Viel traut uns Literaturwissenschaftlern ja kaum jemand außerhalb dieses eigenartigen Berufes zu. Doch weil man “Literatur” gemeinhin mit den so deutlich sichtbaren und gelegentlich auch hörbaren “poetischen Formen” verbindet, mit den Strukturen von Versen, Strophen oder Reimen vor allem (was wir Spezialisten natürlich als viel zu einfach ansehen), existiert die solide Erwartung, dass Wissen über Literatur mit einer Antwort auf die Frage beginnt, wofür denn poetische Formen gut sind. Genau diese elementare Frage jedoch haben die Literaturwissenschaften in den zwei Jahrhunderten ihrer akademischen Existenz nie gelöst, und das gilt auch für die ihr seit der klassischen Antike vorausgehende Tradition poetologischer Überlegungen. Gewiss, zumindest die älteren Generationen unter den “Gebildeten” kennen aus dem Deutschunterricht die eine simple Lösung unterstellende Standard-Aufgabe, man solle zeigen, wie “die Form eines Gedicht seinem Inhalt entspreche” – aber sie erinnern sich wohl auch daran (Noten hin oder her), dass die entsprechenden Dokumentationen immer ziemlich beliebig ausfielen.
Der philosophische Grund für dieses überraschende Problem rührt daher, dass poetische Formen einerseits und Text-Inhalte andererseits ganz verschiedenen Dimensionen der Wirklichkeit angehören und sich also ebenso wenig einander “entsprechen” können wie, sagen wir, Benzinpreise und Weinsorten. Die Literaturwissenschaft hatte ihrerseits eine Tendenz entwickelt, über das Ausbleiben überzeugender Antworten mit komplizierten Theorien hinwegzureden. Seit den siebziger Jahren allerdings ist eine – wohl eher vorbewusste – Distanznahme von dem Problem zu beobachten. Einige der einflussreichsten Lyrik-Deutungen aus jüngerer Zeit müssten um kein einziges Wort verändert werden, wenn sie sich ausschließlich auf Prosa bezögen, und nicht wenige Lyrik-Spezialisten haben ihren intellektuellen Anspruch mittlerweile zurückgefahren auf ein imposant differenziertes Wissen über die Verteilung von poetischen Formen auf alle möglichen Kulturen und Epochen. Dabei ist die Frage nach ihrer Funktion verschwunden.
Vielleicht lassen sich jedoch von außerhalb der verfahrenen literaturwissenschaftlichen Situation zwei Perspektiven in Richtung auf eine Lösung entwickeln (auf eine Lösung allerdings, die an keiner Stelle in Selbstverständlichkeit einmündet). Einmal, indem wir uns nach einem möglichen Überbegriff für all die Phänomene fragen, die wir meinen, wenn wir von “poetischen Formen” sprechen; und zum zweiten, indem wir uns an Funktionen erinnern, die man (im nicht akademischen Alltag) schon immer mit poetischen Formen verbindet. Was zunächst den möglichen Überbegriff angeht, so bietet sich “Rhythmus” als gemeinsamer Nenner für alle Varianten poetischer Formen an, und ich schlage im Sinn einer Definition vor, dass wir “Rhythmus” alle praktischen Lösungen des Problems nennen, wie Zeit-Phänomene im eigentlichen Sinn eine Form haben können. Diese Beschreibung mag auf den ersten Blick “allzu theoretisch” aussehen, lässt sich aber erstaunlich leicht plausibel machen.
“Zeitphänomene im eigentlichen Sinn” sind Phänomene, die nur in ihrer zeitlichen Entfaltung existieren können: Sprache zum Beispiel, Musik und natürlich auch jede Art von Bewegung. Ein kompakter Vorschlag definiert “Form” dagegen als Einheit des Unterschieds zwischen Außen-Referenz und Innen-Referenz. Ein Kreis zum Beispiel zeigt immer zugleich auf sich selbst (Innen-Referenz) und auf alles, was außerhalb seines Umrisses liegt (Außenreferenz). Nun ist klar, dass Kreise (Quadrate, Rauten etc) ihre Form-Identität verlieren, sobald sie Teil einer beständigen Veränderung werden. Form-Qualität kann eine beständige Veränderung (ein “Zeitobjekt im eigentlichen Sinn”) nur dann besitzen, wenn sie nach einer kürzeren oder längeren Folge von Stadien der Veränderungen zu ihrem Ausgangsstadium zurückkehrt, um danach wieder (und wieder) die gleiche Sequenz von Stadien zu durchlaufen. Unter dieser Bedingung verschiebt sich die Stabilität einer Form ohne Veränderung auf die Stabilität im Durchlaufen der immer gleichen, unveränderten Sequenz von Stadien der Veränderung. Die unveränderte, potentiell unendlich wiederholbare Sequenz hat also Form-Qualität, sie genau nennen wir “Rhytmus,” und man kann sagen, dass sich eine solche Zeit-Form (ein dafür brauchbares griechisch-gelehrtes Wort ist “Kairos”) in die Form-lose, laufende Alltagszeit, in die Zeit ohne ohne Anfang und Ende (“Chronos”), einschneidet.
Die beiden praktischen Funktionen nun, welche vor allem wir mit Rhythmus verbinden, sind die der Erinnerungs-Stütze und der Körper-Koordination. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass es leichter fällt, uns Inhalte zu merken, wenn wir sie in einer sprachlich rhythmischen Form gespeichert haben (noch heute kann ich eine Reihe von lateinischen Grammatik-Regeln, die ich im elften Lebensjahr gelernt habe, in Vers- und Reimform abrufen). Ebenso wissen wir, dass die Koordination von Bewegungen verschiedener Körper unter dem Eindruck von Rhythmen leichter fällt. Diese elementaren Leistungen von Rhythmen zu erklären, verlangt, wie wir sehen werden, einigen Begriffs-Aufwand.
Geformte Zeit (“Kairos”) schneidet, wie wir gesagt haben, Enklaven in die verlaufende Zeit (“Chronos”), und innerhalb dieser Enklaven erscheinen alle Elemente in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit, weil sie sich beliebig – im Prinzip: unendlich — oft wiederholen können. Diese Gleichzeitigkeit innerhalb des “Kairos” ruft erfahrungsgemäß den Eindruck einer Entschleunigung, ja eines Anhaltens der laufenden Zeit (“Chronos”) hervor. “Astern,” Gottfried Benns wohl berühmtestes Gedicht, beschreibt etwa, wie der “Bann” rhythmischer Sprache das Vergehen der Sommers für einen kurzen Moment anhält. Offenbar dehnt sich diese Gleichzeitigkeit innerhalb des “Kairos” unter dem Eindruck von Rhythmus auch auf alle in unserer Erinnerung abgelegten Erfahrungen aus – so dass Rhythmus ihren Vergangenheitsstatus aufhebt und sie in der Gegenwart verfügbar macht. Was ich in der Form eines Rhythmus vor mehr als fünfzig Jahren gelernt hatte (jene lateinischen Grammatik-Regeln etwa), kommt zurück, sobald ich den Rhythmus von damals aktiviere. Anders gesagt: Rhythmus beschwört Inhalte aus der Vergangenheit in die Gegenwart herauf.
Ganz anders muss (und kann) man die Körper-Koordinierungs-Funktion des Rhythmus erklären – und zwar im Rückgriff auf eine soziologische Theorie über verschiedene Modalitäten, unter denen Systeme (in diesem Fall: Körper) miteinander verkoppelt sind. Kopplungen zweiten Grads, zu denen etwa die Standardformen menschlicher Interaktion gehören, sind produktiv, das heißt: sie mögen mit einem Rhythmus als Medium ihrer Verbindung beginnen, bringen aber dann neue Zustände hervor, die nicht zu den sich wiederholenden Zuständen des ursprüngliche Rhythmus gehören. Aus dieser Produktivität und der mit ihr verbundenen intensiven Bewusstseinsspannung erwächst oft eine Koppelungs-interne Ebene, auf der sich die Koppelung selbst beobachtet (und beschreibt). Koppelungen erster Ordnung hingegen halten an einem und demselben Rhythmus als ihrem Medium fest, entwickeln keine Ebene der Selbstbeobachtung und gehen einher mit einem Abflachen der Aufmerksamkeitsspannung. Diese niedere Aufmerksamkeitsspannung vor allem erlaubt es uns, ohne Reflexion und Selbstbeobachtung die Körper in einen gemeinsamen Rhythmus “fallen zu lassen” (Selbstbeobachtung dagegen wird Normalfall zu einem Problem für Körperkoordination). Hier wird deutlich, wie sich Gedicht-Inhalte und poetische Formen nicht allein nicht “entsprechen” können, sondern tendenziell in einem Spannungsverhältnis stehen. Wenn ich etwa eine Hölderlin-Hymne im intendierten Rhythmus rezitieren will, dann kann ich mich kaum auf ihren Inhalt konzentrieren — doch wenn ich ihren komplexen Inhalt nachzuvollziehen versuche, dann ist es unwahrscheinlich, dass mir ein Rezitieren gelingt.
Die beiden Funktionen der Erinnerungs-Aktivierung und der Körper-Koordination vollziehen sich objektiv, also unabhängig von unseren Intentionen, sobald wir einem Rhythmus ausgesetzt sind, etwa während der Rezitation eines Gedichts (was genau sich beim – stummen — Lesens eines Gedichts abspielt, ist eine weitere komplizierte Frage, die ich hier einklammere). Entscheidend für die spezifische Funktion poetischer Formen wirkt sich jedenfalls die Tatsache aus, dass in Situationen mit niederer Bewusstseinsspannung unsere Imagination im Verhältnis zu unserer Rationalität in den Vordergund tritt. Der amerikanische Soziologie George Herbert Mead hat in den dreißiger Jahren (ohne Bezug auf Gedichte) den Unterschied menschlicher Reaktionen auf die Umwelt bei niedriger und bei intensiver Bewusstseinsspannung charakterisiert, indem er zunächst die Position der niederen Bewusstseinsspannung mit einem “frühen Homo sapiens” besetzte. Sein Bewusstsein, spekulierte Mead, reagierte auf ein wahrgenommenes Geräusch mit Bildern (daher das Wort “Imagination”) von einem ihm entweder physisch überlegenen oder physisch unterlegenen Tier, und diese Bilder wurden ihrerseits zu unmittelbaren Impulsen für Bewegungen der Flucht (als Reaktion auf das Bild von einem stärkeren Tier) oder des Angriffs (als Reaktion auf das Bild von einem schwächeren Tier).
Ein “fortgeschrittener Homo sapiens” (höhere Bewusstseinsspannung) hingegen würde, weiterhin nach Mead, die von seiner Wahrnehming ausgelösten Bilder habituell durch abstrakte Begriff filtern – und so zwischen Wahrnehmung und Körperreaktion eine Distanz etablieren, innerhalb derer eine rationale und subjektive Entscheidung möglich und sogar notwendig wird. Vor dem Hintergrund dieses Vergleichs liegt die Funktion des Rhythmus darin, uns über eine Senkung der Bewusstseinsspannung vorübergehend an die Umweltreaktionen eines “frühen Homo sapiens” anzunähern, das heisst an das Abrufen von nicht gefilterten Bildern und an die von ihnen ausgelösten unmittelbaren Körperreaktionen. Wir wissen (vor allem aufgrund unserer erotischen Phantasien), dass diese von Bildern der Imagination ausgelösten Körperreaktionen genau denen entsprechen, die ein real präsenter (nicht nur vorgestellter) Körper oder Gegenstand auslösen würde. Damit gewinnt die Funktion des Heraufbeschwörens, von der schon bei der gedächtnisaktivierenden Funktion des Rhythmus die Rede war, eine körperliche Dimension. Gedichte scheinen oft jene Gegenstände heraufbeschwören zu können, die ihr Thema sind, weil sie (aufgrund des Rhythmus) unsere Körper auf die von ihnen ausgelösten Bilder so reagieren lassen, als ob jene Gegenstände real präsent wären.
All dies, will ich sofort zugeben, ist nicht mehr als der Beginn einer – geduldigen – Antwort auf die Frage, “wozu Verse, Strophen und Reime gut sind.” Bloß der Beginn einer Antwort, weil ich ja zwischen den verschiedenen Dimensionen poetischer Form (Vers, Strophe, Reim etc) noch gar nicht unterschieden – und nicht einmal begonnen habe, über die differenten Wirkungen intern verschiedener Vers-, Strophen- und Reim-Strukturen nachzudenken (auf Vers- und Strophenebene zum Beispiel: zwischen Sonett, Distichon, Jambus etc). Niemand wohl ist im Hinblick auf die zweite Differenzierung (verschiedene denkbare Wirkungen intern differenter Vers-Formen betreffend) weiter gelangt als Friedrich Hölderlin in seinen komplizierten Überlegungen zum “Wechsel der Töne” in Gedichten.
Wenn wir nun erstens ganz allgemein sagen können, dass uns die Wirkung poetischer Formen an unsere Körper als existentielle Dimension zurückgibt (und über die Körper auch an den Raum, der sich um die Körper herum entfaltet), dann folgt zweitens, dass eine Differenzierung in Abhängigkeit von je verschiedenen poetischen Formen wohl zu Unterschieden in den Modalitäten führen muss, unter denen wir in den Texten beschriebene Gegenstände heraufbeschwören können, so als ob sie präsent wären (nach Hölderlin sind “Fühlen,” “Bestreben” oder “begriffliche Unterscheidung” solch verschiedene Modalitäten).
Und der Reim? Er gehört natürlich auch zu den Phänomenen des Rhythmus, weil er sich innerhalb eines Gedichts immer wieder an derselben Stelle des jeweiligen Verses erfüllt — und in dieser Hinsicht keine Variation gestattet. Doch der Reim fügt zur Dimension des Rhythmus die Dimension der Melodie hinzu – über deren Wirkungen wir noch weniger wissen als über die des Rhythmus, einmal ganz abgesehen von der Konvergenz oder Interferenz zwischen Melodie- und Rhythmus-Wirkungen. Immerhin können wir jetzt auf die Ausgangsfrage antworten, dass Verse, Strophen und Reime von Gedichten zur Körper-nahen Suggestion eines Heraufbeschwörens beitragen, eines Heraufbeschörens der von den Texten thematiserten Welten. Und das gilt auch dann, wenn diese Funktion denen, die Gedichte schreiben, rezitieren oder hören, gar nicht bewusst ist.