Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Literatur und Tod

Die Worte “Literatur” und “Tod” links und rechts von einem “und” nebeneinander zu stellen, das scheint eine Übung in der banalsten aller literaturkritischen Gattungen anzukündigen, nämlich eine mehr oder wenig geistreich kommentierte Zusammenstellung von Textbeispielen für die “Darstellung eines Phänomens,” hier: des Todes, “in der Literatur.” Aber darum soll es nicht gehen, weil eine solche Sammlung bestenfalls jene Geschichtlichkeit in der Erfahrung des Todes illustrieren könnte, welche Historiker während der vergangenen Jahrzehnte mit prägnanten Ergebnissen beinahe flächendeckend – zumindest innerhalb der westlichen Kulturen – aufgearbeitet haben.

Was mich hingegen seit langem fasziniert, ist eine Intuition zur Beziehung von “Tod” und “Literatur” als Konstitutions-Verhältnis, kompakt erklärt: der Gedanke, dass in der Erfahrung des Todes eine Quelle der literarischen Imagination liegen könnte. Um diese Idee plausibel zu machen, verschiebe ich den Begriff der “Literatur” hin zum Begriff der “Imagination” als primärer Substanz literarischer Texte (für Autoren ebenso wie für Leser) und konzentriere mich im breiten Horizont der verschiedenen Todes-Begriffe auf den Begriff der Antizipation des eigenen Todes (des Todes in “seiner Jemeinigkeit,” wie Martin Heidegger sagte).

Sein eigenes Ende scheint dem individuellen Bewusstsein aber nicht in voller Komplexität zugänglich zu sein – und zwar möglicherweise auf Grund einer strukturellen Asymmetrie. Edmund Husserl hat die Zeit als “Form des Bewusstseins” definiert, weil er davon ausging, dass im Fließen (im “Strom”) des Bewusstseins jeder gegenwärtige Moment umgeben ist von “Protention” und “Retention,” von Sekundenbruchteilen des Vorwegnehmens und des Nachhallens. Den Tod als Ende des Bewusstseins muss man dann als eine Gegenwart beschreiben, die keine Protention mehr hat — oder als Protention, die sich nicht mehr in einer Gegenwart erfüllt. Diese beiden Formen eines Endes aber scheinen dem Bewusstsein in der dreigliedrigen Bewegung seines Fließens nicht nachvollziehbar zu sein. Heideggers berühmte Analyse des individuellen Todes als “Jemeinigkeit” (aus dem 1926 geschriebenen Buch “Sein und Zeit”) besetzt die Stelle der nicht mehr zustande kommenden oder nicht mehr in einer Gegenwart sich erfüllenden Protention mit dem Begriff des “Nichts.” Entgegen allen kulturellen Projektionen von einem “Leben nach dem Tod” müssen wir hinnehmen, schreibt Heidegger, dass aus der Perspektive unseres individuellen Bewusstseins die Welt nach dem Tod nicht existiert – bestenfalls eine Antizipation ist, die nie zur Wirklichkeit wird. Nach Heidegger reagieren wir auf dieses Nichts, falls wir uns seinem Erleben nicht durch “Gerede” verschließen, mit intensiver Angst.

Mein Gedanke von einem Konstitutions-Verhältnis zwischen Tod und Literatur setzt mit der Vermutung ein, dass die Unfähigkeit des Bewusstseins, sein eigenes Ende zu erfassen, neben solcher Angst auch eine Aktivität der Imagination auslösen könnte. Die Vermutung konvergiert mit einem Element der Imaginations-Theorie, nach dem Imagination nur durch Außen-Impulse in Bewegung kommt (der spezifische Impuls läge hier darin, das Ende des eigenen Bewusstseins imaginieren zu wollen, weil es sich selbst selbst über die Struktur seiner Zeitlichkeit nicht zugänglich ist). Daneben hat die philosophische Tradition Imagination immer wieder als “Inhalts-Substanz” beschrieben, das heißt als einen primären Inhalt des Bewusstseins, der zum Beispiel unsere Träume erfüllt, ohne noch durch die Filter von Begriffen in eine Form geprägt worden zu sein. Imagination, das sind vage umschriebene und intern bewegliche Bilder, ausgelöst von Sinneswahrnehmungen und mit unmittelbarer Wirkung auf unsere Körper (wie sie uns allen aus erotischen Tagträumen vertraut ist).

Aus dieser Perspektive kommt der Intuition eine gewisse Plausibiität zu, dass der Gedanke an den eigenen Tod (als Ende des Bewusstseins) eine besonders intensive Aktivität der Imagination auslösen könnte. Im strikten Sinn “empirisch” lässt sie sich aber nicht überprüfen, weil uns erstens die Imagination und ihre Produkte über Texte nie direkt zugänglich sind (literarische Texte sind Artikulationen von durch Begriffe gefilterter Imagination), und weil zweitens literarische Texte zwar gefilterte Produkte der Imagination zugänglich machen, aber nicht notwendig auch jene Wahrnehmungen oder Erlebnisse, welche die Aktivität der Imagination allererst auslösen. Was nun die wirkliche Leseerfahrung angeht, so kann man immerhin damit rechnen, dass sich verschiedene Korrelationen ausmachen lassen zwischen je verschiedenen Perspektiven, aus denen der Tod in literarischen Texten zur Sprache kommt, und jeweiligen Intensitätsgraden (Spuren) von Imaginationsaktivität.

Als ich nach Jahren des Nachdenkens über diesen Zusammenhang und einer besonders intensiven Vorbereitung im vergangenen Herbst endlich ein Seminar zum Thema “Literatur und Tod” für fortgeschrittene Studenten ankündigte, war ich überrascht – und natürlich auch erfreut – über das außergewöhnlich breite und von Beginn an leidenschaftliche Interesse, das dieser Kurs fand. Die zweite Überraschung, die Überraschung der ersten Trimesterwochen, war zunächst weniger willkommen. Denn bei der Arbeit an literarischen Texten aus verschiedenen Epochen und Kulturen stellte sich bald heraus, dass die auf der Theorie-Ebene so plausible These vom Konstitutionsverhältnis zwischen Tod (Erlebnis des Todes in Jemeinigkeit) und Literatur (Imaginations-Aktivität) kaum textuelle Bestätigung fand. Im Gegenteil, wo immer wir von Protagonisten lasen oder textinternen Erzählern folgten, die bemüht waren, ihren eigenen Tod im Bewusstsein vorwegzunehmen, schien die thematische Bandbreite der Texte abzunehmen und die Farbigkeit ihrer Beschreibungen zu verblassen, um sich der Tonlage philosophischer Überlegungen anzunähern.

Andererseits aber legte sehr bald schon die “Ilias,” der älteste Text auf unserem Seminarprogramm, den Eindruck nahe, dass die Vorwegnahme des Todes in der Vorstellung eines Leichnams oft die Funktion eines intensiven Imaginations-Katalysators hat. Vor seinem Zweikampf mit Achilles sind Hektor und die königlichen Eltern (viel weniger anscheinend seine Frau Andromache) besessen von der Furcht, sein toter Körper könne zum Fraß “der Hunde und Vögel” werden. In diesem buchstäblich metabolischen Bild geht Kultur in Natur über, denn tatsächlich wird ja hier der Held Trojas zum Futter der Tiere. Die Drohung eines solchen kategorialen Uebergangs als Implosion von Kultur beeindruckt Homers Protagonisten mehr noch als die Schändung von Hektors Leichnam, wie er gebunden an den Streitwagen des Achilles durch den Sand gezogen wird. Denn dieses Extrem von Grausamkeit und Erniedrigung verbleibt ja durchaus im Rahmen der Kultur.

Auch in der Tragödie des Sophokles ist das Handeln Antigones von dem drohenden Wissen bestimmt, dass der nicht beerdigte Leichnam ihres Bruders schutzlos den “Hunden und Vögeln” ausgesetzt ist. Um das Wirklichwerden dieses Alptraums zu verhindern, opfert sie ohne Zögern das eigene Leben — und verachtet ihre Schwester, welche diesen Schluss nicht mit derselben Geradlinigkeit vollzieht. Deutlicher noch als bei Homer dehnt sich Antigones Horror-Vision auch auf andere Passagen des Tragödientexts aus. Vögel bedrohen dort nicht allein den Helden-Leichnam, sondern werden auch zu Sinnbildern für Situationen des Beobachtens und Erinnerns.

Diese textuelle und kulturelle Energie, welche Bilder von toten Körpern auslösen, hat – einmal entdeckt – ihre besondere Faszination. Denn wie sich schon in der ”Antigone” abzeichnet, bleibt die Dynamik nicht festgelegt auf eine bestimmte Konstellation von Themen und durch sie provozierten Gefühlen. Mit den christlichen Evangelien wird sie tatsächlich zum lebendigen Fundament der westlichen Kultur. Denn indem Gottes Sohn, den körperlichen Tod vorwegnehmend, beim letzten Abendmahl sein Fleisch und sein Blut den Jüngern zur Speise und zum Trank bietet, kehrt er das metabolische Motiv vom Kollaps der menschlichen Kultur in Natur um. Statt den Tieren zum Fraß zu werden, statt in Natur überzugehen, veranlassen das Fleisch und das Blut des Gottessohnes als Speise und Trank gerade eine Erhebung im Leben der Jünger, weil sie die Jünger (als Theophagen, als Gottes-Esser) an Gottes Sein teilhaben lassen.

In dieser Szene und in dem aus ihr hervorgehenden Sakrament erreichte die Vorstellung des Leichnams – für Jahrtausende unumkehrbar – einen neuen Status. Bis heute gehört er, in paradoxaler Weise, zur Präsenz der von aller Erdenschwere erlösten Freiheit des Geistes. Nirgends vielleicht mit mehr berückender, ja aggressiver Intensität als in Matthias Grünewalds so gnadenlos physischer Vergegenwärtigung des gekreuzigten Leibs Christi. Aber auch als der Geist von Hamlets Vater seinem Sohn erscheint, um den Prozess der Rache für seine Ermordung auf den Weg zu bringen, löst diese geistige und geisterhafte Präsenz Bilder von den verfallenden Spuren eines körperlichen Lebens aus. Und der doppelte Selbstmord von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist war nicht einfach eine Befreiung von der Schwere des Körpers, sondern in der sorgsam geplanten Choreographie der beiden Leichen eine Bedingung für ihre Erhebung “wie in einer Montgolfière,” von der die Sterbenden in ihrer “Todeslitanei” träumten, in Briefen ekstatischer Zuwendung, Stunden vor dem Tod geschrieben.

Der Ursprungs-Gedanke vom konstitutiven Zusammenhang zwischen Tod und Imagination hat also einerseits – in überraschender Stärke und Komplexität – eine fundamentale Lebens-Schicht der westlichen Kultur ins Licht gerückt; aber andererseits hat die aufgedeckte Dynamik jene detaillierte These widerlegt (Zusammenhang zwischen Imagination und Tod aus der Perspektive der “Jemeinigkeit”), ja tatsächlich umgekehrt, mit der ich versucht hatte, der primaeren Intuition philosophische Plausibilität zu geben. Bleibt die Frage, wie sich erklären lässt, was wir an verschiedenen literarischen Texten und historischen Konstellationen beobachtet haben, nämlich einen konstitutiven Zusammenhang zwischen Bildern vom menschlichen Leichnam und der Dynamik der Imagination.

Die Zeit unseres Seminars reichte gerade für zwei erste Antworten. Zum einen hatten die historischen Materialien in ihrer Konvergenz eine keinesfalls neue Schicht der Imaginationstheorie in der Vordergrund unserer Diskussionen gerückt. Als Inhalts-Substanz können Bilder der Imagination einen direkten Einfluss auf unsere Körper haben, solange sie nicht durch Begriffe gefiltert oder stabilisíert sind (oder solange Begriffe selbst – unter den besonderen Situations-Bedingungen der Fiktion – Bilder im Bewusstsein der Leser auslösen). Daraus folgt zwar nicht notwendig, dass umgekehrt bestimmte Bilder, etwa Bilder von gestorbenen Körpern, eine besondere Intensität der Imaginations-Aktivität abrufen — doch zumindest ist ein erster, weiter zu entwickelnder Zusammenhang der Assoziation hergestellt.

Die andere Erklärung für unser Seminar-Ergebnis setzt ein bei der nun widerlegten These eines Zusammenhangs zwischen Todesantizipationen unter der Perspektive von Jemeinigkeit und der Imaginations-Aktivität. Solange wir unsere Gedanken auf der Reflexions-Schiene der Jemeinigkeit bewegen, verfolgen wir mit unserem Bewusstsein das Bewusstsein in seiner Annährung an den Tod, verhalten uns also selbstrefelexiv – und verbleiben in ein und derselben Dimension unserer mentalen Fähigkeiten. Hingegen provozieren etwa einschlägige Passagen aus der “Ilias” die Möglichkeit eines abstrakten Nachdenkens über farbige Bilder der Imagination (erschließen also zwei voneinander verschiedene Dimensionen) – und letztlich auch über Bilder der Imagination, welche Gegenständen in der Wirklichkeit entsprechen.

Solche Mehrfach-Dimensionalität steht offenbar in einem positiven Verhältnis zur Dreidimensionalität der lebenden, sterbenden und gestorbenen Körper – als einem Teil der dreidimensionalen Wirklichkeit unseres Alltags. Vielleicht muss man etwas Erfahrung als Geisteswissenschaftler haben, um die Komplexität solcher Zusammenhänge zu beschreiben. Verkörpern und erleben kann man sie aber am besten als neugieriger Laie, als Laie, der bereit ist, sich auf die Impulse der Imagination einzulassen.