Gegen Ende des Buchs mit seinen Lebenserinerungen (eine “Autobiographie” kann man es nicht nennen, weil der Erzahler sympathischerweise zugibt, dass er einen Freund gebeten hat, das Aufschreiben für ihn zu übernehmen), am Ende seiner Erinnerungen berichtet der große spanische Fiim-Regisseur Luis Bunuel (“Le Chien Andaloux,” “Der diskrete Charme der Bourgeosie”), damals ein Mittsiebziger, wie sehr er auf den Tag hofft, wo die Intensität seines erotischen Begehrens nachlassen werde, um dann vielleicht bald ganz zu verschwinden. Beinahe lästig sei es, im fortgeschrittenen Alter noch immer von schönen Körpern mit solcher Intensität angezogen und abgelenkt zu werden, dass man sich nicht auf die tägliche Arbeit konzentrieren könne, abgesehen von der spürbaren Peinlichkeit, welche die eigenen Blicke auslösen.
Wir werden nie definitiv wissen, ob Bunuel an dieser Stelle ehrlich sein wollte. Denn es wäre ja durchaus im Stil und im Sinn eines klassischen Machos gelegen, von der Wachheit seiner Begierde zu reden, um sie wie einen letzten Chip der eigener Verführungskraft ins Roulette-Spiel der Erotik zu werfen. Aber nehmen wir einmal an, Bunuel habe sich tatsächlich nach dem Ende seines Begehrens gesehnt. Was wäre ihm danach geblieben an möglichen Reaktionen auf die Schönheit (und ich setze “Schönheit” in diesem Zusammenhang einfach gleich mit der sexuellen Faszinationskraft von Körpern — was übrigens der Prämisse einiger durchaus ernst zu nehmender Ästhetik-Theorien entspricht)? Wie hätte er mit den ihm verbliebenen Reaktionen umgehen können? Eine prekäre Frage gewiss, die ihre eigene Peinlichkeit hat – und für die es anscheinend kein “protocol” gibt, wie man auf Englisch sagt, keine “Normen des Verhaltens,” wie es etwas kantiger auf Deutsch heißt.
Solange die nie ganz zu steuernde Begierde mit ihren eigenen Energien lebendig ist, gibt es ja einigermaßen stabile Konventionen, an denen man sich orientieren und notfalls sogar festhalten kann. Bewusster Verzicht ist möglich – aus vielen, im Alltag meist guten Gründen. Explizit über das Begehren zu sprechen und über den nächsten Schritt zu seiner Erfüllung, sollte eigentlich ebenso denkbar sein “unter vernünftigen (oder noch schlimmer: unter emanzipierten) Erwachsenen,” ist aber bis heute exzentrisch oder sogar anstößig geblieben. Also zeigt man sein Begehren, ohne darüber zu reden, investiert Zeit ohne Klage, bleibt geduldig fast ohne Ende und macht sich besser bald klar, dass hier kaum etwas zu bestimmen ist. Die älteste und universalste aller sozialen Konventionen mag dies sein, alt genug jedenfalls, um sie “ehrwürdig” zu nennen — und jene soziale Konvention auch, für die wir, gerade weil sie Sprache ausschließt oder wenigstens an den Rand rückt, einen unendlichen Vorrat von Bildern, vor allem Metaphern aus nicht-menschlichen Formen des Verhaltens haben.
Doch darum, um das Leben mit dem aktiven Begehren, sollte es ja gerade nicht gehen, sondern um die Frage, was Bunuel – zum Beispiel — nach dem Ende seiner Libido geblieben wäre. Ob überhaupt eine Antwort existieren kann, die nicht am Ende die erwartbar banale Entschuldigung und Ausrede braucht, all dies sei höchst subjektiv (und ohnehin privat), ist nicht sofort klar. Wie Bunuel würde ich jedenfalls gleich für mich in Anspruch nehmen, so weit noch gar nicht gekommen zu sein. Und derart von unmittelbarem Leistungsdruck und potenzieller Peinlichkeit entlastet stelle ich mir vor, dass wir wohl auch nach dem Ende des Begehrens auf die Präsenz von schönen Körpern mit dem Wunsch reagieren werden, mit dem dann angenehm warmen, aber nie brennenden Wunsch, in ihrer räumlich spürbaren Nähe zu sein und zu bleiben, für sie da zu sein, zu ihrem Leben zu gehören (Joaquim Machado de Assis, der große Klassiker der brasilianischen Literatur, hat diesem Gefühl eines alten Mannes seinen wunderbaren letzten Roman gewidmet — den man unter dem Titel “Tagebuch des Abschieds” in deutscher Übersetzung lesen kann).
Selbst von diesem herbstlich-milden Affekt zu sprechen (unmöglich, das erwartbare Bild von der Jahreszeit hier zu vermeiden), fällt uns heute allerdings schwer, während dieselbe Stimmung um 1900, am Ende des Lebens von Machado de Assis, durchaus ein Konversationsthema für die “gehobenen Stände” war. Mittlerweile scheitert das Thema an Konventionen, die viel jünger sind als jene, mit denen wir unser Begehren ins soziale Leben übertragen, solange es noch drängend und kaum zu kontrollieren ist. Von “bloßer Schönheit,” hören und lesen wir in unserer politisch korrekten Gegenwart, soll nicht einmal der explizite oder wenigstens sichtbare Wunsch abhängen dürfen, mit der schönen Person mehr Zeit als mit anderen zu verbringen, ihr etwa einen Gefallen oder eine Freude zu tun. Als “bloß” schön soll diese Person (Mann oder Frau) gelten, weil man Schönheit als einen Zufall ansehen will, als ein Geschenk, das man nicht verdienen oder erreichen kann — was bedeutet, dass Schönheit prinzipiell nicht zu einer relevanten Dimension in einer Gesellschaft werden darf, die bedingungsslos auf Gleichheit (“Gleichheit der Chancen oder Möglichkeiten”) setzt.
Denn der individuelle Wunsch, einem schönen Menschen nahe zu sein, wird in der Gleichheitswelt zur potenziellen Beleidigung all derer, die nicht glauben, selbst Gegenstand eines solchen Wunsches werden zu können. Hinzu kommt die ja tatsächlich bestehende Tradition, vor allem Frauen mit dem Geschenk der Schönheit zu assoziieren, welche dann als ein Habitus in Konflikt mit der über-individuellen Forderung nach der Gleichheit der Geschlechter tritt. Es ware tatsächlich ungerecht, zu unterstellen, dass sich vor allem Frauen auf das Geschenk der Schönheit verlassen müssen, statt sich durch eigene Leistungen besondere Verdienste und über besondere Verdienste einen sozialen Status erwerben zu können.
An einen in die Jahre gekommenen Kollegen an meiner Universität erinnere ich mich, der auf Dauer von bestimmten Funktionsrollen ausgeschlossen wurde, weil die Hand eines über-wachsamen Beobachters (oder sollte es eine über-wachsame Beobachterin gewesen sein?) auf einer Seite seiner Personalakte festhielt, dass er in einer öffentlichen Situation (und im Nebensatz) seine eigene Frau und die Frau eines Kollegen “schön” genannt hatte. “Uses language offensive to women,” lautete der Eintrag und unterstellte zweierlei. Erstens: Frauen vergleichen sich immer und unter besonders intensiver affektiver Beteiligung mit anderen Frauen; zweitens (und wie es Peter Sloterdijk in seinem Buch “Zorn und Zeit” beschrieben hat): Frauen rechnen auf moralischen Konten die ihnen zugefügten Beleidigungen (“offenses”) ab, welche ihnen dann – bei hohem Kontostand – eine besondere Aura geben, genauer die moralische Aura des “Opfers.”
Gibt es im Leben nach der Libido ein Entkommen aus der sauerstoffarmen Enge solcher Gleichheitsimpulse, die meist eine Ursprungsberechtigung hatten – und sie natürlich nie ganz verlieren werden? Bemerkenswert absurd ist ja, wie weit ihre Abstraktheit fortgeschritten ist: sie hebt den Unterschied zwischen vitalem (und potenziell aggressivem) Begehren und freundlichen Wünschen der Nähe nach dem Ende der Libido restlos auf. Am Ende findet sich der Bunuel-alte Mann (und ich weiß nicht, ob es anders wäre bei einer Frau im gleichen Alter), am Ende findet man sich auf eine mögliche Verhaltens-Form verwiesen, die dem “Protokoll” des Umgehens mit aktivem Begehren gleicht. Ich kann und soll auch gegenüber einer Person, deren Schönheit mich bloß erwärmt, nicht explizit von dem Wunsch sprechen, in ihrer Nähe zu sein. Bleibt also wieder der Verzicht, der so spät im Leben eher zum Teil eines Halos aus Melancholie wird (das genau erzählt und beschreibt der Roman von Machado de Assis) — als zum deutlichen Profil einer schweren, aber richtigen Entscheidung.
Oder es stellt sich jene Kommunikation ein, die auch im Alter ihre nicht zu Wort kommenden Absichten verdeckt, so dass sich – im besten Fall – eine Nähe zu der schönen Person “wie zufällig” einstellt, ohne wirklich zufällig zu sein. Für solche Strategien des Wünschens, die “wie zufällig” wirken, gibt es (seit fünfhundert Jahren schon) das elegante italienische Wort “sprezzatura.” Seine Bedeutung hat eine Affinität zum Begriff der “Anmut,” welcher jene Schönheit meint, die tatsächlich von sich selbst nicht weiß. Die Möglichkeit, von den eigenen Qualitäten nicht zu wissen, ist daber em Alter kaum gegeben. Ohne die Möglichkeit genuiner Anmut und nach dem Ende des aktiven Begehrens vermeidet man also bestenfalls zwei Peinlichkeits-Eindrücke: den Eindruck, “putzig” oder “niedlich” zu wirken, der sich angesichts allzu sichtbarer und gut gemeinter Bemühungen einstellt, und den entgegengesetzten Eindruck von einer angeblichen aktiven Begierde, die in keinem Verhältnis zu einem alten Körper mehr steht (wie sie etwa die antiken Pan-Statuen heraufbeschwören).
Eine Chance auf Erfüllung hat der Wunsch des Alters nach Naehe jedenfalls nicht mehr, nur die vage Moeglichkeit, fuer die es keine Regeln gibt, von Fall zu Fall und Tag fuer Tag den richtigen Takt zu finden, so dass aus dem Rest des Begehrens Momente der Eleganz werden können, wie ein freundlicher Abschied vom Feuer der Erotik, ein Abschied, der seine eigene Temperatur kennt. Luxus-Probleme sind das, kann man sagen, Probleme von Leuten, die zuviel Zeit haben, selbst ueber kleinste Kränkungen nachzudenken. Demographisch gesehen allerdings sind diese alten Leute gewaltig im Kommen – und damit auch ihre Frage, was sich mit Schönheit nach der Libido anfangen lässt.