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Zivilcourage — in der Gegenwart des “Islamischen Staats”?

Von einem Gutmenschentum besonderen Tons bleibt auch der amerikanische Alltag nicht verschont. Seit die Kommandos des Islamischen Staats einen Abend in Paris zum Blutbad gemacht haben, das Leben in Belgien zum Stillstand brachten und Europa in anhaltenden Terror versetzten, fragen mich immer wieder Kollegen oder Studenten auf dem Campus in Kalifornien, entfernte Bekannte eher als alte Freunde, ob “die Menschen in Paris, an denen ich hänge” (“your beloved ones at Paris”) in Sicherheit sind, oder ich ob denn angesichts der neuen Gefahren, wie jedes Jahr im Dezember, wieder nach Europa fliegen werde. Solche Momente sind mir so unsympathisch wie die als Geste umsichtiger Sorge (und unter einem virtuellen Frankenschwestern-Häubchen) geraunten Wörter “You ok?” — die einen hier schon heimsuchen können, wenn man einmal nicht mit ostentativ aufgeräumter Miene zum Parkplatz geht. Und in Bezug die gegenwärtige Situation in Europa erscheinen solche Gutmenschen-Fragen gleich aus mehreren Gründen unsinnig.

Auf persönlicher Ebene, weil ich zwar eine gute Zahl von Bekannten in Paris habe, aber keine “Geliebten,” ohne die mein Leben außer Bahn geriete (die vorgeblich Besorgten wissen also wohl, dass ich französische Literaturgeschichte unterrichte, doch sie sind mir längst nicht so nah, wie ihre Besorgnis vorgibt). Vor allem aber ist das derzeitige Leben in Europa, selbst in Paris und Brüssel, nicht gefahrlicher geworden, als das Leben – zum Beispiel – auf einem amerikanischen Campus immer schon ist, wo ja aufgrund der besonderen Waffen-Gesetze unseres Landes jederzeit ein Verrückter zu schiessen beginnen kann. Zu dem Zeitpunkt, wo dieser Text auf FAZ.net erscheint, werde ich tatsächlich schon in Europa sein – und keinen Deut mehr beunruhigt als jeden Morgen auf dem Weg an den Hörsälen vorbei zu meinem Uni-Büro.

Wenn es also nervende Gutmenschen gewiss auf beiden Seiten des Atlantik gibt, so ist andererseits die Reaktion der europäischen Staaten auf die — dort neue — allgemeine Lebens-Gefahr in der Zeit des Islamischen Staats für Bürger der Vereinigten Staaten derart unvorstellbar, wie sie in Europa alternativenlos bleibt. Die europäischen Staaten haben die großen Städte ihres Kontinents – und symbolisch gesagt: ihre gesamten Gesellschaften – mit Polizei-Formationen umgeben, hinter denen das physische Leben sicher sein soll, was immer mit dem Risiko einhergeht, die Öffentlichkeit zur Implosion zu bringen. Ob dieser Staats-Aufwand individuelle Sicherheit wirklich erhöht, steht auf einem ganz anderen Blatt. Denn organisierte Terroristen werden heute schon Monate vor den geplanten Anschlägen in jene Gesellschaften eingeschleust, die sie attackieren und bleibend verunsichern sollen, und unterscheiden sich in dieser Hinsicht kaum von jenen meist pathologischen Individuen, die in den Vereinigten Staaten – nicht ausschließlich, aber doch viel häufiger als in Europa – mit Waffen, die ihnen zur freien Verfügung stehen, Menschen in ihrer zufälligen Nähe umbringen.

Der Sicherheitsunterschied für Individuen zwischen dem Europa dieser Tage und den Vereinigten Staaten in permanenter, strukturell bedingter Hinsicht, ist also empirisch gesehen ein höchstens gradueller, während die institutionellen Erwartungen deutlich – und nicht nur vorübergehend – divergieren. Denn die europäischen Staaten stehen unter der Erwartung und dem Anspruch, individuelle physische Unversehrtheit weitestgehend zu garantieren, während der amerikanische Staat diese Funktion schon immer an private Sicherheitsfirmen oder an die persönlichen Initiative delegiert hat. Mit anderen Worten: das “Gewaltmonopol des Staates” ist in der Vereinigten Staaten, wenn man diesen Begriff in ihrem Zusammenhang überhaupt gebrauchen kann, durchaus porös. Hier genau liegt – historisch gesehen – übrigens der Grund und (aus der Perspektive einer großen Zahl, ja vielleicht der Mehrheit amerikanischer Bürger) auch die Plausibilität einer Gesetzgebung, welche Waffen prinzipiell zugänglich macht.

Viel ähnlicher sind die etablierten Erwartungen auf beiden Seiten des Atlantik, was die Redefreiheit angeht. In Europa wie in Nordamerika kann man davon ausgehen, dass sie nur in sehr genau zu begründenden Ausnahmefällen eingeschränkt wird – und dass ihr Gebrauch prinzipiell nicht zu negativen Konsequenzen führen darf. Insofern wirkt es eigenartig (und ist wohl Symptom einer müden Tendenz zur Selbst-Heroisierung), wenn Situationen des Gebrauchs – staatlich garantierter und geschützter – Redefreiheit immer wieder als Momente von “Zivilcourage” gefeiert werden. Dass die Autoren und Zeichner von “Charlie Hebdo” zum Beispiel Exzesse des Islamismus aufs Korn genommen hatten, war natürlich ihr gutes Recht (ganz unabhängig von der — ohnehin kaum konsensuell zu beanwortenden — Frage, ob sie mit ihrer Kritik recht hatten). Ein Eindruck von Peinlichkeit aber beginnt sich spätestens mit dem stolzen Bewusstsein einzustellen, dass es ein Akt der Zivilcourage sei, hinter den Wällen aufgezogener Polizeieinheiten kollektiv die eigene Solidarität mit den ermordeten Journalisten zu feiern. Denn wer einen solchen Impuls unterdrückte, spielte ja aktiv dem Terrorismus bei der Erfüllung seines strategischen Ziels in die Hände – und schon allein deshalb muss Solidarität als selbstverständlich gelten.

Es ist wohl an der Zeit zu fragen, ob man den Ehrentitel der “Zivilcourage” tatsächlich für immer und ausschließlich mit dem Gebrauch der Redefreiheit verbinden soll. In Frankreich ist während der vergangenen Wochen die Zahl der jungen Bürger exponentiell gestiegen, die sich freiwillig zum Militärdienst melden – nach dem Blutbad von Paris und als Akt einer oft expliziten Unterstützung der Regierungsentscheidung, Positionen des Islamischen Staats in Syrien mit Luftwaffeneinsätzen zu treffen. Darin liegt ein schöner Anklang an den Text der französischen Nationalhymne, die – im historischen Moment der Revolution – zum ersten Mal “Bürger” (und nicht mehr nur Söldner) zu den Waffen rief, um das eigene Territorium gegen einen (damals allerdings in offener Feldschlacht aufmarschierenden) Feind zu verteidigen.

In unserer Gegenwart allgegenwärtig asymmetrischer Kriegsführung sind diese Strophen wieder realistisch geworden — und vielleicht hätten wir sie nie auf den Status einer in weite Ferne gerückten Vergangenheit reduzieren sollen. Mehr noch als an die neuen Freiwilligen des französischen Militärs denke ich an die – vor allem körperliche – Zivilcourage jener jungen Amerikaner, die erst vor wenigen Wochen in einem Zug nach Paris einen bewaffneten Terroristen überwältigten und unschädlich machten, während sich alle anderen Reisenden, so gut es ging, verbarrikadiert hatten. Gewiss, diese Männer waren als “Marines” für einen solchen Fall ausgebildet und also speziell handlungskompetent – doch an jenem Tag nahmen sie als private Reisende, das heißt: ohne jegliche Verpflichtung, ein Todes-Risiko auf sich.

Natürlich kann man einen solchen Fall individuellen Heldentums nicht in die allgemeine Forderung nach “Wehrhaftigkeit” umsetzten, weil dieser Begriff als ethische Norm zur Welt des Faschismus gehört – und ohnehin einem Autor im siebenundsechzigsten Lebensjahr so wenig steht wie das Glitzer-Kostüm eines Rockstars. Es geht mir vor allem um eine Kritik der seit Jahrzehnten etablierten und wachsenden Tendenz, jegliche Einklammerung der physischen Dimension unseres Lebens als Fortschritt der Aufklärung zu feiern – und so irreversibel zu machen. An diese Tendenz ist die – durch inflationären und inhaltlich ausschließlichen Gebrauch ausgelöste – Banalisierung des Begriffs “Zivilcourage” gebunden. Auf der Seite von staatlich geschützten Mehrheits-Solidaritäten stehen zu wollen, mag ja oft (vielleicht sogar meist) die richtige “politische” Entscheidung sein – aber sie verdient noch keine besondere Anerkennung. Die Einsicht, dass es sich mit dem Mut zum körperlichen Risiko genau umgekehrt verhält, stellt sich in der Gegenwart jenes Terrors ein, der täglich den Begriff des “Islam” missbraucht. Auch daran zu erinnern, ist kaum der Rede von “Zivilcourage” wert.

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