Nach erschreckenden Ereignissen wie der Tötungs-Ekstase des Islamischen Staats am vergangenen 13. November in Paris oder ihrem Vor-Bild, dem 11. September 2001 von New York, neigen wir zu größerer Skepsis im Hinblick auf die Möglichkeit, “aus der Geschichte zu lernen.” Unter den zahlreichen Gründen, die in einer solchen Reaktion konvergieren, dominieren die unmittelbare und niederschmetternde Gewissheit, dass kein vernunftgeleitetes Nachdenken über die Vergangenheit zur Prognose dessen hätte führen können, was eben wirklich geworden ist, aber auch der jede Illusion von allgemeiner zivilisatorischer Entwicklung zerstörende Gestus solcher Verbrechen.
Unter einer ähnlichen, durch die Kastrophen-Sequenz des Zweiten Weltkriegs ausgelösten Stimmung schloss der Philosoph Karl Löwith im Juli 1948, einen Monat nachdem die westlichen Aliierten mit ihrer “Währungsreform” die Weichen zur deutschen Teilung gestellt hatten, sein heute fast vergessenes Buch “Meaning in History” ab. Als 1897 geborener protestantischer Sohn eines jüdischen Vaters, der bei Husserl und Heidegger studiert hatte, musste Löwith Deutschland 1934 verlassen, um zunächst und für zwei Jahre in seinem Lieblingsland Italien zu überleben. Von dort nahm er 1936 den Ruf an eine japanische Universität an, wo er fünf Jahre lehrte, bis es ihm die deutsch-italienisch-japanische “Achsen-Poliitk” angeraten scheinen ließ, 1941, kurz vor dem Anschlag der japanischen Luftwaffe auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, mit seiner Frau in den amerikanischen Staat Connecticut zu übersiedeln, wo er an einer theologischen Hochschule unterrichtete. 1952 dann kehrte Löwith nach Deutschland zurück, um eine Professur in Heidelberg zu übernehmen, wo er 1973 starb, von seinen Kollegen und Studenten eher geachtet als bewundert.
Nichts scheint Löwith weniger gelegen zu haben als eine dramatische Inszenierung der eigenen Lebensumstände. Deshalb zeigt sein Buch kaum direkte Spuren der Nachkriegssituation, während andererseits die dort entfaltete Position deutlich geprägt war von der Arbeit in einem theologischen Kontext. Vor allem nahm er jene Konzeption von “Geschichte” ins Visier, die sich nach 1800 im Werk von Hegel zur Philosophie des “historischen Weltbilds” vervollkommnet hatte und zugleich in die Praxis gemündet war, den Erinnerungen an die Vergangenheit jeweils Beobachtungen von Regelmäßigkeiten (“Gesetzen”) abzugewinnen, welche dann ihrerseits Zukunfts-Prognosen ermöglichen sollten. Offenbar im Rückblick auf die faschistischen Nationen und in der Gegenwart der siegreichen Sowjetunion wurde für es Löwiths mit bemerkenswerter Nüchternheit vorgetragenes Haupt-Anliegen, vor jenen übergreifenden Interpretationen der Vergangenheit zu warnen, weil er überzeugt war, dass aus der für sie typischen Annahme von der Vergangenheit immanenten Bedeutungen (daher der Buch-Titel “Meaning in History”) Ideologien mit ihren utopischen Zukunftsprojektionen und ihren für die Menschheit gefährlichen kategorischen Forderungen an das kolleketive und individuelle Verhalten folgten.
An dieser Stelle von Löwiths Argumentation lässt sich eine Unterscheidung vollziehen und einschieben, die er selbst nahelegte, ohne sie explizit zu machen, nämlich die Unterscheidung zwischen “Vergangenheit” und “Geschichte.” Statt diese beiden Substantive synonym zu verwenden (wie es in unserer Alltagssprache immer noch üblich ist), werde ich “Vergangenheit” schreiben, wenn es um Erinnerungen und Überlieferungen ohne übergreifende Sinnbildung geht, und das Wort “Geschichte” auschließlich auf jene seit 1800 hervorgetretenen, übergreifenden Interpretationen der Vergangenheit anwenden.
Nach Löwith soll “Geschichte” in diesem Sinn aus einer problematischen Fusion von christlicher Theologie und säkulärer Erinnerung entstanden sein. Die Erlösungstat Christi habe zu einer grundsätzlichen Strukturierung der Menschen-Zeit geführt. Sie setzte ein mit Gottes Erschaffung der Welt und der Erbsünde; sie hatte ihr Zentrum im Opfertod des Gottessohns am Kreuz als jenem Ereignis, durch das die Gewissheit einer individuellen und kollektiven Erlösung von der Erbsünde erkauft wurde; doch weil der Akt des göttlichen Selbstopfers neben der Gewissheit zukünftiger Erlösung nicht auch zugleich den Zeitpunkt ihres Vollzugs festlegen konnte, tat sich zwischen Auferstehung und dem versprochenen Jüngsten Tag eine offene Zeit auf, die nicht intern strukturiert war. Schon sehr früh in der Geschichte des Christentums und verstärkt seit der ersten Jahrtausendwende lassen sich Tendenzen ausmachen, diese von der Theologie unbestimmt gelassene Zeit zwischen Kreuzigung und Jüngstem Tag durch Sinngebungen zu füllen, welche den Zeitpunkt des Jüngsten Tags als Realisierung des Erlösungsversprechens prognostizierbar machen sollen. Eben in diesen Tendenzen will Löwith den Ursprung der Geschichtsphilosophie und des historischem Weltbilds sehen – anders gesagt: er hält die Sinngebungs-Tendenzen (nun als Metapher gemeint) für die “Erbsünde” der westlichen Kultur im Verhältnis zu ihrer eigenen Vergangenheit.
Löwiths Kritik an dieser Vermischung von Theologie und einem säkularen Blick auf die Vergangenheit ist deutlich und scharf. Doch unter dem Eindruck des Weltkriegs zögerte er offenbar, mit ähnlich deutlichen Konturen andere – und eben bessere — Verfahren im Umgang mit der Vergangenheit vorzuzeichnen. Sympathisch – und sozusagen “unverdächtig” – waren ihm allein Giambattista Vicos Philosophie aus dem achtzehnten Jahrhundert, die auf Gottes Vorsehung als Dynamik beständiger Veräbnderung setzte, ohne ihr bestimmte “Gesetze” abgewinnen zu wollen, und Jakob Burckhardts Praxis, Verbindungen zwischen spezifischen “lokalen” Konfigurationen der Vergangenheit und Konfigurationen seiner eigenen Gegenwart im späten neunzehnten Jahrhunderts herzustellen. Ein abstrakteres, in irgendeiner Hinsicht philosophierendes “Geschichtsbild” aber versagte sich Löwith.
In den vergangenen beinahe sieben Jahrzehnten ist sein Buch ohne nennenswerten Einfluss auf Geschichtsschreibung und Geschichsdenken in Deutschland geblieben. Es hat keine kritische Auseinandersetzung mit den vielfachen neo-marxistischen Ansätzen ausgelöst, die seit den sechziger Jahren entstanden; es ist nicht zu einer Gegenposition im Bezug auf die kurzfristige Euphorie des Neo-Historimus geworden, welche sich an der (schnell in Banalität umschlagenden) Entdeckung der Freiheit begeisterte, Vergangenheit in vielfachen Formen der Erzählung quasi-literarisch verarbeiten zu können; und auch die in ihrem Anspruch an Löwith selbst erinnernden minimalistischen Positionen der bis heute lebendigen, spezifisch deutschen “Erinnerungskultur” (“das Gedenken an die Vergangenheit muss bewahrt und präsent gehalten werden”) haben nie programmatisch auf ihn Bezug genommen. Nicht einmal im Werk des großen Geschichts-Denkers Reinhart Koselleck, dessen Fluchtpunkt die Darstellung des historischer Weltbilds als einem selbst historischen Phaenomen lag, wird das Werk seines Lehrers Löwith diskutiert.
Doch es geht mir eigentlich gar nicht um das (typisch akademische) Plädoyer für ein “zu Unrecht vernachlässigtes Buch.” Das Ausbleiben einer Löwith-Rezeption interessiert mich allein deshalb, weil es – nach einer freudianischen Logik der Verdrängung — Symptom für die “ungenehme Wahrheit” sein könnte, dass wir uns bis heute (oder heute verstärkt wieder) in einer an Löwiths Denkprozess von 1948 erinnernden Situation der Verlegenheit befinden, wenn es um die Frage geht, was wir mit bewahrten und erinnerten Vergangenheiten anfangen können (und welche Rolle sie für uns spielen sollen). Dies bedeutet keinesfalls, dass Bezüge auf die Vergangenheit aus dem kulturellen Leben der Öffentlichkeit geschwunden sind. Im Gegenteil – Museen und andere Formen der Vergangenheits-Dokumentation erfreuen sich heute größeren Zuspruchs als je zuvor. Sie haben Techniken der Vergegenwärtigung von Vergangenheit in ihrem Andersseins gegenüber der Gegenwart herausgebildet, die längst zu einer neuen und in sich durchaus legitimen Dimension ästhetischer Erfahrung geworden sind.
Die verbleibende – sehr ernste – Frage heißt aber, ob ausschließlich diese ästhetische Beziehung zur Vergangenheit heute noch lebendig ist. Sind die (im impliziten oder expliziten Verweis auf die deutsche Vergangenheit des zwanzigsten Jahrhunderts stets moralisierenden) Aufrufe zur “Erinnerungskultur” nicht bloß ein Schleier von Ernsthaftigkeit, den zu tragen Berufshistoriker sich gegenüber ihren Studenten und den Steuerzahlern verpflichtet fühlen? Sind wir nicht geneigt, Niklas Luhmanns Pointe zuzustimmen, nach der die Hochrechnung von Zukunftsprognosen aus Analysen der Vergangenheit derart hohe Kosten verursacht, dass es billiger ist, Versicherungen gegen nicht erwünschte Zukünfte zu kaufen? Hinzu kommt der Eindruck, dass wir beständig mit vor allem ökologischen und demographischen Herausforderungen konfrontiert sind, die aus der Zukunft auf uns zuzukommen scheinen und keinen Raum mehr frei lassen für die Gestaltung dieser Zukunft. Schließlich wirkt die Gegenwart – nicht allein, doch vor allem aufgrund elektronischer Technologien — überschwemmt von Dokumenten und Wissen über die Vergangenheit, welche ihrer Ästhetisierung letztlich die Funktion einer Entsorgung zuweisen. Anders und nüchterner gesagt: die zeitliche Struktur des menschlichen Bewusstseins wird zwar immer dazu führen, dass wir aktuelles Erleben als “Vergangenheit” zurücklassen; doch darin liegt keine Garantie, dass der so entstehenden Vergangenheit irgendeine für unser Leben relevante Funktion zukommt.
In dieser Situation der — eigentlich nie eingestandenen — Ratlosigkeit lässt sich die Renaissance einer historisch strukturierten Geschichtsschreibung beobachten, die der Vergangenheit wieder übergreifende Bedeutung – aber nun hinter negativen Vorzeichen – zuschreiben will. Unter der Erbsünden-Voraussetzung einer von Menschen ausgelösten und sich schnell ausbreitenden Verödung des Planeten gerät diese neue Geschichtsschreibung zu der Ideologie und Prognose einer sich als Ende allen Lebens vollziehenden Bestrafung der Menschheit. Und der Welterfolg des genau diesem Muster folgenden Buchs des israelischen Historikers Yuval Harari (unter dem Titel “Sapiens – eine kurze Geschichte der Menschheit”) suggeriert, dass uns kollektive Selbstgeißelung auf der Basis vermeintlicher “Geschichtsgesetze” offenbar viel leichter fällt als der Vollzug der Einsicht, dass die Vergangenheit nicht mehr zu unserer Gegenwart zu sprechen scheint.
Auch gegen Hararis quasi-apokalyptische Geschichtsschreibung mit ihren aufdringlichen Tönen politischer Korrektheit kann man Löwiths Kritik an der Vermischung von Theologie und säkularer Erinnerung ins Feld führen. Das Nachdenken über politische Ereignisse und Katastrophen in unserer Gegenwart hingegen kann auf diese Kritik verzichten, weil es den Umweg über die Vergangenheit zurück zur Gegenwart im Ernst gar nicht mehr einschlägt. “Geschichte” scheint sich als ein Verhältnis zur Vergangenheit überlebt zu haben – aber was können wir dann mit der Vergangenheit anfangen?
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