Zwei Tage nach der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten hatte ich in Berlin ein ausführliches Gespräch mit einem Freund, dessen Urteilskraft ich seit langem bewundere – und mittlerweile wird Tag für Tag klarer (und angesichts immer deutlicherer Konturen zu einer wirklichen Einsicht), was er damals schon als These gegen die wirren Proteste der Medien und der politischen Kommentatoren stellte, die in ihrer großen Mehrheit jenes Ergebnis ja nicht hatten kommen sehen. Wir erleben – global, das heißt: verbunden über die Wege elektronischer Kommunikation – eine Gegenwart, in welcher der prinzipiell prekäre Status von Prognosen bis zu einem Grad gestiegen ist, wo Voraussagen mit dem Anspruch pragmatischer Ernsthaftigkeit entweder banal bleiben oder (aufgrund der trügerischen Wirklichkeits-Bilder, die sie heraufziehen lassen) tatsächlich gefährlich sind. Einfacher formuliert: politische Prognosen haben ihren Praxis-Wert verloren. Das belegen nicht nur der seinerzeit keinesfalls erwartete Brexit, die amerikanische Präsidentschaftswahl oder die einschlägigen (ebenfalls allen Voraussagen widersprechenden) Reaktionen der Finanzmärkte. Auch die nun täglich nachzuvollziehenden Schritte Trumps und seines Beraterstabes bei der Regierungsbildung lassen eigentlich kaum kohärente Hochrechnungen zu, sondern bewirken nur weitere Unsicherheit.
In der entgegengesetzten Richtung der Zeitlichkeit haben die Neigung zum Postulieren historischer Analogien und, allgemeiner, ein Eindruck von der “Rückkehr” bestimmter Phänomene deutlich zugenommen. Nicht ganz ohne Grund, scheint es, kommen viele von uns auf den Januar 1933 zurück und auf eine in jeder formalen Hinsicht demokratische Wahl, welche damals zum Beginn der systematischen Zerstörung von Demokratie in Deutschland führte. Zugleich glauben wir zu sehen, dass viele von Trumps Anhängern in den Vereinigten Staaten tatsächlich einen Traum von der Rückkehr ihres Landes zu seiner (vermeintlichen?) Größe in den fünfziger Jahre träumen. Solche Analogien und Träume aus der Vergangenheit konvergieren mit dem Urteil meines Freundes, nach dem Prognosen unmöglich geworden sind. Denn sie waren an die Überzeugung gebunden, dass die Zeit allen Ebenen unserer Wirklichkeit beständige, unumkehrbare Veränderungen (in je verschiedenem Rhythmus) auferlegt, an denen sich Regelmäßigkeiten (“Gesetze”) der Entwicklung als Grundlage für Voraussagen ablesen lassen. Eben diese (Konstruktion der) Zeit, die wir zweihundert Jahre lang die “historische Zeit” genannt und als endgültiges Verstehen allen Wandels missverstanden haben, ist jetzt aus den Fugen geraten.
All das läuft darauf hinaus, dass sich der Status der Gegenwart in einer Umformung befindet. Das historische Weltbild gab der Gegenwart die Gestalt eines kurzen Übergangsmoments, dessen Identität innerhalb beständigen Wandels durch seine Differenz zur erinnerten Vergangenheit einerseits und zur hochzurechnenden Zukunft andererseits vorgegeben war. Wenn sich nun wieder der Glaube an eine (im Einzelfall nicht vorhersehbare) Wiederholung oder Rückkehr von Ereignissen und Strukturen durchsetzt, wenn also die grundsätzlichen Differenzen zwischen den drei Zeitdimensionen kollabieren, dann wird Zeit insgesamt zu einer flachen, konturenlosen und potentiell unendlichen Gegenwart. Vielleicht ist es kein Zufall – und weist zugleich der gegenwärtigen (!) amerikanischen Politik den Status eines Symptoms zu, genauer:den Stellenwert einer Folge (und nicht eines Grundes) solcher Veränderungen, dass sich gerade im vergangenen Jahrzehnt und aus ökologischer Perspektive auch der Begriff des “Anthropozäns” als eine andere neue und “breite” Gegenwarts-Konzeption durchgesetzt hat, welche die Zeit vom ersten ökologischen Impakt der menschlichen Präsenz auf unseren Planeten bis zu ihrem zukünftigen Verschwinden fassen soll.
Überlegungen dieser Art provozieren immer wieder (und oft zurecht) die Reaktion, “allzu akademisch” und mithin außerhalb der akademischen Welt ohne jeden Praxiswert zu sein. Was nun allerdings die Transformation unserer Zeitlichkeit und unserer Gegenwart im Spezifischen angeht, so hat sie eine — vielleicht verborgene aber – durchaus konkrete Relevanz, weil das während des achtzehnten Jahrhunderts in seinen Grundzügen entwickelte politische System der parlamentarischen Demokratie, an dem wir uns weiter orientieren, eben die historische Zeit als Prämisse und Rahmen voraussetzt. Dieses System geht erstens davon aus, dass Zukunftsprognosen auf rationaler Basis (und mithin eine Gestaltung der Zukunft) möglich sind, und dass zweitens bei der Entwicklung von Prognosen und bei Handlungen der Zukunftsgestaltung dem Verstehen der Vergangenheit eine spezifische Orientungsfunktion zukommt.
Donald Trump und die Politiker seines – neuen? – Schlages verfolgen nun (bei aller Kritik) gewiss kein Programm zur Aufhebung demokratischer Grundregeln oder gar des historischen Weltbildes als ihrer Voraussetzung. Im Gegenteil – es wird immer wieder deutlich, dass sie auf Impulse, diese Rahmen zu füllen, durchaus reagieren (wenn auch in der Regel mit erstaunlicher Inkompetenz). Eine schlagende Affinität zur neuen Struktur der Gegenwart (und zugleich eine Entfernung von der alten Zeitlichkeit) zeigt sich jedoch in ihrer Rhetorik und Selbstpräsentation, die ganz auf unmittelbare, gegenwärtige Resonanz ausgerichtet sind und daher weder die logischen Folge-Strukturen von Argumenten entfalten noch sich andererseits vor Inkonsequenzen scheuen. Damit werden diese Politiker zur Verkörperung und Verstärkung des neuen, allgemein Unsicherheit auslösenden Eindrucks, dass ihre politischen Optionen für die Zukunft keinesfalls vorhersehbar sind und dass vor allem keine Handlungsmöglichkeiten (einschließlich der Auslösung eines Nuklearkriegs) ausgeschlossen werden können.
Angesichts der Drohung einer Diskontuität, die sich keinesfalls aus Programmen “radikaler” politischer Veränderung ergibt, sondern einfach aus dem Aufgeben aller Versuche der Zukunftsgestaltung folgt, haben nach der Trump-Wahl erste Reaktionen besondere Aufmerksamkeit erregt, welche die Kontinuität politischer Institutionen und Strukturen nicht nur einforderten, sondern im Vollzug heraufbeschworen. Indem Präsident Obama seinen gewählten Nachfolger wenige Tage nach der Entscheidung — zur nationalen und internationalen Überraschung – ins Weiße Haus einlud und die geplante Länge ihrer Unterhaltung demonstrativ überschritt, betonte er die Würde des Präsidenten-Amtes, und band Donald Trump in und an eine rituelle und institutionelle Kontinuität, die ihn offensichtlich beeindruckte. Dies gilt auch für das ausführliche und in jedem Moment der Wortmeldung ernsthafte Gespräch, zu dem die “New York Times” ihren während des Wahlkampfs erklärten Erzfeind Trump einlud. Gewiss, das einschlägige Transkript bestätigt die schlimmsten Befürchtungen im Blick auf den Wissensstand und die Argumentationsfähigkeit des zukünftigen Präsidenten; aber es zeigt auch – wie schon die jeweils ersten Minuten der drei Fernsehdebatten mit Hillary Clinton im Wahkampf – eine primäre Bereitschaft, ja fast einen kleinen Ehrgeiz, sich auf gewisse minimale Standards von Vernunft einzulassen.
Am Ende geht es bei diesem Strukturwandel der Gegenwart und der Zeitlichkeit, in denen wir das frühe einundzwanzigste Jahrhundert und möglicherweise auch seine Zukunft erleben, wohl gar nicht um Verlust oder Bewahrung der “realen” Fähigkeit zur Prognose, die wir vielleicht lange und dramatisch überschätzt haben. Was wir hingegen nicht aufs Spiel setzen und (so effizient als möglich) schützen sollten, das ist ein in der Tradition gewachsener Konsensus hinsichtlich von Formen und Standards politischer Auseinandersetzung und Entscheidung. Solange Politiker und Bürger (im rechtlichen Sinn dieses Worts) unter der – vielleicht heute ja kontrafaktischen — Annahme diskutieren und handeln, dass die Zukunft für Menschen gestaltbar ist, teilen sie notwendig bestimmte Regeln der Beschreibung, Analyse und Prognose und sind mithin wechselseitig zumindest nicht ganz unvorhersehbar.
Wir mögen, was den substantiellen Glauben an ihre Voraussetzungen angeht, in unserer Ggegenwart wirklich “am Ende der parlamentarischen Politik” angekommen sein. Doch gerade deshalb könnte es wichtiger denn je werden, gerade diesen Glauben als “nützliche Fiktion” durchzuhalten, solange wir über keine alternative Form der Politik als kollektiver Selbstbestimmung verfügen. Was dagegen für immer verloren gegangen sein könnte, ist die Überzeugung, dass wir imstande sind, langfristig Visionen und ideale eines besseren Lebens zu erfinden und zu realisieren. Dem entspricht möglicherweise der sich intensivierende Eindruck, unter einer wachsenden Hektik von Aktivitäten zu leben, ohne dass sich die Auswirkungen dieser Aktivitäten zur Form von “Projekten” zusammenfügen. Von einer Gestaltung der Zukunft (auf die als Möglichkeit Barack Obama in seinem ersten Wahlkampf mit der zentralen Formel des “Yes we can” vielleicht ein letztes Mal glaubhaft bestanden hatte) ist Politik zu einem beständigen Krisen-Management geworden, zu einer anhaltenden Gegenwart des sich beschleunigend Immer-Gleichen, die vielleicht nie mehr in eine qualitative andere Zukunft umschlagen wird. In dieser Unfähigkeit, sich eine andere Vergangenheit und Zukunft auch nur vorzustellen, könnte die Andersheit unserer Gegenwart liegen.
Es ist die Herausforderung der neuen Gegenwart, uns im Bewusstsein ihrer tiefen strukturellen Veränderungen so zu verhalten, als seien sie nicht definitiv.