Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Was wartet jenseits der Siebzig?

Mein Großvater starb 1958, in seinem zweiundsechzigsten Lebensjahr. Wie jeden September war er zur Kur nach Bad Wildungen gefahren, um mit viel Schlaf, kalorienarmem Essen, gemächlichen Spaziergängen auf der Promenade und drei Gläsern mineralhaltigen Wassers pro Tag unter ärztlicher Aufsicht und ohne wirkliche Hoffnung auf anhaltende Besserung etwas “für” (sagte man damals noch, nicht “gegen”) seine chronischen Herzbeschwerden zu tun. Ein kaum vergilbtes, postkartengroßes und von einem Berufsphotographen pompös signiertes Bild aus jenen Wochen hat mich durchs Leben begleitet. Es zeigt einen alten Mann, Gehstock in der rechten und Wasserglas in der linken Hand, dem es sichtbare Anstrengung kostet, sich in der damals noch üblichen Monumental-Pose zu präsentieren: eher mit würdigem Ernst durch seine dicken Brillengläser denn freundlich in die Kamera blickend, die Glatze unter dem unvermeidlichen Hut mit breitem Rand versteckt, im Anzug, die Krawatte über dem ausladenden Bauch und in zur Form von Stiefeln mutierenden Schuhen stehend, die er sich von der “Hausangestellten” und manchmal auch von mir morgens schnüren und abends (im wörtlichsten Sinn) aus-ziehen lassen musste.

Die behandelnden Ärzte (und meine Eltern als ihre jüngeren Kollegen) führten Spekulationen über jene hartnäckigen Herzbeschwerden immer wieder bis hin zu den “nasskalten Nächten in den Schützengräben” des Ersten Weltkriegs, für den sich mein Großvater als siebzehnjähriger zweiter Sohn eines armen Bauern freiwillig gemeldet hatte; sie erwähnten seine Arbeit als Bergmann in Dortmund Hörde; das ebenso hektische wie einträgliche Leben als im Schutz der Staatspartei über eine Reihe von “Stehbierhallen” herrschender, Zigarren-rauchender “Unternehmer” in einem Stadtteil, dessen Namen keiner nannte; und vor allem diskutierten sie die ihn körperlich anscheinend überfordernde Notwendigkeit, seine “Geschäfte” bis ans Lebensende einträglich zu halten, die er um eine winzige Fabrik für hochprozentigen Likör und um einen nicht recht in Schwung kommenden “Großhandel” mit Moselweinen erweitert hatte.

Niemand war überrascht vom Tod des erschöpften alten Mannes, den seine Energie und die Freude an Zahlen soviel weiter gebracht hatten, als er nach nur sechs Jahren Volkschule hatte hoffen dürfen, und den ich mit viel Bewunderung liebte, weil er in der Ruinenwelt meiner Kindheit (und sehr wahrscheinlich “über seine Verhältnisse”) an einem großen Auto (“schwarzer Opel Kapitän mit roter Schnauze und Weißwandreifen”) festhielt und auch an dem livrierten Chauffeur (der Fritz Rolleiczek hieß). Dass meine Großmutter auf seiner Beerdigung viele gekonnte Tränen vergoss und dem ins Grab sinkenden Sarg nachrief, “Hans, wer hätte gedacht, dass Du so nachhause zurückkehrst!” hielt meine Mutter für “übertrieben” – und wohl nicht nur, weil ihr an sichtbarer Stil-Differenz gegenüber der “ungebildeten Stief-Mutter” gelegen war.

Ausnahmen von solcher Alters-Erschöpfung, wie den so unendlich greisenhaft aussehenden, aber sprichwörtlich geistesgegenwärtigen Bundeskanzler Konrad Adenauer jener Jahre, hatte es natürlich immer gegeben, doch im allgemeinen starben Männer damals jenseits der Sechzig, bestenfalls am Beginn des Pensionsalters stehend, vom Leben ausgelaugt – und hinterießen ihren Frauen noch ein Jahrzehnt als Grabschmuckpflegerinnen und lebende Vergangenheit schlechthin. So war es wohl immer gewesen, nicht allein im Stehbierhallen-Milieu, sondern ebenso unter Gelehrten, wie dem berühmten französischen Mittelalter-Forscher Gaston Paris, der 1903 vierundsechzigjährig auch während einer Kur starb — und schon auf seinen letzten Photographien ausgesehen hatte wie ein lebendes Bild der zähen Möglichkeit, sich selbst zu überleben.

Weder Gaston Paris noch Hans Bender, mein Großvater (fünfeinhalb Jahrzehnte später), waren an ihren Todestagen jener Schwelle der siebzig Jahre auch nur nahe gekommen, die Donald Trump bereits überschritten hatte, als er im vergangenen November zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Die Anlässe und Gründe, unglücklich über diesen Präsidenten zu sein, scheinen gegen Unendlich zu gehen – doch mit fortgeschrittenem Alter haben sie kaum zu tun. Selbst die erheblichen Alters-Unterschiede gegenüber seiner Frau und seinem jüngsten Sohn wirken bei ihm nicht mehr grotesk oder gar anstößig (wie es bei einem neu verheirateten Konrad Adenauer gewiss der Fall gewesen wäre). Vielmehr steht Donald Trump für eine von drei Grund-Möglichkeiten, heute mit seinem Leben über die Siebzig hinaus etwas anzufangen – und zwar unter jener von der Medizin im vergangenen halben Jahrhundert eroberten Zeit-Ökonomie, welche die Siebzig zu einer Grenze als Schwelle und Übergang macht, während sie die Siebzig als ehemaligen Grenz- und End-Wert durchstreicht.

Offenbar ist das Präsidenten-Amt für Trump jener Traum-Beruf und jene Wunsch-Erfüllung, die anzustreben sich nur die (vor allem finanziell) Privilegiertesten unter uns Alten leisten können. Sie lässt sich – als Luxus-Variante — dem von Peter Sloterdijk eigentlich erst entdecken und überzeugend analysierten Imperativ heutiger Gesellschaften zuordnen, nach dem man beständig “sein Leben ändern” muss. Zugleich steht sie als Wunsch-Erfüllung nach dem Abschied von jenem Beruf, der im Zentrum des Lebens gestanden war, hinter einem besonderen (kaum je explizit werdenden) Vorzeichen des Spiels und der Entspannung. Erst unter dieser Prämisse wird Trumps überraschte (und für viele Zeitgenossen allzu überraschende) Bemerkung plausibel, er habe mit der Arbeits-Intensität seines Lebens im Weißen Haus beileibe nicht gerechnet.

Weniger spektakulär, weniger “typisch männlich” und auch deshalb eher generell zugänglich ist die zweite Planungsform des letzten Lebens-Kapitels, nach der man seinen (angeblich schon immer als Berufung geliebten) Beruf nun endlich enthoben von allen institutionellen Pflichten und meist auch wirtschaftlichen Zwängen weiterführen zu können glaubt. Zentral ist sie, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, in der Vorstellungswelt und Rhetorik von Lehr-Berufen, wo das Ende der Unterrichtstätigkeit zu der Erwartung führt, sich nun ausschließlich – und deshalb mit der Wirkung eines Kreativitätsschubs – auf “das Eigentliche” konzentrieren zu können, nämlich auf jene “Inhalte,” um deren Faszination es doch von Jugend an gegangen sei. Natürlich bleiben abgeschlossene Forschungs- oder Buch-Projekte (um von tatsächlich bemerkenswerten Arbeiten erst gar nicht zu reden) die Ausnahme, während sich das permanente Aufschieben unter der Illusion unendlicher Verbesserung tatsächlich auf dem Weg zu einer auch demographisch substantiellen Existenz-Idylle befindet. Alles – oder doch zumindest die Gnade solch vermeintlicher Spät-Kreativität – hängt von dem Geschick ab, sich die als Latenz stets drohende Selbst-Desillusionierung zu ersparen.

Schießlich winkt drittens – vor allem aus der Werbung für Prostatiker-Pillen, mild romantische Kreuzfahrten oder bildungsintensive Kulturreisen – eine Upgrade-Form jenes angeblich “wohlverdienten” Lebensabends der alternativenlosen Erholung (vom erschöpfenden Beruf), die mein Großvater nur noch im Rahmen seiner Kuraufenthalte (und ohne volle Berufs-Entlastung) erreichte. Heute hat das Problem dieser Variante längst nicht mehr mit irgendeiner Unerreichbarkeit aus Gesundheits- oder Krankheits-Gründen zu tun, sondern mit dem geringen – und offenbar immer weiter fallenden – Prestige eines Alters ohne “jugendliche” Projekte. Die Vorstellung von Trump als beständigem Kunden seiner eigenen Golf-Hotels mag für uns inzwischen zu einem Horizont säkularer Erlösungs-Hoffnung geworden sein, doch er könnte sein eigenes hochneurotisches Bedürfnis, sich täglich die eigene Bedeutung zu beweisen, dort nicht annähernd befriedigen – so wie ja auch Altersexualität nur als welke Form fragiler Zärtlichkeit in der sozialen Welt von Bildern und Vorstellungen zu vegetieren vermag.

Auf die von der Medizin für die meisten von uns Alten gnadenlos ermöglichte langfristige Sicht erwarten uns ja nicht etwa Traumberufe und Kreativitätsschübe – sondern Demenz und Alzheimer als wahrscheinliche Stadien, in denen – um bei einer klassischen Unterscheidung zu bleiben – Körper-Funktionen geistige Funktionen überleben, was das bloße Altmodisch-Sein als bisher übliches “Sich-selbst-Überleben” maximal verschärft. Eine finanzielle, soziale und auch Technologie-bedingte Abhängigkeit in einem Stadium schwindender Selbst-Transparenz, die niemand vorwegnehmen kann, weil noch niemand je aus ihr zurückkehrte, das ist mit möglicherweise exponentiell wachsender Wahrscheinlichkeit ein End-Szenario unseres Lebens. Und es setzt sich – gnadenlos, noch einmal – in einer Umwelt durch, deren Jugendwahn innerhalb ähnlicher Zuwachsraten schwillt.

Möglicherweise leben wir im Kontext der simplen sozialen Logik (und der eher banalen soziologischen Einsicht), dass der Wert von Jugend (als “Ware” sozusagen) in dem Maß wächst, wie sie demographisch die Oberhand verliert. Einem Überangebot von jugendlichen Lebensformen sind wir in einer Welt ausgesetzt, die – aus der Gegen-Perspektive gesehen – nichts dringender bräuchte als neue Formen der Würde und vielleicht sogar der Anmut des Alters (was immer man sich unter “Anmut des Alters” vorstellen mag). Würdig zu sein für den Photographen und für die ihn bald überlebende Familie, das gelang meinem Großvater trotz aller Schwierigkeit – und manchmal kommt mir der Gedanke, dass ich ihn gerade wegen dieser Bemühung, die ich als Kind natürlich nicht wahrnehmen konnte, so sehr geliebt habe. Denn einer von jenen Märchen-Großvätern, die mit den Enkeln Karten spielen oder zum Angeln und bedeutungslosen Bundesligaspielen gehen, war er beileibe nicht; eher hatte er alle Hände voll zu tun, die eigene Blindheit gegenüber dem Aufstieg und Fall seines Lebens zu bewahren.

Der Tod im zweiundsechzigsten Lebensjahr erlöste ihn auch von einer Todes-Angst, die so panisch geworden war, dass er Fritz Rolleiczek angewiesen hatte, Friedhöfe “weiträumig zu umfahren” (wie wir jetzt sagen). Wäre er neunzig geworden, dann hätte er sich kaum – in Würde — vor dieser Todes-Angst schützen können. Denn das Leben zum Tod(e) scheint nur wenige – lebbare – Formen zu haben.