Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Deutsche Summer Looks: Büstenhalter, Leggins und Glitzer-Turnschuhe

Für meinen hoffnungslos heterosexuellen Blick, der homosexuelle Freunde über die Jahre zu allerhand ironisch oder ernst gemeinten Gegen-Identifikationen hinter freudianischen Vorzeichen provoziert hat, für meinen heterosexuellen Blick, den ich in der kalifornischen Heimat unter Kontrolle zu halten gelernt habe und der sich längst schon auf dem Weg zu sichtbarer Altersunangemessenheit befindet, für diesen Blick, der auf der anderen Seite nie recht erwachsen wurde, ist der Sommer natürlich die Jahreszeit und Deutschland das Land der Büstenhalter. Das kann – noch einmal freudianisch – kaum jemanden verwundern, weil ich in Deutschland aufgewachsen bin und mit dieser besonders unwiderstehlichen Faszination anscheinend schon früh Besorgnis und Amusement geweckt habe. Ich war noch nicht eingeschult, als ich eine Freundin meiner Mutter gebeten haben soll, sich auf den Tisch zu stellen und ihren Büstenhalter auszuziehen. Anders als dies wohl bei den meisten Eltern unserer Gegenwart der Fall wäre, nahmen mein Vater und vor allem meine Mutter, die lebenslang auf ihren in den rohstoffarmen Wochen der sogenannten “Währungsreform” gefassten Entschluss stolz blieb, mich nicht zu stillen, anders als heute und im Geist ihrer Generation nahmen meine Eltern den exzentrischen Wunsch “mit Humor” (wie man damals noch lieber sagte als jetzt) und fragten sich (bis ins hohe Alter, weil sie nie aufhörten, die Anekdote zu kolportieren), ob ich nur vergessen hatte, “Tante Reni” auch zum Ablegen ihrer Kleider aufzufordern oder doch ein ganz besonders kompliziertes Szenario in meinem Kinder-Sinn hatte.

Das Wort “Büstenhalter” war mir damals, glaube ich mich zu erinnern, noch nicht peinlich (aber ich glaube auch, mich an die nackte Tante Reni auf dem Tisch erinnern zu können, was sehr wohl ein bloßer Effekt der immer wieder gehörten und erzählten Geschichte sein mag). Für Erwachsene jedenfalls scheint dieses Wort von übergreifender Peinlichkeit zu sein, wofür ja auch die Tatsache spricht, dass sich unter Frauen die Abkürzung “BH” eingespielt und (wenigstens über die beinahe sieben Jahrzehnte meines Lebens) nie verändert hat. Das Peinlichkeitspotential des Worts hängt weniger von seinem Inhalt ab oder, sozusagen, weniger vom konkret begehrten Inhalt seines Inhalts, als von einer verbalen Ungelenkigkeit, mit der dieser Inhalt heraufbeschworen wird. Vielleicht ist sie ja unvermeidlich – denn das französische “soutien gorge” und das spanische “sostén” erzeugen Varianten derselben Wirkung, während das angloamerikanische “bra” (von französisch “brassière”) gar auf eine andere Sprache ausweicht.

Unfreundlich wirkt vor dem Hintergrund alltäglicher Durchschnitts-Galanz ja schon die schweigende Unterstellung, dass ein solches “Halten” angebracht sei (so sehr sie auch der jeweiligen anatomischen Wirklichkeit entsprechen mag); halb-skandalös ist der Tagtraum, einen weiblichen Körper von hinten zu umschlingen, um seine Brüste zu halten; und als geradezu wilhelminisch oder viktorianisch nehme ich die sprachliche Transformation der vom Büstenhalter “gehaltenen” Brüste in eine “Büste” wahr (das Wort ruft unvermeidlich Bilder von “Germania” als Allegorie der deutschen Nation wach, in deren eiserne Rüstung eine “Büste” eingelassen schien).

“Busen” ist das mir am wenigsten unbequeme Wort geblieben, so sehr ich auch bemerke, dass es zur Welt der Milchbars und Pettycoats aus den fünfziger Jahren gehört, mit Conny Froboess im Fokus und Marilyn Monroe am Horizont, und vor allem weiss ich, dass die von Wörtern für Geschlechtsteile aktivierte Peinichkeit kein wirkliches, das heißt in diesem Fall: kein verbales Ende haben kann. Zurück zum Anfang also und zu der von jedem beginnenden Sommer aufgeworfenen Frage, ob die sich abzeichnenden Looks Anlass zur Hochrechnung von neuen Büstenhalter-Tendenzen geben. Allerdings gibt uns auch diese spezifische Frage als historische eine grundlegendere Vor-Überlegung auf, die sich auf den gegenwärtigen Stand der Büstenhalter-Geschichte richtet (und irgendwie erinnert es mich an die großen englischen Romane des späten achtzehnten Jahrhunderts, an Sterne’s “Tristram Shandy” vor allem, wenn ich sehe, wie schwierig es ist, zur Sache zu kommen).

Die unvergessliche und aus zwei Perspektiven “radikale” Schwelle in der Büstenhaltergeschichte meiner Lebenszeit jedenfalls markieren, wie in sovielen anderen gesellschaftlichen oder politischen Hinsichten, die späten sechziger und frühen siebziger Jahre, als die (und ich übersetze aus dem Englischen) berühmt “büstenhalterlosen Jahre.” Der zugleich programmatische und bewusst provozierende Verzicht hatte zwei Motivationen, die in eigentümlicher Weise konvergierten und sich widersprachen. Auf der einen Seite stand der Protest gegen einen angeblich nur Frauen “von der Gesellschaft” auferlegten Zwang, ihren Körper in die Norm eines Formrahmens zu zwingen und ihn damit den Projektionen männlicher Begierde (oder auch Prüderie) anzupassen. Dem Widerstand gegen einen Zwang stand auf der anderen Seite der Anspruch gegenüber, als handelndes, sexuell mündiges Subjekt den eigenen Körper strategisch zur Erfüllung der eigenen Begierde einzusetzen – supplementiert durch die Unterstellung, dass nicht büstengehaltene Brüste in diesem Zusammenhang zu einem Positionvorteil führten.

Da beide Motivationen im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen fünfzig Jahre viel von ihrem Provokationspotenzial und mithin von ihren Funktionen verloren haben, liegt die büstenhalterlose Zeit inzwischen längst hinter uns – und eigentlich wartet die These nur auf empirische Bestätigung, dass sich Erotik überhaupt aus der gesellschaftlichen Sphäre weitgehend in die Welt der Privatheit zurückgezogen hat (keinesfalls in Reaktion auf erneut verschärfte Kontrollnormen allerdings, sondern – paradoxalerweise – gerade weil der Kampf zugunsten individueller Verfügung über sexuelles Verhalten und gegen einschlägige soziale Begrenzungen mittlerweile gewonnen ist).

Wahrscheinlich in Folge dieser profunden (obwohl erstaunlich selten kommentierten) Veränderungen sind mittlerweile vor allem während der Sommermonate Büstenhalter mehr und Brüste weniger sichtbar geworden (was Männer meiner Jahrgänge über Effekte der Überraschung und der Enttäuschung immer wieder daran erinnert, wie sehr alt sie geworden sind). Der “tiefe” oder gar “gewagte Ausschnitt” und das “glamoröse Décolleté,” deren Ästhetik die Kunst des andeutenden Verhüllens war, grüßen heute eigentlich nur noch aus der Vergangenheit, vor allem aus dem Archiv historischer (“La Dolce Vita”) und über das Medium historisch detailgenauer Filme, deren Handlung in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts liegt. Das war die Zeit von Sophia Loren — und von Marilyn Monroe, die im Stil der körperlichen Selbstpräsentation während ihrer allerletzten Lebensjahre eine (für uns inzwischen längst vergangene) Zukunft vorweggenommen hat. Büstenhalter jedenfalls konnte (und sollte) der zum Maximum von Begierde und Enthaltsamkeit gebrachte männliche Betrachter damals nur ahnen – ihre Präsenz je sichtbar werden zu lassen, galt entweder als Geste am Rand der Pornographie oder musste als bedauerliches Versehen identifiziert (und dann auch entschuldigt) werden.

Mittlerweile ist es längst zur Konvention geworden, Büstenhalter-Träger nicht nur zu zeigen, sondern zum Teil von Farb-Ensembles innerhalb der jeweils gewählten Kleidung zu machen. An die Stelle der glamorösen Décolletés sind – allerdings nur bei sozialen Ereignissen der höchsten Öffentlichkeits-Kompression (wie etwa der Oscar-Verleihung) – geometrisch gewagte Konstruktionen getreten, in denen das zur Gänze sichtbare Büstenhalter-Substitut mehr Aufmerksamkeit erregt als die von ihm kaum mehr verhüllten Brüste. Bei der misslungenen Kopie der Super Bowl Halbzeitshow anlässlich des diesjährigen deutschen Fussball-Pokalendspiels etwa fiel Helene Fischer mit einem Top auf, das seitenoffen ihren dunklen Büstenhalter inszenierte, während die Brüste (“ihre Formen,” wie man einst metonymisch gesagt hätte) durch den selben lockeren Schnitt ganz und gar neutralisiert waren – was übrigens genau der angeblichen Show-Intention entsprach, mit der sich Janet Jackson nach der Superbowl-Show 2004 für den angeblichen “Unfall” entschuldigte, der eine ihre Brüste vor hundertvierzig Millionen Fernsehzuschauern offenlegte.

Unverbesserlich altmodische (oder eben einfach alte) Männer können selbstverständlich in einer Assoziationssequenz ihre Brüste-Imaginationen von den so freizügig zur Schau gestellten Büstenhaltern anregen lassen, doch darin kommt wohl nicht mehr als ein verblassender Effekt der Stuktur von der chronologischen Gleichzeitigkeit des historisch Ungleichzeitigen zum Vorschein, anders gesagt: ein Blick, der sich selbst überlebt hat. Die begrifflich gewagteste und historisch wohl innovativste These meiner Überlegungen hingegen gehört einzig und allein in den Rahmen der allgemeinen erotischen Entspannung — und führt von den Büstenhaltern zu den Leggins. Denn Leggins vervollständigen ja offensichtlich die langfristige Tendenz zur Wieder-Bedeckung weiblicher Haut, nun auf der unteren Körperhälfte – und ermöglichen so ganz ohne Provokation und primäre Erregungsauslösung die prinzipiell unbegrenzte Verkürzung von Röcken und Shorts.

Auch Leggins deuten also auf ein erotisches Potenzial, das sich aus dem sozialen Raum zufälliger Begegnungen zurückgezogen hat — und genau in dieser Weise geben sie ihren Neutralisierungseffekt an Schuhe mit immer höheren Absätzen und immer komplizierteren Arrangements von Schnallen oder Riemen weiter, die, wie könnte das ausbleiben, mit immer weniger Lederfläche kombiniert werden, aber nur selten Haut, sondern meist eben bloß den Stoff von Loggins bedeckend inszenieren. Gegen die letztlich auf Erzeugung sozialer Distanz angelegten Extreme der höchsten Absätze, der kürzesten Röcke und der sichtbarsten Büstenhalter setzt der beginnende Sommer allerdings auch Gesten von ostentativer Normalität: Büstenhalterschalen, die sich unter T-Shirts abzeichnen, weil sie nichts verbergen wollen (und manchmal auch gar nichts zu verbergen haben), Leggins unter Röcken in konventioneller Knielänge, die eher zum Herbst passen wollen – und pastellfarbene Turnschuhe, manchmal mit Glitzer-Effekten.

Sollte man also sagen, dass die deutschen Frauen von heute “individuell gut verpackt” sind für den Sommer? Wie jeder Satz zwischen dem männlichen und dem weiblichen Pol des Geschlechter-Spektrums kann auch dieser alle möglichen ablehnenden, kritischen oder abwehrenden Reaktionen auslösen, die vorab und ohne Ausnahme in sich plausibel sein werden. Auffällig scheint mir jedenfalls, wie spürbar den meisten Frauen – vor allem im Vergleich zu den Männern des Landes — an ihren Aussehen liegt, ohne dass sich darin eine Spur von Unterwerfung abzeichnet, denn ihre Verpackungen zeigen einerseits deutlich individuelle Züge und funktionieren andererseits kaum je wie Strategien der Verführung. Eher deute ich sie als eine ihrer selbst immer bewusster werdende Zuwendung auf die Gesellschaft, auf alle Anderen – die im Kontrast zu dem anscheinend auf männlich-deutscher Seite dominanten Gefühl steht, ein Selbst ohne Retouchen sein zu dürfen oder sogar sein zu sollen. Und hier liegt keinesfalls ein aus der Vergangenheit ererbter Unterschied zwischen den Geschlechtern, der im Verschwinden begriffen ist — oder bestenfalls stagniert.

Eher erlebe ich den Sommer und seine deutschen Looks wie ein Kompliment, das sich die Frauen des Landes ganz absichtslos machen. Oder sind meine Reaktion und ihre Beschreibung doch nur Symptom eines Alters, dem die Begierde verlorenzugehen beginnt? Oder auch Sympton einer Zeit und Gesellschaft, die mir davongelaufen sind? Warum nicht. “Tante Reni” war schon 1959 bei einem Narkose-Unfall gestorben.