Ein großzügig und mit erstaunlich gelassener Eleganz von einem Unternehmen der elektronischen Branche organisierter Abend im Berliner Einstein-Stammhaus: etwa sechzig geladene Gäste aus verschiedenen Bundes-Ministerien, aber auch von den Universitäten und “Medien” hören mit freundlicher Geduld der von einem ausländischen Intellektuellen vorgestellten Gegenwarts-Diagnose “auf historischer Grundlage” zu und stellen dann meist gebildete Fragen. Erstaunlich ist vor allem, dass niemand in diesen offenbar entspannten und konzentrierten Stunden eine Denk-Provokation zum Thema der “Migranten-Ströme” aufgreift, das Deutschland derzeit so nachhaltig beschäftigt – und bedrückt.
Die Überlegung setzte ein bei der millionenfachen physischen Bewegung aus dem Raum des sogenannten “mittleren Ostens” — und zwar unter anthropologischer Perspektive, genauer in den kontrapunktisch verschiedenen zwei Bedeutungen dieses Worts: aus einer Perspektive bewusst betonter kultureller Fremdheit (die anglo-amerikanische Tradition von Anthropologie) und aus einem auf geschichtlich konstante Züge menschlichen Verhaltnis fokussierten Blick (der franzöische und deutsche Stil in der Anthropologie). Derzeit wird die Frage nach Gründen und Anlässen der Migranten-Ströme ja fast ausschließlich im Bezug auf bewusste Handlungsmotivationen diskutiert – was zunächst durchaus plausibel erscheint, weil von solchen Motivationen der gesetzlich entscheidende “humanitäre” Status der Migranten in den Ländern ihrer Ankunft abhängen muss. Die Antworten der Migranten selbst und ebenso die Antworten derer, die sich Gedanken über ihre Bewegung machen (müssen), unterscheiden vor allem zwischen wirtschaftlichen und politischen Beweggründen. Sie verlassen die Länder ihrer Herkunft, so die üblichen Vermutungen, wenn die überlebensnotwendige Versorgung prekär und wenn selbst minimale Spielräume individueller Freiheit in bürgerkriegsähnlichen Situation bedrohnt erscheinen. Die subjektive Gültigkeit und objektive Legitimität dieser von den deutschen Behörden festgestellten – und ernst genommenen — Motive will ich keineswegs in Frage stellen.
Doch ich glaube, dass die Konvergenz zwischen einer kaum überraschenden Frage, einer im Alltag beständig unkommentiert vollzogenen Beobachtung und einem die Anthropologie faszinierenden Phänomen den Blick von der inzwischen verhärteten Konzentration auf explizite Handlungsmotive ablenken und wieder produktiver machen könnte. Die Frage heißt, ob es in jener politischen und wirtschaftlichen Region, zu der etwa Syrien gehört, während der vergangenen Jahrzehnte nicht permanent – geographisch sich verschiebende – Krisenherde gab, so dass Migrantenströme, sollte die exklusive Aufmerksamkeit auf Handlungsmotive wirklich greifen, schon seit langem hätten existieren müssen. Die Beobachtung liegt in dem seit dem “arabischen Frühling” existierenden und von kompetenten Arabisten empirisch bestätigten Wissen, dass sich der Gebrauch elektronischer Technologien in jener Welt während der vergangenen Jahre explosionsartig ausgedehnt hat.
Und schließlich können uns Kulturanthropologen und Historiker daran erinnern, wie es in der Vergangenheit immer wieder kollektive Bewegungen gegeben hat, deren Energie die ihren Teilnehmern bewussten Motivationen überschoss. Genau dies war im klassischen Begriff von den “Völkerwanderungen” impliziert – ohne dass wir wegen des evidenten Mangels an Dokumenten und anderen Indizien im Blick auf sie je über mythologisch anmutende Spekulationen hinausgelangen werden. Hinsichtlich der sogenannten “Kreuzüge” aber scheint derzeit genau die Frage unter Historikern der jüngeren Generationen wieder aufzukommen, ob ihre expliziten religiösen Gründe – zumal angesichts permanenter Misserfolge — tatsächlich einen über Jahrhunderte anhaltenden Bewegungsdrang unter europäischen Aristokraten zu erklären vermögen. Aus einem ähnlichen Grund fasziniert mich eine “Coluna Prestes” genannte Episode in der brasilianischen Geschichte. 1925 von den südlichen Bundesstaaten des Landes ausgehend legten mehrere hundert Soldaten (vor allem jüngere Offiziere und Unteroffiziere) einen über fünfundzwanzigtausend Kilometer lang nicht endenden Fußmarsch zurück, der 1927 nach Überschreitung der bolivianischen Grenze — ohne offensichtlichen Anlass — endlich abebbte. Der immer wiederholten programmatischen Aussage ihrer Teilnehmer gemäß sollte die Coluna Prestes den “Geist der Revolution” in allen Teilen Brasiliens verbreiten – doch längst gilt unter den Kennern jener historischen Zeit in Südamerika als ausgemacht, dass die Nachhalltigkeit der entfalteten Bewegungs-Energie durch den Verweis auf diese bewusste Motivation nicht hinreichend zu erklären ist.
Es könnte also die heutige, bisher auf politische und wirtschaftliche Gründe begrenzte Diskussion vielleicht tatsächlich aus ihrer Stagnation lösen, wenn man sich die besonderen kulturellen und wohl weitgehend vorbewussten Voraussetzungen vergegenwärtigt, auf welche elektronische Technologie in der islamischen Welt während des vergangenen Jahrzehnts getroffen sein muss. Einerseits haben diese Dispositive und die von ihnen ermöglichten Kommunikations- und Denkformen entscheidend dazu beigetragen, unsere westliche Alltagswelt von einem Feld der Kontingenz, einem Feld der zur Auswahl stehenden Handlungsmöglichkeiten, das umgeben war von Beständen des nicht veränderlichen “Notwendigen” und des unerreichbaren “Unmöglichen,” in ein Universum der Kontingenz zu verwandeln, wo das “Notwendige” variierbar und selbst das “Unmögliche” machbar erscheint. Andererseits lässt sich der vor-elektronische Alltag der arabischen Welt typologisch (und ohne herablassend-kritische Implikation) als eine wesentlich vom Islam erhaltene “Vormoderne” beschreiben, das heißt als eine Welt, in der menschliche Existenz auf ein weitgehend alternativenloses Ensemble von Verhaltensformen festgelegt war.
Wo sich am Horizont und sehr schnell im Zentrum eines solchen vormodernen Alltags der Gewissheiten jene Technologie ausbreitete, welche universale Machbarkeit in Aussicht stellt, muss kollektive Unruhe in zwei ganz verschiedenen Dimensionen entstanden sein. Zum ersten in einer nicht endenden Flut von vagen Vorstellungsbildern möglichen Lebens, die aus subjektiver und kollektiver Perspektive alle traditionellen Gewissheiten in Frage gestellt haben muss und so prekär werden ließ. Zum zweiten aber auch in einer physischen Unruhe, die zu Impulsen physischer Bewegung führt — und über sie aus-agiert werden muss. So gesehen war der arabische Frühling eine Sequenz von elektronisch koordinierten lokalen Manifestationen kollektiver Körper, welche die im Westen geweckten Hoffnungen auf langfristige politische Veränderung enttäuschen mussten, weil sie nicht von Programmen und Zielen, sondern eben von vagen Vorstellungen eines anderen Lebens initiert waren. Und im selben Sinn wirkt es wie eine ironische Bestätigung dieser Hypothese, wenn so oft am – vorläufigen (Berliner) – Ende individueller Migrationsbewegungen das Selfie mit deutschen Politikern, bevorzugt mit der Kanzlerin steht.
Wie gesagt, diese These nimmt weder den Hoffnungen und Ansprüchen der Migranten ihre moralische Legitimität, noch macht sie die Antworten auf allzu stereotypische Fragen nach der Motivation ihrer Bewegung zu Lügen. Denn man muss ja davon ausgehen, dass die Migranten selbst selbst jene Konstellation nicht durchschauen, aus der die Impulse ihrer Bewegung hervorgegangen sein könnten. Eine “kulturkritische” Mentalität mag sie inzwischen sogar zu Opfern der westlichen Technologie stilisieren. Aber damit ist im Hinblick auf die Folgelasten der Migration und auf die zugleich riskante und eindrucksvoll schöne Offenheit, mit der die deutsche Politik und große Teile der deutschen Gesellschaft auf sie reagiert haben, kaum etwas gewonnen. Als entscheidend könnte sich hingegen die Bemühung herausstellen, jene vagen, vor allem physische Unruhe erzeugenden Vorstellungshorizonte der unbegrenzten Möglichkeiten in konkrete (und realistische) Projekte eines neuen Lebens zu überführen. Anders formuliert: Institutionen der Umerziehung (eine ganz andere Form der “re-education”) von energiegeladenen Horizonten der vagen Hoffnung zu lokal spezifischen und lokal möglichen Formen der Existenz muss auf den Weg kommen. Dass Konkretheit als ihr Fluchtpunkt zu Prozessen der Ernüchterung und sogar Enttäuschung führen wird, ist nicht nur ein unvermeidilicher Preis – sondern sollte als mittelfristiges Ziel angenommen werden.