Eigentlich fordert es die biedere Intellektuellen-Konvention, diese beiden Begriffe – aus verschiedenen, doch sich überschneidenden Gründen – mit Anführungszeichen zu umgeben. Im Fall von “Behinderung,” um dem politisch korrekten Bewusstsein Ausdruck zu geben, dass keine Form des Lebens je als weniger vollständig denn irgendeine andere anzusehen ist, sondern immer nur, so exzentrisch sie auch sein mag, als Variante eines Grundtypus gelten soll, der sich dann in endlosen Variationen aufzulösen beginnt. “Genie” sagt oder schreibt man ebenso wenig einfach hin, weil hier der Eindruck eines als naiv verschrieenen Glaubens an eine Form von natürlicher oder gar angeborener Überlegenheit zu vermeiden ist. Und dennoch braucht eigentlich gar nicht erwähnt werden, dass niemand im Ernst und nachhaltig diese beiden Begriffe mit ihren Inhalten aus seiner Weltwahrnehmung und seinem Denken verbannt hat.
Andererseits macht es der doppelte Zwang zu Anführungszeichen auch doppelt prekär, eine Frage zu verfolgen, deren Faszination sich kaum abschütteln lässt, nämlich die Frage, ob ein mehr als nur gelegentlicher (und dann natürlich nur “zufällig” zu nennender) Zusammenhang zwischen außerordentlichen körperlichen Beeinträchtigungen (Behinderungen) und außerordentlichen geistigen Möglichkeiten oder Leistungen (Genie) bestehen könnte. Dass auch auf dieser komplexeren Ebene der Reflex politischer Korrektheit das Denken noch vor dem Abheben unterbrechen kann und will, versteht sich – und macht den Frage-Impuls umso nur attraktiver. Denn die Fälle solcher Verbindungen zwischen Behinderung und Genie sind zu zahlreich, zu herausragend und zu vielgestaltig, um auf Dauer unter Reflexion-Verschluss gehalten werden zu können.
Für besonders bemerkenswert halte ich in dieser Hinsicht die Biographien von Miguel de Cervantes und Francisco de Goya, den beiden beiden wirklich genialsten Protagonisten der spanischen Kulturgeschichte. Lang vor dem Beginn seiner Karriere als literarischer Autor bestand der vierundzwanzigjährige Cervantes am 7. Oktober 1571 darauf, trotz Krankheit auf dem Deck eines Schiffs an der Seeschlacht von Lepanto teilnehmen zu dürfen – und blieb lebenslang stolz darauf, dass an diesem für ihn patriotischen Tag sein linker Arm durch ein feindliches Geschoss zerstört worden war. Tatsächlich sah er seine Verletzung als einen Grund für seine literarische Aura an (“die linke Hand verlor ihre Bewegung, um dem Ruhm der Rechten zu begründen,” schrieb er viele Jahre später). Goya hingegen war bereits ein prominenter Maler, als eine Krankheit, über die er sich in seinem langen Leben nie äußern sollte, an der Wende zwischen den Jahren 1792 und 1793 zur völligen Taubheit führte — welche in seiner Kunst offenbar die berühmten Töne existentieller Depression inspirierte und mithin Goyas singuläre Größe ausmachte. Sein deutscher Zeitgenosse, der große Naturphilosoph und Aphorismen-Schreiber Georg Christoph Lichtenberg, war mit einer Wirbelsäulenverkrümmung geboren, die seine Körpergröße auf zwergenhaftes Maß beschränkte und über eine Missbildung der Brust permanente Atembeschwerden auslöste. Unter einem ähnlichen Schicksal litt der erst jüngst in seiner wirkkichen intellektuellen Bedeutung entdeckte amerikanische Essayist Randolph Bourne, dessen Gesicht durch eine Geburtszange entstellt war, der mit vier Jahren eine sein Skelett zersetzende Rückenmarkserkrankung überlebte und 1918 – viel jünger als etwa Lichtenberg – mit zweiunddreißig Jahren starb.
Gewiss, die Unterschiede zwischen diesen – und sovielen anderen – Lebensgeschichten von Genies sind erheblich genug, um einen Vorbehalt gegen jede Art von verallgemeinernden Beobachtungen zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite macht eine noch viel radikalere Verallgemeinerung, welche über den ausschließlich körperlichen Status der Behinderung hinausgeht, moralische Verschreibungen jenes mittleren Tons greifbar, auf den sich der “Lebenshilfe”-Hunger unserer Gegenwart so gerne stürzt – und erntet dafür nie Kritik. Sind außergewöhnliche Leistungen, so könnte man diese allgemein akzeptierte Verallgemeinerung beschreiben, überhaupt anders vorstellbar denn als ausgleichende, kompensatorische Reaktionen auf individuelle Traumata, vor allem auf Traumata der Psyche (so ist allgemein-Freudianisch schon immer unterstellt)?
Die Frage mündet direkt und unvermeidlich in einem Pan-Traumatismus, anders gesagt: in die selten ausgesprochene aber alltäglich durchaus wirksame Prämisse, dass alle besonderen menschlichen Leistungen, alle Fehlleistungen und selbst jegliches prononciert normale Verhalten, alles eben, menschliches Leben schlechthin, als Folge von Traumata zu erklären sein soll. Wohl in vorwegnehmend kritischer Reaktion auf diese intellektuell fatale Konsequenz hat Randolph Bourne in einem seiner ersten veröffentlichten Aufsätze (unter dem Titel “The Handicapped”) den Zusammenhang zwischen der eigenen körperlichen Behinderung und seinen Leistungen als beginnender philosophischer Autor aus einer differenzierten Innenperspektive analysiert.
Vor allem habe er sich verboten, schrieb Bourne 1911, sein Leben als beständige “Kompensation” oder gar als “ein Tal der Tränen” zu erleben: “Granting all the circumstances, admitting all my disabilities, I want too to ‘warm both hands before the fire of life.’ What satisfactions I have, and they are many and precious, I do not want to look on as compensations, but as positive goods.” Die in jeder Hinsicht entscheidende Besonderheit seines behinderten Lebens liege nicht in singulären Ereignissen von Frustration oder dramatischer Limitierung, sondern in der ihn nie verlassenden, “unbequemen und ärgerlichen” Bedingung, das Leben und die Umwelt “von einer um einen Fuß niedrigeren Ebene aus” verfolgen zu müssen. Deshalb habe er als Kind immer jene stärker Behinderten beneidet, die ganz auf Distanz zum Alltag der Mehrheit hätten leben dürfen, während er selbst mit “der Zwischenlage” des beständigen Abstands von der Normalebene der Weltwahrnehmung als permanenter Zurücksetzung seines Stolzes gelebt habe. Trotzdem überhaupt erwachsen geworden zu sein, werde er immer als größte Leistung seines Lebens ansehen. Sie erst habe es ihm ermöglicht, die Existenz “als Arena,” als eine beständige Auseinandersetzung unter intellektuell Gleichen zu erleben. An seinen in beständigem Umbruch stehenden Ideen und Meinungen aber halte er bewusster fest als andere, weil vor allem sie für ihn – eben entscheidender als für nicht-Behinderte – Bedingung und Voraussetzung eines Lebens in Gleichheit seien.
Eine bündige, quasi “mathematische” Lösung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Behinderung und Genie, das ist inzwischen klar geworden, wird es nie geben, denn unter jeder empirischen Perspektive entgleitet uns das Problem beständig – und wohl unvermeidlich. Aber Randolph Bournes Innnen-Überlegung gibt so etwas wie eine Matrix zur Ableitung von individuell zutreffenden Antworten ab. Für einen körperlich behinderten Menschen bieten intellektuelle Leistungen die Möglichkeit, sich in einer selbst konstituierten (man muss wohl unter gegenwärtigen Sozialstatus-Bedingungen hinzufügen: nicht einfach politisch garantierten) Gleichheit zu halten – und darin liegt eine existentielle Prämisse, welche wirklich außergewöhnlichen Leistungen die Unwahrscheinlichkeit nimmt.
Doch vielleicht kann uns die strikter gegenwärtige Faszination der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Behinderung und Genie in eine ganz andere Richtung führen, in eine Richtung weit entfernt von jener Gleichheit, an der als durch intellektuelle Leistungen ermöglichte Prämisse Bourne soviel lag. “Beinahe Gleichheit” (im Sinn von Bourne: Gleichheit trotz einer unaufhebbaren Ebenen-Differenz von einem Fuß) — das war die Perspektive, unter der wir Nicht-Behinderten bis ins frühe einundzwanzigste Jahrhundert die “Special Olympics” und alle anderen Sportveranstaltungen für Behinderte, verfolgt haben. Anzuerkennen, dass man auch mit einer Bein-Prothese schnell laufen und auch aus einem Rollstuhl einen Basketball sicher schießen konnte, dieses “Auch” der beinahe-Gleichheit war uns allemal eine oder zwei Stunden angestrengt ethisch motivierten Zuschauens bei den Special Olympics wert – wobei die Zahl der so motivierten Zuschauer nur selten das Niveau deutschen Drittliga-Fußballs überschritt.
Seit den Special Olympics von London aber kann Behinderten-Sport mit einem Mal Stadien füllen, was anzuzeigen scheint, dass wir uns zunehmend für die sportliche Leistungen als Leistungen unter anderen Bedingungen und vor allem im Rahmen einer anderen Ästhetik interessieren, als gar nicht mehr Gleichheits-orientierte Leistungen in ihrer eigenen, gleichsam “originellen” Art – oder gelehrt formuliert: im Sinn einer eher romantischen denn klassizistischen Ästhetik. Die bisher ganz auf Gleichheit im Sinn der Ausblendung möglichst vieler Ungleichheiten konzentrierte politische Korrektheit hat diese Verschiebung noch nicht nachvollzogen – wird ihr aber sicher demnächst den Segen ihrer moralischen Billigung geben.
Interessanter und für die Zukunft vielleicht entscheidend könnte aber eine ganz andere Konvergenz werden. Die am meisten bewunderten Protagonisten unserer allerjüngsten Gegenwart scheinen nicht mehr die Nobelpeis-gekrönten Entdecker ungeahnter Einsichten oder die Erfinder neuer Apparaturen zu sein, sondern jene Zeitgenossen, die – wie Steve Jobs in so eminenter Weise, aber auch wie alle wahrhaft großen Sportler (niemand wohl deutlicher in diesen Tagen als der Basketball-Spieler Stephen Curry) – vor allem neue räumliche Beziehungen zwischen schon längst zur Verfügung stehenden Gegenständen und unseren Körpern entwickeln. Dieses “Entwickeln” vollzieht sich offenbar effizienter im gelassenen Begleiten einer nicht vorhersehbaren Emergenz (in einem nicht selbstgesteuerten Prozess) als in den Sprüngen großspuriger Innovationsansprüche.
Wahrscheinlich lässt sich keine produktivere Prämisse für die Emergenz wirklich neuer Beziehungen zwischen den Dingen der Welt und unserer Körpern vorstellen als eben eine Behinderung – und diese Vermutung scheint mit der neuen Faszination der Special Olympics zu konvergieren. Vielleicht stehen wir also erst am Beginn der Entfaltung eines noch kaum bekannten Zusammenhangs zwischen Behinderung und Genie – eines Zusammenhangs im romantischen Sinn eben.