dr. Kurt Fina, und der Deutschlehrer, Dr. Eduard Eisenmeier, Herausgeber einer Adalbert Stifter-Bibliographie, sprachen ähnlich breit und weich wie Gernot mit seinem Vater, und sie erwähnten manchmal im Unterricht ein “Unrecht,” das ich nicht kannte, und die “sudetendeutsche Sache,” nach der ich dann wieder zuhause fragte (eben diese Funktion von Abendessen in der Familie haben heute längst die Suchmaschinen übernommen). Die Meinungen meiner Eltern waren auch in diesem Fall viel deutlicher voreingenommen als die höchstens tendenziösen Informationen von Suchmaschinen: “Sudetendeutsche sind von den Russen aus ihrer Heimat vertrieben worden und deswegen müssen wir sie aufnehmen, aber es ist schon gut, dass sie auf der Sieboldshöhe unter sich bleiben.” Die Sieboldshöhe war ein Viertel am Rand der Stadt, mit vielen Blindenhunden (so kam es mir jedenfalls vor), neuen Reihenhäusern und einer “hochmodernen” Kirche, Sankt Alfons, die meine Eltern und ihre Freunde giftig-herablassend “Seelensprungschanze” nannten. Tatsächlich wohnten dort die Eisenmeiers, Finas, Hettlers und andere Familien mit schwerem Zungenschlag, ein paar Tausend von vierzehn Millionen “deutschstämmigen Flüchtlingen” aus Osteuropa, die, eher gelitten als geliebt, in der Deutschen Demokratischen Republik oder in der Bundesrepublik Deutschland weiterlebten und deren “Vertreibung” aus der Sowjetunion, aus Polen und aus der Tschechoslowakei die größte Völkerwanderung seit der Antike ausgelöst hatte.

Als dann wenig später die “Gastarbeiter” zuerst aus Italien, bald aber auch aus Spanien und Portugal, aus Griechenland, Jugoslawien und vor allem der Türkei ins Land kamen (und unter dem offiziellen Vorzeichen “sozialistischer Solidarität” aus anderen Ländern in die DDR) hatte sich der Ton gegenüber den Fremden plötzlich verändert. Schon das heute geflissentlich zu kritisierende Wort “Gastarbeiter” sollte ja einen Anklang von Freundlichkeit implizieren, was möglicherweise damit zu tun hatte, dass inzwischen der deutsche Sommer-Tourismus, zur Adria und zur Costa Brava vor allem, in Gang gekommen war. Der bald populäre Schlager von den “Zwei kleinen Italienern” brachte die neue Stimmung auf Begriffe und Töne: “Eine Reise in den Süden,” wenn ich mich richtig erinnere, “eine Reise in den Süden ist für and’re schick und fein, doch zwei kleine Italiener möchten gern zuhause sein.” Und der Refrain hieß: “Oh Gina, oh Marina, wenn wir uns beide wiedersehn, oh Gina, oh Marina, das wird so wunderschön.”

Dass handfeste, jeweils bilaterale Wirtschaftsinteressen dieser erneut gigantischen Migration ihren Rahmen gaben (um die zwölf Millionen “Gastarbeiter” strömten in die beiden deutschen Staaten, zehn Millionen von ihnen sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt), einen Rahmen, der mit bemerkenswert strikter politischer Rationalität ausgehandelt wurde, und dass es zu Exzessen von Xenophobie, Ausbeutung und sozialer Diskriminierung kam, die bis heute nachwirken, stellt niemand in Frage. Aber vielleicht gab es trotzdem eine Konvergenz zwischen den erst während der sechziger Jahren wirklich entschlossen einsetzenden Schritten einer neuen Nachkriegsgeneration, die Geschichte des deutschen Nationalsozialismus als eine Geschichte nationaler Schuld “aufzuarbeiten,” und auf der anderen Seite der freundlich-unbeholfenen Sentimentalität, in der ein Schlager die Deutschland-Erfahrung von “Gastarbeitern” als Erfahrung von außen beobachtete. Solche Spuren kondensierten sich dann erstaunlich schnell während der Regierungszeit von Willy Brandt zu dem kollektiven Wunsch, ein “anderes Deutschland” zu sein – und der Welt dieses andere Deutschland zu zeigen. Brandts Kniefall am Ort des Warschauer Ghettos und die schwebende Architektur der Olympischen Spiele von 1972 sind die im historischen Gedächtnis lebendig gebliebenen komplementären Symbole jenes Moments.

Mit der Ermordung von elf Athleten und Trainern der israelischen Mannschaft während der Münchener Spiele wurde zugleich und plötzlich klar, dass allein der gute Wille einer neuen Gesellschaft nicht ausreichte, um die Traumata aus der deutschen Vergangenheit im Rücken einer besseren Gegenwart zu isolieren, zu überwinden oder gar vergessen zu machen. Diese heute vielleicht zu einer Ahnung oder gar zu bloßer Energie gewordene Erfahrung mag immer noch eine treibende Kraft und Komponente in der Bemühung von erstaunlich vielen Deutscher um ein Leben nach ethischen Prinzipien sein, um ein Leben, das die besondere Intensität der ökologischen Bewegung in Deutschland ebenso vorgegeben haben mag wie den Willen so erstaunlich vieler Bürger im Land, die Migranten des Jahres 2015 nicht nur zu “absorbieren,” sondern ihnen eine Heimat zu sein.

Und solange dieser Wille nicht in engstirnige Selbstgerechtigkeit und nationales Strebertum umschlägt, was oft genug der Fall ist, hat er Deutschland schöner gemacht – so schön wie vor sechzig Jahren das faltige Lächeln der Ordensschwestern in ihrer engen Tracht und das laute Lachen der GI’s, denen zur Ehre ich lebenslanger Coca Cola-Trinker geworden bin.

Die mobile Version verlassen