Digital/Pausen

Gewaltloser Genozid: in Gegenwart der Unberührbaren

“Entspannte Geselligkeit” war nicht gerade die Stärke der siebzehn herausragenden Studenten und jungen Kollegen, mit denen ich in Indien über zwei sechs Tage-Wochen an einigen Motiven der europäischen Philosophie-Tradition gearbeitet hatte. Deshalb stieß mein ebenso freundlich gemeinter wie unbedachter Vorschlag, nach dem letzten (wie immer von allen genutzten) Abendessen ein paar Stunden gemeinsam zu verbringen, auf höfliches Unverständnis — und scheiterte beinahe am Mangel eines geeigneten Raums in unserem Universitäts-Gästehaus. Als wir aber doch endlich auf Stühlen und Sofas entlang der vier Wände des Speisesaals saßen, stellte sich im abziehenden Curry-Dunst nicht einmal ansatzweise jene intensive Konversation ein, die alle Tee-Pausen des Seminars gefüllt hatte. Einer der älteren Teilnehmer machte endlich den mit enormem Peinlichkeits-Potenzial beschwerten Vorschlag, jeder von uns solle ein Lied zum besten geben – der Dozent zuerst. Also quälte ich mir ein Piaf-Chanson ab, dessen Text wir als Beispiel des Alltags-Existenzialismus diskutiert hatten — ohne dass seine Melodie (ganz zu schweigen von dem parodistischen Effekt der Übertragung in eine männliche Tonlage) irgendjemanden außer mir selbst berühren konnte.

Genauso unmöglich war es danach für mich, die verschiedenen Stimmungen zu erahnen, welche zu den Liedern in indischen Sprachen gehören mussten – nicht zuletzt weil mich das bemühte Mitsingen der Studenten an die typisch verschämten Lippenbewegungen von National-Spielern beim Abspielen ihrer National-Hymnen erinnerte. Bis Ramkumar an die Reihe kam, der Philosophie an einer Business School unterrichtet. “Here is my song,” sagte er beinahe frech, “very much the evening’s culminating event” – und ich war verblüfft, wie die ganze Gruppe auf diese scheinbar harmlose Selbst-Ironie endlich mit einer Explosion lauten Lachens reagierte. Dann sang Ramkumar – und machte die Situation nur noch rätselhafter, weil der singulär nasale Ton seiner Stimme tatsächlich ebenso faszinierend und gekonnt war wie die elegante Lässigkeit seines Vortrags. Später hörte ich, dass er vergangenes Jahr einen populären Talentwettbewerb im indischen Fernsehen gewonnen hatte. Was mochte dann aber so unwiderstehlich komisch an seiner Selbst-Präsentation gewesen sein — als “Höhepunkt des Abends”?

Auf so eine Frage bekommt in Indien niemand die bündige Antwort – auch wenn (oder besser: gerade wenn) es deutliche Anhaltspunkte für die Annahme gibt, die intensive Reaktion auf Ramkumars Selbstironie habe damit zu tun, dass er wohl ein “Dalit,” ein Unberührbarer ist (wörtlich “ein Gebrochener”) — und deshalb in “seinem” Land auch mit der schönsten Stimme der Welt nie und nimmer als “Höhepunkt eines Abends” gelten könnte. Er war also mehr als nur frech gewesen, sondern hatte für einen Moment die erstickende Zwangsjacke einer sozialen Exklusion prekär gemacht – weshalb das Lachen alles andere als ein freundliches “Herein-Lachen” gewesen sein musste. Doch davon spricht eben niemand, ja vielleicht macht sich kaum jemand die Situation ganz bewusst – außer ein paar engagierten Dalit-Intellektuellen.

Von der “arischen” Hindu-Gesellschaft ist seit unvordenklichen Zeiten die Unterwerfung aller Ureinwohner des indischen Subkontinents in der Pyramide einer bedingslosen sozialen Hierarchie zugleich befestigt und legitimiert worden. Es dominiert bis heute die schmale Schicht der Brahmanen, also der (ehemaligen) Priester und Gelehrten, unter der eine Kaste der Krieger steht, dann die Kaste der Kaufleute und schließlich jene der Arbeiter. Noch im einundzwanzigsten Jahrhundert überbrücken weniger als zehn Prozent der in Indien geschlossenen Ehen diese Grenzen, die sich – trotz ihres hinduistischen Ursprungs — durch alle Religionen und ethnischen Gruppen ziehen. Die Dalit jedoch, die unberührbaren Nachkommen der Ureinwohner, bleiben im Prinzip von Interaktionen mit den Mitgliedern aller anderen Kasten und vor allem von Situationen physischer Nähe ausgeschlossen. Ohne einen sozialen Ort und oft erkennbar an ihrer fast bläulich getönten Hautfarbe machen sie etwa zwanzig Prozent der indischen Gesamtbevölkerung aus, ohne dass je eine der zahlreichen Parteien und Institutionen, die sie politisch vertreten wollen, den entsprechenden Einfluss erreicht haben. Denn unberührbar sein heißt eben wirklich, neben – oder unter — dem Alltag der indischen Gesellschaft zu leben. Die Exklusion wird gesichert und scheinbar plausibilisiert durch eine Tendenz zur Abdrängung der Dalit in Berufe, die sich mit “hygienischer Kontamination” assoziieren lassen: in Berufe, die den Kontakt zu toten Tierkörpern notwendig machen, wie etwa die Lederverarbeitung, oder zu menschlichem Urin und menschlichen Fäkalien – und vor allem zum Schmutz und Staub des Bodens. Von solchen Ausgrenzungen und ihren “Gründen” ist jedoch nie die Rede, sie existieren allein in den impliziten Choreographien sozialen Verhaltens, was sie schwer greifbar und mithin langlebiger macht. Erst nach Ende des Seminars, nach dem letzten Abendessen tatsächlich, bemerkte ich, dass Ramkumar, Benito und Murali im Speisesaal nicht ein einziges Mal am selben Tisch mit mir und den anderen Teilnehmern gesessen hatten.

Aber hatte sich denn nicht der wahrhaft große, immer noch über allen gesellschaftlichen Grenzen und Abgründen Indiens wunderbar präsente Mahatma Gandhi den Dalit zugewandt, sie “Kinder Gottes” genannt und ihnen mit seiner gewaltlosen Autorität die Gleichheit vor dem Gesetz erkämpft? Dies alles trifft gewiss zu, und kaum ein Inder mit Schulbildung würde diesen Errungenschaften seine Beistimmung verweigern. Immerhin hat ein Dalit hat die längst bewährte Verfassung des Landes geschrieben; um die Jahrtausendwende war zum erstenmal ein Dalit Präsident des Landes; und Murali, der beim Essen immer an einem anderen Tisch saß, ist der angesehene junge Professor einer juristischen Fakultät. Zugleich beginnt man sich bei der Lektüre von Gandhis (nur bis in die Mitte seines Lebens führender) “Autobiographie” allerdings zu fragen, ob die wenigen und erstaunlichen kurzen Passagen, wo er von den Unberührbaren schreibt, nicht Symptome eines Optimismus mit fatalen Folgen sein könnten. Denn es lag in der Logik seines Prinzips der Gewaltlosigkeit, von den eigenen politischen Anhängern nicht die Wiederholung jener Gesten der physischen Zuwendung zu den Unberührbaren zu verlangen, an denen er sich sichtbar erfreute – sondern nur Toleranz. Toleranz aber war (und ist) mit dem Fortexistieren symbolischer und physischer Distanz durchaus vereinbar, so dass eben der Verdacht entstehen mag, Gandhi habe – ganz entgegen seiner politischen Absicht – der Mehrheit der Inder zu einem offiziell guten Gewissen für die Kontinuität ihrer Exklusions-Praxis verholfen. Ohne weiteres kann man ja die Rechts-Meinungen eines jungen Juristen schätzen und sogar nutzen, ohne mit ihm am selben Tisch sitzen zu wollen.

Von nichts war ich am Ende der Arbeit in Indien weiter entfernt als von einem guten Gewissen. Denn viel zu spät hatte ich zum Beispiel verstanden, warum auch mein anderer Abschluss-Vorschlag soviel Beklemmung bei den Hörern weckte, der Vorschlag nämlich, uns bei den zwei Frauen und dem alten Mann gemeinsam mit kleinen Geschenken zu bedanken, die uns täglich Tee und Snacks zu den Seminar-Pausen brachten. “What’s the problem?” frage ich in typischer Naivität – und bekomme die verschämte Antwort, man könne den Dreien jedenfalls nicht Geschenke gleichen Wertes machen. Einen Sari für die eine der beiden Frauen – und je eine Tafel Schokolade für die andere Frau und für den alten Mann, mehr lässt sich als “Verhandlungsergebnis” nicht erreichen – wobei ja schon die blosse Notwendigkeit solcher “Verhandlungen” etwas Befremdliches hat. Natürlich wird aus der Überreichung der Geschenke, bei der niemand wirklich präsent sein will, vor allem die zu Beschenkenden nicht, einer der unangenehmsten Momente meines Lebens. Dabei wiederholt sich eigentlich nur, was ich jeden Morgen erlebte, wenn der junge Mann mit der Unterschriftenliste und die schöne junge Frau mit dem Besen (meist sehr früh) an die Tür klopften, um die winzige Wohnung zu reinigen. Dem Mann gelang es meist radebrechend zu erklären, an welcher Stelle er meine (die Reinigung bestätigende) Unterschrift brauchte. Die Augen der schönen Frau im roten Sari aber sah ich nie. Sie fegte und behielt den Blick zum Boden gerichtet, ohne mit irgendeiner Bewegung auf mein “Thank you”-Gestammel zu reagieren.

Und dann Benito, dessen italienischer Vorname, höre ich, die Spur einer katholischen Erziehung sein könnte. Er arbeitet als Assistenzprofessor für Literaturwissenschaft in Hyderabad, wo unser Seninar stattfindet, wohnt jedoch wie die anderen Seminarteilnehmer im Gästehaus der Universität – und gibt mir seine Gedichte zu lesen, die mich bewegen und die ich für bedeutend halte. Aber warum schreibt er – wovon ich profitiere – auf Englisch und nicht auf Hindi, der nationalen Gemeinsprache, oder in seiner regionalen Muttersprache? Keine Antwort. Dass er sich im Englischen “wohler fühle,” schlage ich vor, ohne eine Ahnung zu haben, was ich mit diesen Allerwelts-Worten meine. Ja, so könnte es sein, sagt Benito, höflich und distanziert. Von Murali erfahre ich, dass niemand Texte mit den Eigenheiten der Unberührbaren in den indischen Sprachen druckt oder liest.

Er lässt mich auch wissen, dass unser grüner Campus (am Rand der acht Millionen Stadt ohne Struktur) während der vorausgehenden Tage in den Fokus nationaler Aufmerksamkeit geraten ist (ich habe nur eine größere Präsenz von Polizeiwagen und uniformierten Polizisten wahrgenommen, ohne mich nach dem Grund für ihre Gegenwart zu fragen – und die “Indian Times” gaben keinen Hinweis in dieser Richtung). Drei Dalit-Studenten hatten einen Hunger-Streik begonnen, um Aufmerksamkeit für die Tatsache zu gewinnen, dass trotz staatlich vorgeschriebener Aufnahmequoten zugunsten ihrer Nicht-Kaste nur ein verschwindend geringer Prozensatz der Unberührbaren ihr Studium beendet. Rohith aber, einer der Streikenden, hat sich vor wenigen Tagen im sogenannten “Shopping Center” erhängt, einem Platz voller Pfützen und streunender Hunde mit einer heruntergekommenen Skulptur, deren Form mich an die Faust auf der ausgestrecken Hand des “Black Power”-Grußes von 1968 erinnert; im “Shopping Center” entdeckte man seine Leiche — wo auch der erstaunlich zuverlässige Geldautomat steht, den ich einmal pro Woche benutze.

Die Verbindung zwischen Rohiths Selbstmord (wer überhaupt davon redet oder schreibt, benutzt allein seinen Vornamen) und der Black Power-Geste hat mir ein anderes Stück Wissen suggeriert, das – wie fast all das vage Wissen über die Unberührbaren – kontextfrei im Web schwebt. So wie in den Vereinigten Staaten Gefängnisse vor allem und Death Rows beinahe ausschließlich von schwarzen Männern bewohnt sind, besetzen Dalit-Männer die Straf-Institutionen des indischen Rechtssystems (ich bin sicher, dass ihr offizieller Name weit “humanitärer” oder gar “Gandhi-esker” klingt). Wahrscheinlich ließe sich der Impuls zur Behauptung, dass Dalit und Afro-Amerikaner typischerweise ohne Anlass einsitzen, schnell durch Kriminalitätsstatistiken widerlegen und neutralisieren. Denn das Kastensystem funktioniert ja gerade und vor allem als ein gewaltloser (und wahrscheinlicher unendlicher) Genozid, welcher die Akte der Gewalt – der Gewalt gegen andere und gegen sich selbst – den Opfern selbst zuschiebt. Diesen Mechanismus scheint selbst Gandhi nicht erfasst – oder zumindest doch unterschätzt – zu haben.

Wenn man Gewalt als die “Besetzung von Räumen durch Körper gegen den Widerstand anderer Körper” definiert (darin überhaupt nicht dem Vorschlag des großen Michel Foucault folgend), dann sind jene Mitglieder der oberen Kasten, welche ihr System vor-bewusst oder voll-bewusst praktizieren, von “Gewalt” denkbar weit entfernt. Denn ihre permanente Diskrimination liegt gerade darin, die Räume (duchaus gewaltfrei) zu vermeiden, in denen die Dalit leben – oder sich umbringen, und das schließt an erster Stelle die Räume der Drecksarbeit ein, die sie ihnen mit ernst gemeinten Gesten von Großzügigkeit anweisen. Murali hat in Reaktion auf Rohiths Selbstmord einen Text geschrieben, den niemand veröffentlichen wollte (die Sprache der Dalit!), auch weil er von den fünfzehn Jahren erzählt, in denen er als Stipendiat einer staatlichen Bildungsinstitution jeden Tag “freiwillig” die Garten- und Kompost-Arbeit im Haus eines Lehrers zu übernehmen hatte. Gegen Diskriminierung in seinem eigenen Berufsalltag öffentlich zu protestieren, bemerkt Murali undramatisch, am Rand und gerade deshalb so überzeugend, hätte zur Folge, dass er innerhalb weniger Tage seine Stelle an der juristischen Fakultät verlöre.

Heilfroh bin ich, dass es in der üblichen Flut digitaler Photos vom Seminar in Hyderabad wenigstens zwei oder drei Bilder gibt, auf denen ich in Muralis und in Ramkumars Nähe bin. Ein Photo mit Benito habe ich nicht. Am Ende des eigentlich nicht mehr zu schließenden Blicks auf die Gegenwart der Unberührbaren und auf ihren gewaltlos-unendlichen Genozid, zitiere ich ein paar Sätze aus Rohiths Abschiedsbrief, und zwar Wort für Wort in der erhabenen Ungeschliffenheit seiner Selbst-Anklage auf Englisch – und als Zeichen der eigenen Hilflosigkeit: “I would not be around when you read this letter. Don’t get angry on me. I know some of you truly cared for me, loved me and treated me well. I have no complaints on anyone. It was always with myself that I had problems. I feel a growing gap between my soul and my body. And I have become a monster. I always wanted to be a writer […]. May be I was wrong, all the while, in understanding world. In understanding love, pain, life, death. There was no urgency. But I always was rushing. Desperate to start a life. All the while, some people, for them, life itself is a curse. My birth is my fatal accident. I can never recover from my childhood loneliness. The unappreciated child from the past. I am not hurt at this moment. I am not sad. I am just empty. Unconcerned about myself. That’s pathetic. And that’s why I am doing this […]. Let my funeral be silent and smooth. Behave like I just appeared and gone. Do not shed tears for me. Know that I am happy dead than being alive.”

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