Von “Freiheit” ist heute eigentlich nur noch in Nationalhymnen die Rede – und die werden, falls man ihren Texten überhaupt Aufmerksamkeit schenkt, ja eher gesungen als gesprochen (oder gelesen). Wie verschieden dies dann in verschiedenen nationalen Kontexten aussehen kann, ließe sich leicht und fast schon “systematisch” anhand von Nationalmannschaften im Sport illustrieren. Athleten aus Südamerika schmettern ihre besonders strophenreichen Hymnen mit einer Hingabe, welche zu suggerieren scheint, die heorischen Werte von Freiheit und Unabhängigkeit seien von ihnen noch in unmittelbarer Zukunft zu erobern. Franzosen, Engländer oder Amerikaner hingegen sehen beim Hymnen-Singen eher wie säkuläre Mönche im Morgengebet aus, ohne eine Spur von Ekstase angesichts der Freiheit ihrer Vaterländer, aber mit angemessenem Ernst und republikanischer Würde. Deutsche Sportler, einmal abgesehen von solchen, die gerade erst Bürger des Landes geworden sind, wie vor Jahren der das Deutschlandlied so überzeugend verkörpernde Stuttgarter Stürmer Cacao, deutsche Sportler wirken in dieser Situation oft, als hätte ihnen eine Autoritätsperson (Oliver Bierhoff?) empfohlen, mit nachdenklicher Miene und verhaltenen Lippenbewegungen die Tiefe des Textes auszuloten, ihr auf den wahren Grund zu gehen. Über “Einigkeit und Recht und Freiheit” soll man in Dankbarkeit nachsinnen, um sich klar machen, wieviel für “das deutsche Vaterland” davon abhängt, nach ihnen “einig mit Herz und Hand zu streben.”
Dieses “Streben” nach Tiefe aber muss die Sportler überfordern. Denn “Freiheit” (“Einigkeit” oder “Recht”) sind ja in ihrem Leben normalerweise nie ein zu einem Problem geworden und deshalb auch nie von Belang gewesen. Trotzdem sollen sie im Namen ihrer immer wieder vergebens in Anspruch genommenen “Vorbildfunktion” so tun, als läge ihnen an diesen Begriffen oder gar an den vagen Gebirgszügen politischer Phantasie, die sich hinter ihnen verbergen mögen. Einiges wäre gewonnen, wenn man heute ohne Tabubruch feststellen dürfte, dass der Nationalhymnen-Diskurs mit seinem Freiheits-Pathos ein Modus von nationaler Selbstfeier war, der nur im neunzehnten Jahrhundert funktionieren konnte. Denn es geht ihm ja primär um jene Freiheit der kollektiven Selbstbestimmung, den die jeweilige national-bürgerliche Klasse damals gerade entweder dem Adel oder einer Kolonialmacht abgerungen hatte — und diese Freiheit des Kollektivs sollte dann als Chance individueller Freiheit und Selbstbestimmung gleichsam verschlankt an die Bürger weitergeleitet werden. In den meisten westlichen Ländern sah man um 1850 die eigene politische und soziale National-Geschichte auf diese beiden Pole von Freiheit als ihren wahren Höhepunkt zulaufen, einen Höhepunkt, der für die sich formierende ideologische Linke dann auch noch mit sozialer und wirtschaftlicher Gleichheit verbunden sein sollte.
Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs war das klassische Opern-Pathos der Freiheit weitgehend verrauscht. Gewiss, verglichen mit dem heutigen Status gab es noch viel zu erreichen, was die Erosion von Situationen wirtschaftlicher Ausbeutung und den gleichen Zugang zu Bildungsmöglichkeiten anging — doch all diese Prozesse waren auf ihren historischen Realisierungsweg eingemündet. So wird verständlich, wie um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Existentialismus eine Philosophie intensive Resonanz finden konnte, die in Freiheit und Unabhängigkeit nicht mehr ein Privileg sah, sondern eine Bedingung des Lebens, zu der man verurteilt war – als Überlast von Komplexität, wie sich heute in der dreißig Jahre später enstandenen Sprache der Systemtheorie sagen lässt.
Zugleich aber liefen bestimmte Befreiungs-Projekte weiter, die nun allerdings auf der symbolisch anspruchsvolleren Ebene von Bildungs-Werten eingeschrieben waren. Zwar ging wohl bald die ohnehin nie große Zahl derer eher zurück, die sich – zeitlich und finanziell – eine klassische Psychoanalye leisten konnten, aber die Kenntnis von freudianischen Pathologie-Beschreibungen (“Ödipus,” “Kastrationsangst,” “passiv-aggressiv”) galt als eine Art Impfung gegen die Gefahren individueller Abhängigkeitsverhältnisse. Und zu jener intellektuellen Stimmung gehörte auch – vor allem im Rückblick auf die Zwischenkriegszeit als die große Epoche der Ideologien – eine neue “Wachsamkeit” gegenüber der Vereinnahmung durch alle möglichen politischen Denksysteme.
Da die bürgerliche Gesellschaft, in der als politischer Form heute eine überwältigend große Zahl unserer Zeitgenossen, vielleicht sogar ihre Mehrheit lebt, ja tatsächlich aus Prozessen kollektiver und individueller Befreiung hervorgegangenen ist, wird das entsprechende Pathos vielleicht nie ganz verklingen. Klagen allen möglichen Ursprungs artikuliert man immer noch gerne als Klagen über Freiheitseinschränkungen, zum Beispiel im Blick auf das Verhältnis zwischen den Nationen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, die sich – glaube ich – in der Sphäre internationaler Politik noch nie wie eine klassische Kolonialmacht verhalten haben. Hat also die Freiheit in den westlichen Gesellschaften keine Zukunft mehr, weil dort das Potential der spezifisch bürgerlichen Freiheiten bis zum Maximum realisiert hat — und also ausgeschöpft ist?
Vielleicht beginnen sich heute zwei Entwicklungen abzuzeichen, die einerseits beide in einer Diskontinuität zu der immer noch von den Nationalhymnen heraufbeschworenen Freiheit stehen – und andererseits in ihrem wechselseitigen Verhältnis zugleich als gegenläufig und komplementär beschrieben werden können. Zum weltweit verschrieenen und moralisch verurteilten “Neoliberalismus” unserer Gegenwart gehört eine Tendenz der Minimierung von staatlichen Strukturen und ihrer Interventionen zugunsten des heute “libertär” genannten Anwachsens individueller Bewegungsspielräume. Karl Marx hat dieses Syndrom schon vor gut eineinhalb Jahrhunderten als typisch für die amerikanische Gesellschaft identifiziert und gegenüber dem europäischen Anwachsen des Staates dadurch erklärt, dass der bürgerliche Staat in Amerika nie das gefeierte Ergebnis einer innenpolitschen Eroberung war — und deshalb nie wie in Europa geschätzt wurde. Vielleicht besteht also auch heute wieder ein Zusammenhang zwischen dem endgültigen Verhallen des Freiheitspathos aus den Nationalhymnen und gewissen, sich selbst in Europa abzeichnenden libertären Tendenzen; vielleicht stehen für die kommenden Jahrzehnte sehr grundlegende Diskussionen an zur bisher wie selbstverständlich hingenommenen Verfügung des Staates über die Wirtschaft via Steuern, zur dominanten Rolle des Staates in der Erziehung – und möglicherweise auch zum Gewaltmonopol des Staates. Die Freiheit des individuellen Lebens von Privilegien des Staates, die so profund waren, dass sie unsichtabar blieben — das könnte ein Thema der Zukunft sein.
Auf der anderen Seite scheint heute aber auch eine Sehnsucht zu existieren, individuelle Freiheitsrechte – und Freiheitslasten – gleichsam an den Staat zurückzugeben oder von nicht-staatlichen Institutionen absorbieren zu lassen. Zum Beispiel hat man in der amerikanischen Philosophie diskutiert, ob der sogenannte “Prozess der Moderne” als “Prozess der Entzauberung der Welt” nicht über das individuell Wünschbare und Tragbare hinausgeschossen ist – und durch gegenläufige Bewegungen “rationaler Wiederverzauberung” korrigiert werden sollte. Schon die in den Vereinigten Staaten seit langem zunehmende Übernahme von gesellschaftlichen Erziehungsfunktionen durch religiöse Institutionen könnte als eine Tendenz in diesem Sinn beschrieben werden. Oder auch eine Ent-Dämonisierung des Begriffs und des Phänomens der “Masse,” innerhalb derer die permanente Verpflichtung zu individuellem Entscheiden und Handeln für Stunden wenigstens – im Stadion, bei einem Konzert oder während einer Papstmesse – ihren Druck verliert. Auf denselben Fluchtpunkt lässt sich wohl auch eine neue Akzeptanz gegenüber dem “Schicksal” als existentieller Dimension oder gar eine Schicksals-Sehnsucht zurechnen. Der heute nicht mehr auschließlich unter Intellektuellen zirkulierende Zeitbegriff des “Anthropozäns” setzt chronologisch ein bei irrversiblen Veränderungen unserer Biosphäre, welche von der Präsenz des Menschen als Gattung verursacht wurden, und führt an die Schwelle einer Zukunft des Planeten “Erde” ohne Gegenwart von Menschen – was von manchen Autoren im Sinn einer zugleich säkulären und transzendentalen Bestrafung inszeniert wird und bei anderen Konnotationen von Trost annimmt.
Nichts könnte auf den ersten Blick gegenläufiger aussehen als libertäre Forderungen nach einem Maximum individueller Freiheit auf der einen und individuelle (ja vielleicht sogar kollektive) Schicksals-Sehnsucht auf der anderen Seite. Der inhaltliche Kontrast zwischen solchen Werten impliziert allerdings nicht mit Notwendigkeit, dass sie als existentielle Haltungen oder Lebensformen zu unaufhebbaren Spannungen führen müssen. Wir leben in einer post-sozialistischen Gegenwart, das heißt unter dem Eindruck der Erfahrung, dass eine auf radikale Gleichheit gegründete Utopie vom besseren menschlichen Leben nicht einmal mit den Instrumenten des Staats-Terrorismus durchzusetzen war. Könnte also vielleicht gerade ein Kontrast zwischen verschiedenen Konzeptionen der Existenz Voraussetzung für ein besseres Zusammenleben sein – wenn dieser Kontrast allgemein bewusst und wechselseitig akzeptiert ist?