Als ich in die Grundschule ging und die Vereinigten Staaten auch für Deutsche noch der schönste Horizont aller Auswanderer-Träume waren, nannte man Amerika gerne “das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.” Dabei bezog sich das Wort “unbegrenzt” auf den Eindruck, dass dort der Verwirklichung individueller Pläne oder Ideen kaum institutionelle Hindernisse entgegenstanden, ja dass Initiativen grundsätzlich ermutigt und begrüßt würden, je exzentrischer desto intensiver. Stillschweigend setzte man dabei immer ein stabiles, von Herkunfts- oder sozialen Unterschieden nicht tangiertes Feld des Menschen-Möglichen voraus, innerhalb dessen alle Unterschiede von Leistung und Begabung zu verbuchen waren, während die Außenseite des Menschen-Möglichen als Sphäre für die Projektionen der Imagination fungierte (und das hieß damals noch vor allem: als Sphäre der Gottes-Prädikate).
Heute klingt der Slogan vom “Land der unbegrenzten Möglichkeiten” so alt wie die Melodie eines Fred Bertelmann-Schlagers (“Der fröhliche Vagabund” zum Beispiel) oder wie meine Erinnerung an die Musikbox in der Milchbar gegenüber, und vielleicht hat das nicht allein mit der drastischen Veränderung, ja beinahe mit der Umkehrung des assoziativen Stellenwerts von “Amerika” für die Deutschen zu tun, sondern mit einer weniger sichtbaren, obwohl doppelten Veränderung im impliziten Status des Wortes “Möglichkeit.” Zum einen haben wir uns gerade in Europa an ein sozialfürsorgliches Klima gewöhnt, in dem alle Ansprüche auf Erreichung oder Verwirklichung von Zielen innerhalb des Menschen-Möglichen vom Staat zu befördern, wenn nicht sogar in ihrer Verwirklichung zu garantieren sind. Doch dies ist letztlich nicht mehr als eine graduelle, wenn auch sehr deutliche Verschiebung innerhalb des weiterhin stabilen Rahmens des Möglichen.
Zugleich, nur etwas zeitversetzt und bis heute anhaltend, haben technische Innovationen (und nicht nur sie allein) seit ungefähr einem Vierteljahrhundert jenen seit dem Auftreten des Homo sapiens auf der Bühne der Evolution weitgehend unverändert gebliebenen Rahmen des Menschen-Möglichen derart häufig überschritten, dass wir mittlerweile solche Ereignisse gar nicht mehr als einschneidende Veränderungen an der Grundlage menschlicher Existenz registrieren. Um an dieser Stelle einige terminologische Grundlinien zu ziehen: den nun schon mehrfach ins Spiel gebrachten Rahmen des “Menschen-Möglichen” können wir mit einem nur im Singular zu verwendenden Begriff aus der Tradition der phänomenologischen Philosophie “Lebenswelt” nennen. Alle historisch realen Welten (im Plural) erscheinen dann als Selektionen aus dem Möglichkeits-Rahmen der Lebenswelt. Das traditionell eher distant und beinahe eisig wirkende Feld jenseits der Grenzen der Lebenswelt aber war, wie gesagt, bis vor kurzem von den klassischen Gottesprädikaten besetzt, die inzwischen – eines nach dem anderen – auf die Innenseite des sich laufend verändernden Begriffs der “Lebenswelt” gewandert sind.
Diese vielfachen Verschiebungen und ihre akkumulierte Wirkung tangieren einerseits im einundzwanzigsten Jahrhundert kaum mehr den existentiellen Wert von religiösen Vorstellungen (was vor gut hundert Jahren gewiss der Fall war – als etwa die Erfindung der Röntgentechnik die Erwartung anspornte, bald wissen zu können, ob das konsakrierte Brot der Messe tatsächlich den Leib Christi enthielt). Dennoch mag es lohnend sein, einige jener Transformationen von Gottesprädikaten in interne Strukturen der Lebenswelt einmal durchzubuchstabieren. “Allgegenwärtig” zum Beispiel sind wir dank der elektronischen Kommunikationsmedien geworden. Ich schreibe diesen Text an einem späten Sonntagnachmittag in Santiago de Chile und sehe auf den Schnee der chilenisch-argentinischen Andenkordillere, während Mails aus Berlin, Stanford und Moskau auf dem Bildschirm meines Laptop angekommen sind, die ich ohne eine spürbare Zeitverschiebung von der Pazifikküste Südamerikas aus beantworten könnte. Zwar habe ich mir bis zu diesem Moment Gott nie vor einem Laptop sitzend vorgestellt, aber da die Theologen dazu neigen, die Geistigkeit von Gottes Sein zu betonen, tut die Unmöglichkeit, meinen Körper in die elektronische Kommunikation zu packen, dieser speziellen Übertragung eines Gottesprädikats in die menschlichen Lebenswelt keinen Abbruch. Zugleich macht mich die elektronische Kommunkation, vor allem durch ihre Suchmaschinen, annährend “allwissend,” zumindest was für Menschen erreichbares Wissen angeht (nur in die Seelen meiner Mitmenschen kann ich — im Gegensatz zu Gott und glücklicherweise – nicht blicken).
Weniger kompakt auf Computer und auf mich selbst als Computer-Benutzer bezogen ist die Bewegung des Prädikats der “Allmacht.” Seine Verschiebung wird deutlich, sobald wir uns klar machen, wieviele fundamentale Bedingungen des individuellen und kollektiven Lebens, die man früher als “Schicksal,” das heißt als für Menschen zugleich zufällig und unveränderbar, ansah, mittlerweile in Bewegung geraten sind. Unter den einschlägigen Veränderungen muss man zuerst die nicht mehr aus dem Menscheitsgedächtnis zu löschende Fähigkeit erwähnen, uns selbst und wohl auch unseren Heimatplaneten durch Nuklearenergie zu zerstören oder doch mindestens für immer so zu kontaminieren, dass er Leben nicht mehr zulässt. Dem steht auf der eher positiven Seite der Allmacht-Symptome das Potential – nicht allein präventiver – Gen-Manipulationen gegenüber, mit seinem Versprechen der Züchtung von besseren Menschen (ich meine, man muss diese Herausforderung mit drastischen Worten beschreiben). Schon unsere Gegenwart bietet gegenüber den Versprechen der Gen-Manipulation noch etwas schwerfällig wirkende chirurgische und pharmakologische Techniken an, das Geschlecht eines Menschen, in das sie oder er zufällig geboren wurde, zu verändern. Ohne es recht zu bemerken, haben wir uns heute auch darauf eingestellt, dass eine Krebs-Diagnose (anders als vor bloß dreißig Jahren) nur noch in Ausnahme-Fällen als “Todesurteil” im Sinn eines unverrückbares Schicksal aufgefasst wird. Und am Horizont solcher Schicksals-Aufhebungen ist auch aus dem Gottesprädikat vom “ewigen Leben” ein nicht mehr bloß utopischer Zielhorizont der medizinischen Forschung geworden.
Mir gehen die Kompetenz und der Sachverstand ab, um all diese Veränderungen wirklich adäquat einzuschätzen, doch die bloße Erwähnung erinnert daran, dass sich mit ihrer Konvergenz eine Veränderung im Verhältnis der Menschen zu sich selbst vollzogen haben muss. Anders gesagt: die Herausforderung dieser Gegenwart ohne verbleidende Unmöglichkeiten hat eine Vorgeschichte. Man kann nämlich zeigen, wie die großen Entwürfe des Totalitarismus, welche das zwanzigste Jahrhundert als Ideologien (vor allem kommunistischer oder faschistischer Machart) bis lang über seine Mitte dominiert haben, aus dem historischen Weltbild hervorgegangen waren, das heißt: aus dem Glauben, dass sich die Welt in beständiger Veränderung befinde, dass diese Veränderung bestimmten notwendig ablaufenden “Gesetzen” gehorche, und dass die Kenntnis solcher Gesetze Prognose und mithin eine vollkommene Vorbereitung auf die Zukunft ermögliche. Das historische Weltbild seinerseits hatte als Umstellung der Welterfahrung auf notwendige Prozesse (vor allem im Evolutionismus und in jeder Art von Geschichtsphilosophie) auf einen Moment erlebter Selbstüberforderung des Menschen im späten achtzehnten Jahrhundert reagiert, als zumindest den Intellektuellen jener Zeit die Welt zunehmend als ein Feld der Kontingenz erschienen war, also eben nicht als voraussehbar, sondern als durch Wahl, Urteil und Entscheidung zu gestalten.
Wenn der Eindruck nicht täuscht, dann ist zumindest der “westliche” Teil der Menscheit (aber wird er nicht durch die vor allem technologischen Prozesse der Globalisierung immer mehr synonym mit der Menschheit “an sich”?) in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wieder bei jener Sicht der Welt angekommen, welche sie einst als ein Feld der Kontingenz präsentiert hatte, als ein Feld, dessen Phänomene stets mehrere Reaktionen zuließen – und zugleich von Rändern des (absolut) Notwendigen und des (für Menschen) Unmöglichen umgeben waren. In einer eigenartigen Kreisbewegung haben wir uns also von den selbst erfundenen geschichtsphilosophischen und evolutonären “Notwendigkeiten” befreit und sind am Ende wieder bei der Kontingenz angekommen. Neue Prognosen und von ihnen abgeleitete Forderungen, welche “Notwendigkeit” für sich in Anspruch nehmen, sind in den vergangenen Jahrzehnten – ganz im Gegensatz zum neunzehnten Jahrhundert – nicht mehr erfolgreich gewesen (sieht man einmal von den Anhängern der “Scientology” ab). Stattdessen hat auf der einen Seite die Tendenz der Sozialpolitik(en) noch verbleibende “Notwendigkeiten” aufgehoben (in diesem Sinn sind mittelweile fast alle Gesellschaften zu “Ländern der unbegrenzten Möglichkeiten” geworden), während auf der anderen Seite Naturwissenschaft und Technologie (wie ich ja anhand der klassischen Gottesprädikte kurz zu illustrieren versuchte) den anderen Rand des “Menschen-Unmöglichen” zunehmend in Kontingenz, und das heißt eben: in für Menschen Wählbares umgearbeitat haben.
Gemäß dem Aufklërungsprogramm, das Wissen und Handeln der Menschen ganz an die Möglichkeiten der ihnen gegebenen Vernunft anzupassen, hatten die aus dem achtzehnten Jahrhundert hervorgegangenen Geschichtstotalitarismen für einen Gott (oder gar für Götter) keinen Platz gelassen – es sei denn, man hätte die Regeln und Gesetze der Weltveränderung mit Gott oder den Göttern gleichsetzen wollen. Solange die Welt nach dem Ende der Ideologien wieder als Feld der Kontingenz erlebt wurde, verwies sie Gott auf ihren Rand des Menschen-Unmöglichen – auf jenen Rand, der nun eben vor allem von den Technologien der jüngsten Vergangenheit in eine Zone des Menschen-Möglichen überführt worden ist. Wo sollte da noch Platz mehr für ein “höheres Wesen” bleiben?
Es gibt wohl zwei denkbare Antworten auf diese Frage, die zugleich widersprüchlich und komplementär sind. Wenn die westliche und globale Welt dabei sind, sich aus einen Feld der Kontingenz (umgeben vom “Notwendigen” und “Unmöglichen”) in ein Universum der Kontingenz (ohne solche Ränder) zu verwandeln, dann konfrontieren die Folgen dieses Prozesses Milliarden von Menschen mit einer Komplexität von Möglichkeiten und ihnen inhärenten Anforderungen, der sie (noch) nicht gewachsen scheinen. Mit anderen Worten: aus individueller Perspektive ist unsere gegenwärtige Welt unerträglich komplex geworden. Auf diese Situation haben zumal die großen christlichen Religionsgemeinschaften mit einer Aktivierung ihrer sozialfürsorglichen (“pastoralen”) Komponenten reagiert, deren Geschäftigkeit manchmal das Transzendente (oder “Göttliche”) in den Hintergrund treten lässt. Zugleich gibt es – immer deutlicher in dem Maß, wie alle Unmöglichkeiten verschwinden – in der zu einem Universum der Kontingenz gewordenen menschlichen Existenz eine Sehnsucht nach eben nicht kontingenten Lösungen, Antworten und Orientierungen – das heißt: die Sehnsucht nach einem Gott. Deshalb ist unsere Gegenwart zugleich zu einer Zeit der Säkularisierung und zu einer Zeit der Rückkehr des Gottesbegriffs geworden. Wer (wie ich) ohne ihn auszukommen glaubt, hat jedenfalls keinen rationalen oder affektiven Grund, sich gegenüber der Sehnsucht nach Gott überlegen zu fühlen.
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