Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Muhammad Alis Gesicht und das amerikanische Jahrhundert

Gerade weil ich überzeugt bin, dass der noch amtierende amerikanische Präsident eines Tages zu den wirklich bedeutenden Inhabern seines Amtes gezählt werden wird, und gerade weil es in diesem Sinn zu seinen besonderen Verdiensten gehört, nicht ausschließlich als Präsident der Afro-Amerikaner oder auch der Minderheiten im allgemeinen agiert zu haben, war ich enttäuscht, dass er keine Rede bei der Totenfeier für Muhammad Ali hielt. Vielleicht war es ja eine Solidaritäts-Geste innerhalb der demokratischen Partei und ihres Wahlkampfs, dies dem im schwarzen Amerika so unbegreiflich populären Bill Clinton zu überlassen – dessen Worte dann untergingen in einer Berichterstattung aus Wogen hochgestimmter und sich kaum voneinander unterscheidender Prominenten-Sätze zum Leben jenes singulären Amerikaners.

Der größte Boxer aller Zeiten war Muhammad Ali zweifellos, ausgestattet mit einem in seinem Metier durchaus exzentrischen Witz und Selbstbewusstsein, ein entscheidender Vorläufer im Kampf um die “Civil Rights” und ein würdiger Repräsentant der Behinderten. Solche Facetten werden historisch zutreffend und philosophisch wahr bleiben, doch zugleich kommt ihre Anhäufung nicht über den etablierten Standard der Rhetorik von Trauerfeiern hinaus. Ein Präsidenten von Barack Obamas Intelligenz und Rednergabe hätte es als seine Berufung verstehen sollen, der Welt zu erklären, was genau so singulär an Muhammad Ali als Bürger der Vereinigten Staaten war.

Diese Einzigartigkeit, deren Konturen inmitten der stets bestgemeinten Lobreden verschwamm, hatte ihre Form in Alis Gesicht gezeichnet – in sein “Gesicht” nach zwei Bedeutungen des Worts. Einmal und ganz offenbar in sein Gesicht als Ausdruck von Reaktionen auf eine geschichtliche Welt und auf sein Schicksal in diesem Zusammenhang (so gesehen war Ali ein Emblem seiner Lebenszeit, ein Emblem der Jahre von 1942 bis 2016). Aber in Alis Gesicht hatte sich auch die Konfrontation mit nicht historisch spezifischen Herausforderungen der menschlichen Existenz eingeschrieben, es war ein Gesicht, dessen verschiedene Momente der Schönheit, Kraft und Gefasstheit jede räumliche und zeitliche Besonderheit überschritten.

Natürlich lag in dem am Ende unumkehrbar erfolgreichen Kampf für die Realisierung der Bürgerrechte als alltägliche Wirklichkeit jeden Amerikaners das eine geschichtliche Ereignis, welches das Schicksal Muhammad Ali zugespielt hatte. Und er reagierte darauf mit einer Entschlossenheit, herausfordernden Sicherheit, Anmut und Unversehrbarkeit, wie sie die Welt nie vorher gesehen hatte, mit einer Authentizität, wie sie nur Opfer haben können, die ihr Leben zu einem Sieg machen. Von Beginn an, schon bei der Ersetzung seines Geburtsnamens “Cassius Clay Jr.” durch den Muslim-Namen “Muhammad Ali,” handelte er autonom, das heißt, er nahm sich und verkörperte jene Freiheit, die von anderen Unterprivilegierten erst noch zu erobern war. Muhammad Ali schien geboren mit einer Aura, die keinen Status brauchte. Durch seine Wehrdienstverweigerung und ihre Begründung wurde diese auratische Autonomie zum politischen Emblem der Ermächtigung für alle Unterprivilegierten, nicht nur in den Vereinigten Staaten. Ali weigerte sich, gegen den Vietcong zu kämpfen, sagte er anlässlich seiner Musterung für den Vietnam-Krieg, weil ihn kein Vietcong je “Nigger” genannt hatte, und er wusste – ausnahmsweise einmal ganz unaufgeregt und wie nebenbei –, dass er mit diesen Worten seinen Weltmeistergürtel im Boxen verlor und Jahre hinter Gittern riskierte.

Muhammad Ali handelte wie ein Souverän, weil Teil seiner Natur jene Souveränität war, die nach dem Programm der bürgerlichen Revolutionen als politischer Status vom Adel auf jeden Staatsbürger übergehen sollte. Ali vergegenwärtigte Souveränität im Ring wie in der Öffentlichkeit, und zugleich erfand er sie neu – was ihn bald zum Helden der Unterdrückten in allen Ländern machte. Die Unversehrbarkeit, ja beinahe Zartheit seines Boxer-Gesichts war eins geworden mit Alis Anmaßung und Frechheit, welche – sonst gerade das Gegenteil von Anmut – bei ihm in paradoxer Weise anmutig wirkten. Denn sie stellten sich nie in Frage, sondern registrierten nur mit Freude, wie sehr sie jede Dimension der etablierten weißen Kultur irritierten und herausforderten.

In einer ganz anderen, viel ruhigeren, aber in ihren Auswirkungen nicht weniger revolutionären Situation der Geschichte wurde Jahrzehnte später aus jener Anmut die Würde von Alis Gesicht. Seit er mit einem Gesicht ohne Ausdruck und zitterndem Arm bei den (ansonsten eher peinlichen) Olympischen Spielen von Atlanta die Fackel mit dem Feuer aus Griechenland entgegennahm, um das Feuer im Stadion zu entzünden, und seit er in jenem Augenblick bei Zuschauern aus aller Welt die Furcht weckte, dass seine Hand und sein Arm nicht durchhalten möchten, hatte Ali den Raum der Öffentlichkeit auch für jene Menschen gewonnen, die von ihr jahrtausendelang wegen physischer Behinderungen ausgeschlossen waren. Und während Anmut so hinreißend auf uns wirkt, weil sie sich ihrer selbst nicht bewusst ist, nennen wir “Würde” das sehr bewusste Durchhalten von Formen – gegen oft ungewöhnliche und immer herausfordernde Umstände. Die Anmut von Alis Jugend aber und die Würde seines Alters gehörten zusammen, sie waren die beiden Dimensionen eines in seiner Monumentalität kohärenten Lebens – denn nicht nur die in der Geschichte des Boxens Beschlagenen wussten, dass Alis Behinderung eine physische Folge vor allem jenes Kampfes war, den er mit zu viel Nonchalance gegen seinen großen schwarzen Antagonisten Joe Frazier bestritten und verloren hatte. Beide Rollen und beide Gesichter, die Anmut und die Würde, haben Muhammad Ali zu einem Protagonisten des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht.

Doch so wie sich die beiden historischen Rollen in Alis Leben vereinten, war seine geschichtliche Eminenz auch untrennbar Teil einer Dimension, welche menschliche Existenz grundsätzlich angeht, ohne historisch zu sein – und selbst diese grundsätzliche Dimension implizierte etwas unverwechselbar Amerikanisches. Es gibt nämlich gute, ja zwingende Gründe anzunehmen, dass die Faszination des Boxens – im Blick der Athleten wie der Zuschauer – ihren Ursprung in jener Situation hat, wo Menschen dem Tod ins Auge blicken und sich der potentielle Tod in den Augen und dem Körper eines anderen Menschen als Bedrohung konkretisiert. Deshalb hat kein Boxer je die uneingeschränkte Bewunderung seiner Anhänger ohne entscheidende Niederlagen erlangt – und dies galt auch für Ali. Anders gesagt: die Größe eines Boxers wächst und bewährt sich – unabhängig von einzelnen Siegen oder Niederlagen – durch seine Fähigkeit, ganz wörtlich “dem Tod ins Auge zu blicken”.

In der 1926 geschriebenen und wohl berühmtesten Passage seines Buchs “Sein und Zeit” spricht Martin Heidegger von der Herausforderung, dem Tod offenen Auges zu begegnen – und zwar als entscheidende Prüfung der menschlichen Existenz. Vielerlei individuelle Verhaltensformen und soziale Institutionen (all das, zum Beispiel, was Adorno später die “Kulturindustrie” nennen sollte) erfüllen nach Heidegger allein die Funktion, uns von dieser Konfrontation abzulenken und uns die Erfahrung ihrer Härte zu ersparen. Sie liegt für Heidegger darin, dass wir nach dem Tod allein das Nichts, das Undenkbare an sich, erwarten dürfen.

Als gläubiger Muslim hätte Muhammad Ali dieser letzten Konsequenz eines mit Gott nicht rechnenden Nachdenkens über den existentiellen Stellenwert des Todes kaum zugestimmt. Er rechnete wohl mit einem göttlichen Jenseits nach seinem Tod. Aber schon als Boxer und dann als von diesem Beruf beschädigter alter Mensch war er permanent und offenen Auges mit der Gewalt des Todes konfrontiert, mit der nahenden Zerstörung seines Lebens durch den Tod. Und noch in dieser potentiell alle Menschen angehenden Situation war sein Leben – nun wieder in einem historisch spezifischen Sinn – ein amerikanisches Leben. Denn die Vereinigten Staaten sind, wie wir gerade in den vergangenen Jahren und Monaten immer wieder schmerzhaft erlebt haben, jenes Land, wo aufgrund einer besonderen (geschichtlich erklärbaren, aber deshalb nicht weniger fatalen) Gesetzeslage über den Besitz von Waffen die Drohung eines gewaltsamen Todes allgegenwärtig bleibt. Zugleich sind die Vereinigten Staaten die einzige westliche Nation, in der militärische Gewalt als Instrument der Politik selbst nach Ende des Zweiten Weltkriegs zugänglich geblieben ist. Nicht zuletzt unter dieser Perspektive war das zwanzigste Jahrhundert seit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von 1916 bis über das Ende des Kalten Kriegs hinaus zu einem amerikanischen Jahrhundert geworden.

Nur in einem Leben, das angesichts seiner Herausforderungen und seiner Momente der Größe ein so emblematisch amerikanisches Leben war wie das Leben von Muhammad Ali, konnte deshalb der Tod als überhistorische Bedingung der menschlichen Existenz derart intensiv präsent sein. Nirgends hatten sich beide Dimensionen, die geschichtliche wie die metahistorische, deutlicher und kompakter verdichtet als in Alis Gesicht. Die Vereinigten Staaten und ihre Bürger aber haben jene Präsenz der Gewalt wohl nie gewählt – sie ist ihnen zugestoßen und hat intern ganz verschiedene Reaktionen provoziert. Gerade darin kann man die Tragödie der Vereinigten Staaten sehen – und auch den Keim vom Ende ihrer Weltherrschaft nach dem vergangenen Jahrhunderts. Vielleicht war genau diese Möglichkeit Präsident Obamas präsent, als er sich entschloss, nicht bei der Feier auf den Tod des größten Amerikaners unserer Zeit zu sprechen.