Das Wort „Genie“ im ernsten, aus der Zeit der Romantik stammenden Sinn, als Bezeichnung für eine individuelle Fähigkeit zu bedeutsamer Innovation, welche die gattungsspezifischen Möglichkeiten des Menschen zu überschreiten scheint, dieses Wort ist aus den ideologiekritischen Gewittern der späten sechziger und siebziger Jahre schwer angeschlagen hervorgegangen. Zugleich hat „Kreativität“, jener Begriff, welcher die typische Performanz der „Genies“ beschreiben sollte, einen ähnlichen, etwas langsameren und weniger dramatischen Prozess der Banalisierung durchgemacht. „But she is very creative“, lautet die nicht einmal mehr besonders tröstliche Standard-Konzession, die kalifornische Lehrer gegenüber besorgten Eltern machen, wenn sie ihnen von den nicht ausreichenden Leistungen ihrer Kinder berichten müssen.
Schon vor einem knappen Vierteljahrhundert hatten sich in Deutschland Akademiker, denen „Kreativität“ als Programm und Steilvorlage des zuständigen Bundes-Ministeriums für die „Modellversuche Graduiertenkolleg“ zugefallen war, Sorgen (berechtigte Sorgen, stellte sich bald heraus) um diesen Begriff gemacht. Wie ein 1987 beim Wilhelm Fink Verlag erschienenes Bändchen dokumentiert, stellten sie die Eröffnungs-Veranstaltung jenes Experiments mit einer ganz neuen Form der Doktorandenbetreuung unter die etwas verzagte Frage „Kreativität – ein verbrauchter Begriff?“ Keiner der drei Vortragenden (neben dem in den achtziger Jahren unvergleichlich berühmten Soziologen Niklas Luhmann ein Psychologe sowie ein Literaturtheoretiker und Dichter), setzte wirklich auf die Zukunft des zur Diskussion gestellten Worts. Von einem Anzeichen der „Genialität“ definierten sie „Kreativität“ um zu der Fähigkeit, an der Peripherie von sozialen System auf Zufälle in ihrer Umwelt zu reagieren und diese Zufalle in interne Strukturveränderungen umsetzen zu können. „Entspannte Konzentration“ legte man deshalb (etwas hilflos) den Lesern und den Kreativitäts-begierigen Stipendiaten des neuen Graduiertenkolleg nahe.
Luhmann entwickelte daneben eine Skizze der einschlägigen Begriffsgeschichte. Sie sollte einsetzen mit einer (wohl auf Jahrtausende veranschlagten) „Ent-Sexualisierung“ – wobei die Voraussetzung nirgends belegt ist, dass das Wort wirklich je dominant im Bezug auf Fortpflanzung gebraucht wurde. Seit der frühen Neuzeit aber wurde „Kreativität“ dann tatsächlich mit „dämonischen“, also nicht auf natürlichem Weg zu erklärenden menschlichen Fähigkeiten und mit Überraschung, Innovation, Bedeutsamkeit als ihren Wirkungen assoziiert. Seinen höchsten emphatischen Stellenwert erreichte der Begriff im frühen neunzehnten Jahrhundert, wo er zunehmend mit „Genialität“ als gleichsam göttlicher Kraft des Schaffens gekoppelt und auf die Dynamik einer sich nun entfaltenden linear fortschreitenden Zeit projiziert wurde. Das zwanzigste Jahrhundert hingegen identifizierte Luhmann als Phase einer „Demokratisierung“ von Kreativität, innerhalb derer sich die Umstellung grenzenloser individueller Produktivität auf jene von ihm und seinen Kollegen konstatierte, eher passive Offenheit gegenüber Zufällen in der Systemumwelt vollzogen haben sollte.
Jedenfalls dominierte der – im Rahmen einer Eröffnungsfeier eher kakophone – Eindruck, dass der Glaube an Kreativität und auch ihr Ansehen den historischen Zenit längst überschritten hatten. Ein Rückblick auf den großen Moment jenes Prädikats in der Romantik kann den von Luhmann aufgezeigten Prozess des Prestigeverlusts erklären, der sich zwischen 1987 und heute nur noch verdeutlicht hat. Das lange schon entdeckte Potential der Kreativität hatte seinen ekstatischen (und dann über ein Jahrhundert anhaltenden) Höhepunkt nämlich im Kontext des historischen Weltbildes erreicht, wie es sich nach 1800 herausbildete und rasch einen ganz unbestrittenen Grad der Institutionalisierung erreichte. In seinem Zentrum stand ein Selbstverständnis des Menschen als reines Bewusstsein, der auf der Grundlage von an die Gegenwart angepassten Erfahrungen aus der Vergangenheit (sie galten als „Wahrheit“) aus den Möglichkeiten der jeweiligen Zukunft auswählte, anders gesagt: der Mensch wollte eine Zukunft gestalten, die sich als ein offener Horizont vielfältiger Möglichkeiten darstellte. „Handeln“ nannte man seither diese komplexe Rolle, welche als Unterscheidungsmerkmal und Anspruch des Menschen galt – und ihre höchste Erfüllung eben in der „Kreativität“ des „Genies“ finden sollte.
Bis heute ist das „historische Weltbild“ nicht verschwunden, unsere Politik etwa oder die akademischen Institutionen können ohne seine Voraussetzungen und Implikationen gar nicht existieren. Aber es beherrscht wohl nicht mehr unseren Alltag. Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist in einem lange verdeckten Prozess aus der offenen Zukunft eine Zukunft geworden, in der vielfältige Gefahren langsam auf uns zuzukommen scheinen (Erderwärmung, demographische Entwicklung, Erschöpfung der Rohstoffe); statt hinter uns zurück zu bleiben, überfluten die Erinnerungen an die Vergangenheit (nicht zuletzt aufgrund elektronischer Speicher-Technologien) unsere Gegenwart – die so zwischen jener Zukunft und dieser Vergangenheit zu einer sich immer weiter verbreiternden Gegenwart der Simultaneitäten geworden ist. Ihre Komplexität, die wir als ein Universum von Kontinenz erleben, das heißt: als eine Welt, in der alles möglich, aber nichts mehr notwendig wirkt, überfordert uns beständig – und hat eine wachsende Skepsis gegenüber jener traditionellen Prämisse allen menschlichen Lebens genährt, nach der unsere Intelligenz ausreichen soll, um das Überleben als Gattung auf diesem Planeten zu sichern.
Für die beständige Erneuerungs- und Gestaltungskraft aber, als die Kreativität und Genie verstanden worden waren, ist in diesem Weltbild kein Platz mehr. So lässt sich erklären, warum aus den (vor allem naturwissenschaftlichen) Nobelpreisträgern als Helden der Menschheit und Erfüllung ihrer höchsten Möglichkeiten (niemand war als Emblem dieser Art sichtbarer als Albert Einstein) heute Namen nur eines Tages pro Jahr geworden sind – jenes Tages, an dem die Wahl der Nobelpreisträger öffentlich gemacht wird, Namen auch, hinter denen wir eine bewundernswerte Lebensleistung vermuten, ohne deren Inhalte und Konsequenzen auch nur annähernd zu verstehen. Philosophisch gewendet befinden sich die Nobelpreisträger (und befanden wir uns im historischen Weltbild) in einem Verhältnis zur Welt der Dinge, das Martin Heidegger als „Vorhandenheit“ beschrieben hat. Denn die Welt der Dinge stand unseren intellektuellen Fähigkeiten gegenüber (die Fähigkeiten standen sozusagen „vor der Welt), und mit jeder neuen Einsicht, welche diese Fähigkeiten hervorbrachten, war der Eindruck von der Welt der Dinge nur komplexer und überwältigender geworden, ohne dass wir das Gefühl hatten, sie besser in den (praxisrelevanten) Griff zu bekommen. Nobelpreisträger unserer Zeit sind zum bloßen Symptom eines Entgegenhalten gegen diese wachsende Komplexität geworden – und schon lange trauen wir ihnen nicht mehr die Lösung der uns bedrängenden Probleme oder gar eine Gestaltung der Zukunft zu.
In dieser intellektuellen Stimmung hat ein Verhältnis zur Welt der Dinge Karriere gemacht (auch hier: eher unbemerkt Karriere gemacht), auf das offenbar der Begriff der „Zuhandenheit“ passt, jener Begriff, den Heidegger – mit kaum übersehbarer Sympathie – der „Vorhandenheit“ gegenüberstellte. „Zuhandenheit“ setzt ein menschliches Selbstbild als „Existenz“ voraus, zu dem neben den zerebralen Fähigkeiten auch die Sinne, der Körper und der Raum gehören. Deshalb steht man in „Zuhandenheit“ der Welt der Dinge nicht gegenüber, sondern ist Teil von ihr (Heidegger spricht von „in-der-Welt-Sein“, so als könnten die drei Bindestriche solche Nähe heraufbeschwören). Als Zuhandenheit identifizieren wir eher die Lebensform der Handwerker und Ingenieure als jene von Spezialisten oder Naturwissenschaftlern.
Dieser ganz andere begriffliche Kontext richtet unsere Aufmerksamkeit und Wertschätzung nun nicht mehr auf Kreativität als individuelle Gestaltung der Welt und ihrer Zukunft, sondern auf die Fähigkeit, lebenswerte Verhältnisse zwischen einer den Körper einschließenden Existenz und der Welt der Dinge zu finden und zu entfalten, Verhältnisse der Zuhandenheit und des in-der-Welt-Seins. Genauer (und zweitens) gesagt: Verhältnisse der Zuhandenheit werden über die Entfaltung von Varianten optimiert und nicht durch Erfindungen vorweggenommen. Es geht ihnen drittens um Richtigkeit eher als um Wahrheit (als ich neulich einen sehr jungen Studenten fragte, der eine elektronische Applikation entwickelt hatte, worauf er denn besonders stolz sei, sagte er bündig: „that it runs on a computer and has resonance on the market“ – ohne zwischen diesen beiden Dimensionen einen kategorialen Unterschied zu machen). Schließlich sind bessere, ja optimierte Verhältnisse der Zuhandenheit kaum je das Ergebnis von langwierigen Forschungsprozessen, sondern scheinen typischerweise in Alltagssituationen als plötzliche Möglichkeiten auf (in philosophischer Terminologie könnte man sie „epiphanisch“ nennen).
Noch haben wir kein Wort, um dieses andere Weltverhältnis als Funktionsäquivalent von „Kreativität“ unter gewandelten sozialen und existentiellen Bedingungen zu beschreiben. Doch schon längst hat das neue Weltverhältnis seine eigenen Protagonisten hervorgebracht. Der zumindest in der Vereinigten Staaten prominenteste von ihnen (an der Westküste kommt ihm so etwas wie ein Heiligenstatus zu) ist Steve Jobs, der über die Entfaltung der Zuhandenheits-Potenziale von Computern im ganz wörtlichen Sinn unser Verhältnis zur Welt der Dinge verwandelt hat – ohne auch nur eine einzige naturwissenschaftliche Entdeckung oder ingenieurwissenschaftliche Erfindung für sich beanspruchen zu können. Jobs brachte (in einer lange Serie von Variationen, die zunächst zwischen momentanen Erfolgen und momentanen Enttäuschungen oszillierten) bereits vorhandene technische Elemente wie die Computer-Maus, den Apple-Bildschirm, oder den Touch-Screen in materiellen Konfigurationen zusammen, die man “ästhetisch” nennen konnte, weil sie den Wunsch erweckten, sie anzufassen und sich so in ein körperliches Verhältnis zu ihnen zu setzen. Mittels dieser Produkte aber hat sich unser Verhältnis zum Raum, zu den Dingen und zu den anderen Körpern inzwischen tatsächlich von Grund auf gewandelt. Jene Produkte decken keine Wahrheiten auf, sondern entfalten ihre eigene Sphäre der Richtigkeit, indem – und solange – sie laufen. Und unter der Hand haben sie (in eigenartig wörtlichem Sinn) den Traum, „die ganze Welt in der Hand“ zu haben, zu einer richtigen Wirklichkeit werden lassen, in der wir leben und in die wir uns finden, obwohl sie die Bilder jenes alten Traums gar nicht erfüllt.
Manchmal denke ich, dass auch die großen Sportler unserer Zeit solche Helden der Zuhandenheit sind, und dass sie soviel mehr Resonanz finden als je zuvor in der Geschichte (seit eigener Zeit sogar Resonanz bei Intellektuellen), weil sie ohne Programm und Innovationsabsichten im Experimentierfeld der Regeln ihres jeweiligen Sports neue Möglichkeiten des Verhältnisses zum Raum und zu anderen Körpern entfalten: das trifft auf Abby Wambach und auf Lionel Messi ebenso zu wie auf Serena Williams, Roger Federer, Manuel Neuer und Pierre-Emerick Aubameyang. „Kreativ“ nennen wir Athleten nur selten, und wenn wir das Wort „Genie“ gebrauchen, spüren wir gleich, wie wenig es passt. Sportler sind eben immer eine andere Überlegung und einen anderen Blog wert.