Ausgerechnet hier eine Adresse in der “Deutschen Kolonie” zu haben, ist peinlich für einen, der kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland geboren wurde. Es hilft nur wenig, von meinem Vermieter zu erfahren, dass sich der Name auf württembergische Pietisten bezieht, die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach Jerusalem kamen, um eine bevorstehende Ankunft des Messias vor Ort erleben zu können. Immerhin haben sie stattliche Häuser mit Sinnsprüchen in gotischer Schrift über den Eingangstüren hinterlassen, Häuser, die heute zu einer Vorzugsimmobilie für wohlhabende Juden im Pensionsalter aus ganz Europa und Nordamerika geworden sind.
Amos, mein Vermieter, ein ebenso ernster wie durchtrainierter Mann in den frühen Siebzigern, gehört nicht zu ihnen, obwohl er “schon immer” in der Deutschen Kolonie wohnte. Bis er dreiundvierzig war, hat Amos im Geheimdienst seines Landes gearbeitet, wurde dann um 1990 (wohl nach einer politisch dramatischen Mission) mit einem hohen Ruhegehalt entlasssen, studierte Geschichte und gehört mitterweile zu den wenigen Führern, die Intellektuelle aus Jerusalem ihren Freunden von auswärts empfehlen. Das heutige Israel, sagt Amos, das Israel von Netanyahu und der Likut-Koalition, sei weder innen- noch außenpolitsch das Land, für das er gearbeitet und auch gekämpft habe. Historisch versteht er Jerusalem als ein komplexes Bündel von einander meist widersprechenden und immer noch lebendigen Mythen, welche die drei großen monotheistischen Religionen hinterlassen haben – nicht als Schichtung von archäologisch freigelegten Wirklichkeitsspuren. Von der Via Dolorosa “für alle, die daran glauben wollen,” spricht er gerne, oder von “der westlichen Tempelmauer der religiösen Juden.”
In der von ottomanischen Mauern umschlossenen Altstadt erinnert sich Amos plötzlich daran, dass seine Frau dem Metzger noch hundert Shekel vom letzten Freitagmorgenkauf schuldet. Wir gehen zum Metzgerladen, die beiden alten Männer umarmen sich mit Würde und wechselseitigem Respekt, Amos spricht Arabisch ohne Akzent, und dann drückt er seinem Metzger-Freund den Geldschein in die Hand. “Man soll Frauen nie mit zu wenig Geld aus dem Haus lassen,” sagt der mit einem Lächeln, und schenkt Amos feine Lammkoletts für die ganze Familie. Ahmad, der Metzger, stamme aus einer Sultansfamilie, erzählt mir Amos auf der Heimfahrt und jetzt ganz ohne Relativierung, seine Ahnen hätten seit dem Mittelalter in Jerusalem gelebt, anders als seine eigenen zionistischen Eltern, die in den zwanziger Jahren aus Breslau und Berlin kamen. Doch auch er und seine Familie, sagt Amos wie beiläufig, werden für immer hier bleiben, bedingungslos, das müssen die Palästiner aushalten. Gäbe es wieder einen Krieg, dann würde sein Freund Ahmad und er aufeinander schießen. Aber man kann auch in Respekt und mit Sympathie zusammen leben. Die Hamas lehnt Amos ebenso entschieden ab wie Netanyhus Politik der sichtbaren Stärke. Angesichts der demographischen Entwicklung zwischen Juden und Arabern in Israel müsse sich eine solche Politik in wenigen Jahrzehnten zu einer Apartheit-Situation entwickeln, wie er sie seinen Enkeln als Lebensform nicht wünsche.
Was Amos sagt, markiert eine politische Zwischen-Posiiton, wie man sie in Israel selten trifft — wenn überhaupt, dann vor allem unter Berufssoldaten und ehemaligen Sicherheitsagenten, die den Alltag bewaffneter Konfrontation kennen. Die israelische Linke, die heute knapp, aber langfristig, hört man immer wieder, in der nationalen Politik unterlegen ist, die jüdische politische Linke, genauer gesagt, geht weit über die blosse Netanyahu-Kritik hinaus. Sie sehnt sich nach einem säkularen Israel, nach einem Selbstverständnis als Einwanderungsland ganz ohne historisch-religiöse Vorgabe, nach einer bis heute in Israel fehlenden Verfassung, auf die sich die politischen Fraktionen des Landes noch nie haben einigen können, und sie umgeben die sozialistischen Anfänge des Staats, die Zeit der Kibbutzim und der Arbeiter-Sportorganisationen etwa (“Hapoel” genannt), mit einer goldenen Aura der Erinnerung. Seit die Realisierung des in Oslo ausgearbeiteten Friedensprozesses 1995 mit der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin durch einen radikal-orthodoxen Juden unterbrochen wurde, hätte man den Palästinern weiter unbeirrt Vertrauen schenken sollen, statt auf die Demonstration der eigenen Stärke zu setzen, dann wäre eine gemeinsame Annäherung an das notwendige Ziel eines gemeinsamen säkularen Staats möglich gewesen. So redet man zum Beispiel im Professorenclub der Hebrew University und in den altmodisch schönen Salons der akademischen Oberschicht.
Wahrscheinlich sind solche Salons das für Jerusalem typische Milieu der klassischen intellektuellen Linken. Mehr jedenfalls als das vor allem von Palästinern bewohnte Viertel, welches die Stadtverwaltung demonstrativ zu vernächlässigen scheint — und wo ein international bedeutender Sanskritforscher lebt, um mit seiner Familie die den Palästinern auferlegte Lebensorm zu teilen. Mehr auch natürlich als die Viertel der in schwarz gekleideten ultra-orthodoxen Juden, in denen am Samstag keine Autos fahren dürfen, wo die Haare der Frauen unsichtbar bleiben und mehr Kinder auf der Straße spielen als irgendwo sonst in Jerusalem. Den Ultra-Orthodoxen aber gilt eine durchgängige Sympathie der politischen Linken, weil sie ihre ausschließliche Konzentration auf das Studium der religiösen Texte (für die sie finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten und vom Wehrdienst befreit sind), weil sie ihr Yeshiva-Studium in der Alltagspolitik zu interesselosen und mithin gegenüber allen kulturell Anderen toleranten Bürgern werden lässt (solange nicht staatliche Regelungen sie an der Einhaltung des jüdisch-religiösen Gesetzes hindern).
Und wer sind die politisch Rechten, die Anhänger der Likud-Regierung? Man trifft sie nicht, selbst in Jerusalem nicht, solange man vor allem unter akademischen Intellektuellen verkehrt – was belegt, dass jene “tiefe Spaltung,” von der nun beständig und im Blick auf alle Gesellschaften die Rede ist, auch durch die israelische Gesellschaft geht. Sind die anderen Juden vielleicht jene Siedler, die unter dem militärischen Schutz der Regierung und unter erheblichem Einstz von Steuergeldern eine insulare jüdische Präsenz in Territorien durchsetzen, die politisch langfristig einer palästinischen Verwaltung zugedacht sind? Selbst hier folgt – schwer nachvollziehbar für Ausländer – auf die erste, offensichtliche Teilung, eine weitere überraschende Teilung. Denn neben den ideologischen Anhängern und Aktivisten einer jüdischen Politik der Stärke (die mir persönölich nicht implausibel ist, aber das tut hier nichts zur Sache), leben in den “Settlements” auch, wie man in EU-Europa sagen würde, “sozial schwache” jüdische Familien, die unmittelbar nach der Einwanderung vom zuständigen Ministerium dorthin vermittelt wurden – oder einfach, oft ohne politische Beistimmung, die günstige finanzielle Ausnahmesituation der Siedlungen nutzen wollen.
All jene Formen des Zusammenlebens von verschiedenen Gruppen, die sich auf Einsicht, Toleranz und guten Willen verlassen, können freilich in Jerusalem plötzlich zu beklemmenden und dann manchmal auch physisch gefährlichen Situationen werden. So zum Beispiel ein am Ende der Saison sportlich ganz bedeutungslos gewordenes Fussballspiel der zweiten israelischen Liga zwischen Nazareth, der Mannschaft aus der “arabischen Hauptstadt” des Nordens, gegen Hapoel Katamon Jerusalem, einen Club, der aus der jüdischen Arbeiterbewegung hervorgegangen ist und heute Inklusion auf seine politischen Fahnen geschrieben hat. Beim Stand von 3:0 für Hapoel zeigt der Schiedrichter der Nummer Sechs aus Nazareth eine vertretbare, aber angesichts des Vorsprungs der Heimmannschaft durchaus irrelevante rote Karte. Zwei Nazareth-Spieler protestieren (eher zurückhaltend) – und werden ebenfalls vom Platz gestellt. Für die verbleibenden fünfundzwanzig Minuten legt sich die politische Unversöhntheit als rohe körperliche Gegenwart über das Stadion, über das Spiel und über den 6:1-Endstand.
Was macht Leben und Über-Leben in dieser unendlich geteilten Stadt überhaupt möglich? Die Standardantwort der Hardliners verweist natürlich auf die sichtbare Präsenz des Militärs und der Polizei, auf all die jeden Moment einsatzbereiten Maschinenpistolen, an deren Läufe man sich über die Wochen gewohnt. Etwas optimistischer und vielleicht auch realistischer ist es, an die erstaunliche Fähigkeit der Bewohner von Jerusalem zu erinnern, sich an sehr kleinteilige und differenzierte Verschreibungen zu halten. Es gibt Teile der Altstadt, wo man am Samstag kein Feuerzeug verwenden kann, und palästinische Viertel, wo höchstens das Gesicht weiblicher Körper sichtbar werden darf. Wirkt hier eine Konvergenz der islamischen und der jüdischen Tradition, wirkt hier die Fähigkeit und Entschlossenheit, textuelle Verschreibungen bedingungslos und in unendlicher Differenzuerung ernstzunehmen, ohne persönliche Aneignung oder gar Hinterfragung?
Vielleicht muss sich solche kleinteilige Wirksamkeit noch über viele Generationen ohne eine übergreifende Lösung bewähren – davon geht zum Beispiel Amos, mein Vermieter, aus. Denn die Toleranz, auch die Toleranz der Tolerantesten, hat eine Grenze in Jerusalem, von der die jüdische Linke kaum redet. Es ist ihre bedingungslose eigene Entschlossenheit zu bleiben, die von den meisten Palästinern als zionistisch gedeutet – und von vielen internationalen Beobachtern als in ihrer historischen Legitimität problematisch angesehen — wird, obwohl gar nicht klar ist, ob die Araber oder die Zionisten zuerst Besitzansprüche auf das Territirium des heutigen Israel erhoben haben. Ein Konsensus oder gar eine politische Lösung sind jedenfalls nicht in Sicht – und eben nicht einfach deshalb nicht, weil es den beteiligten Parteien an politischem Geschick oder an Verhandlungsbereitschaft fehlt.
Die Unmöglichkeit steht, wörtlich fast, im Raum von Jerusalem — und vielleicht machen gerade sie und die zu ihr gehörenden Spannungen diese Stadt so singulär, so existentiell schön. Kein Wort, keine Bewegung und kein Schritt sind beliebig hier, sind ohne Konsequenzen oder notwendige Deutung, nichts ist nur ein Spiel. Kein Leben gewiss, das alle Menschen leben wollten — und deshalb vielleicht fällt der Kontrast zu dem sorglosen Tel Aviv mit seinen Stränden so farbig aus in diesem Land. Aber trotzdem will mein palästinischer Kollege an der Hebrew University, der in Kopenhagen geboren ist und sich auf seinen dänischen Pass verlassen könnte, in Jerusalem leben – und träumt zugleich davon, dass seine Kinder in der Schweiz oder in den Vereinigten Staaten studieren und dort ihr Leben finden, “weil man leichter aus einer überlegenen Position tolerant sein kann.” Maurice, so sein wenig palästinischer Name, bleibt in Jerusalem – so wie (und ich schreibe das ohne Ironie oder Sarkasmus), so wie wie viele Leser und Theaterbesucher vor allem an tragischen Stoffen Gefallen finden.
Dann das schöner zu finden und als Existenzform vorzuziehen, was schwerer ist, kann eine Option für das Leben sein, eine Option, die sich nicht allein unter den Vorzeichen ästhetischer Autonomie anbietet.