“Romantisch” im doppelten Sinn des Worts und deshalb sogar potenziell nostalgisch war das vergangene Krawall-Wochenende in Hamburg auch, neben sovielen anderen Effekten und Aspekten. Romantisch und nostalgisch, weil es im Kontext einer europäischen Gegenwartskultur, die jeglichen Gebrauch von Gewalt unter Tabu und Verbot gesetzt hat, daran erinnerte, dass Gewalt einst (vor allem im hoch kanonisierten Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen) als ein legitimes Mittel – wenn nicht gar als ein Wert – der Politik galt; romantisch und nostalgisch aber vor allem, weil nicht wenige der gewaltsam Protestierenden – nach langer Zeit wieder einmal – explizit und in normativer Absicht auf den Marxismus Bezug nahmen, sobald sie nach den Zielen ihrer Aktionen, das heißt: nach ihren Vorstellungen von einer besseren Zukunft, gefragt wurden: “China vor 1976” war der Kern der meisten Antworten, also das China vor dem Tod Maos und vor der politischen Liquidierung seiner “Kulturevolution,” an die sich eine neue Verwaltungs-Bourgeoisie zwischen Peking und Schanghai heute offenbar wie an eine goldene Zeit erinnern will.
Wenn Mao zu Lebzeiten gottgleiche Verehrung und Macht genoss, so hat diese quasi-transzendentale Präsenz aus der Vergangenheit der fünfziger und sechsziger Jahre “ihren Tempel (ihr Mausoleum in der chinesischen Hauptstadt) inzwischen längst verlassen,” um einen Ausdruck Heideggers aus dem Aufsatz über den “Ursprung des Kunstwerks” zu verwenden. Kaum Verehrer finden sich dort noch ein, die offiziellen Besuchszeiten sind auf ein wöchentliches Minimum reduziert — und der tote Mao teilt dieses Schicksal mit all jenen zu ihrer Zeit (vermeintlich?) großen nationalen Gestalten, in denen sich die Ideen von Karl Marx konzentriert und verkörpert zu haben schienen: mit Lenin, dessen balsamierten Leichnam heute kaum mehr jemand in Moskau zu sehen bekommt, so dass Gerüchte über einen physischen Verfall die Aura der Erinnerung längst verdrängt haben; mit Stalin, dessen zwei Jahre vor seinem Tod feierlich eingeweihte Geburts-Gedenkstätte im georgischen Geburtsort Gori jetzt mit der bewusst beibehaltenen Ursprungs-Choreographie von 1951 nur noch unglückliche Zeiten der Abhängigkeit von der Sowjetunion wach halten soll; und Ähnliches wird wohl eher oder später auch für die Zukunft der äquivalenten Kult-Gestalten in Vietnam, Kuba oder Nordkorea gelten.
Falls aber in der Anrufung von “China vor 1976” als einer Inspiration kollektiver Glücks-Imagination mittlerweile der Verweis auf die Gestalt Maos verblasst und tatsächlich ausgefallen ist, dann können sich diese Worte nicht mehr auf institutionelle Formen des “Marxismus” als eine Staats-Ideologie beziehen, sondern allein auf die Ideen von Karl Marx, welche über fast ein Jahrhundert selbstredend als offizielle, aber doch nur selten wörtlich genommene Matrix des Marxismus galten. Dass eben diese Ideen nicht mit den Niederlage oder dem Kollaps ihrer vielfältigen institutionellen Verwirklichungen verschwunden sind, stellt sie weltkulturell gesehen selbst über die heiligen Schriften der drei großen monotheistischen Religionen, die Tora, die Evangelien und den Koran. Oder, anders und etwas differenzierter gesehen: den Ideen von Marx kommt als säkularem Text-Korpus ein absolut singulärer Status hinsichtlich der Breite und verhaltensbestimmenden Intensität ihrer Rezeption zu; doch auch im Vergleich zum Schrift-Kanon der monotheotischen Religionen sind sie singulär, weil bis heute allein sie gezeigt haben, dass es möglich ist, eine lebendige Text-basierte Resonanz über das Ende der sich auf sie berufenden institutionellen Wirklichkeiten hinaus zu bewahren.
Die Assoziation des Werks von Marx mit Heiligen Schriften ist in diesem Kontext durchaus nicht kritisch gemeint, so als hätten sie ihre eigene Insistenz auf Säkularität verraten, sondern sie versucht Aufmerksamkeit auf das Phänomen ihrer einzigartigen Rezeptionsgeschichte und deren Voraussetzungen zu lenken, an die sich nicht nur die Intellektuellen unter uns Zeitgenossen als ein Faktum einfach gewöhnt haben. Auch alle denkbaren weder politischen noch religiösen Vergleichsfälle bleiben weit hinter Marx zurück: Freuds Einsichten und Thesen haben in den sukzessiven Stufen ihrer Umformung einen nachhaltigen Einfluss auf das individuelle Leben in westlichen Kulturen gehabt, aber eben nie auf ihre kollektive Dimension; Rousseau galt den bürgerlichen Revolutionären des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunders als verehrenswerte Referenz, ohne dass seine Texte je im Sinn von direkten Handlungsanweisungen ernst genommen wurden; das Werk von Figuren wie Plato, Descartes oder Kant schließlich hat gewiss viele Generationen von Intellektuellen geprägt, jedoch nie einen Einfluss auf das Leben gesellschaftlicher Mehrheiten gehabt. Wie lässt sich diese in mehreren Hinsichten also wirklich einmalige Attraktivität der Texte von Marx erklären? Von welchen immanenten Komponenten könnte sie abhängen?
Relevant ist hier die Beobachtung, dass die Texte von Marx – trotz des (wie gesagt) durchaus ernstzunehmenden Säkularitäts-Vorzeichens – immer wieder bei ihrer Umsetzung in politische Ideologien (bei ihrer Umsetzung in verschiedene “Marxismen”) bestimmte Verhaltens-Formen ausgelöst haben, welche aus philologischer Sicht durchaus der Typologie von religiösen Texten entspricht. Vor allem in der Unterstellung, dass sich diese Schriften “an uns alle richten,” nicht allein an die Freunde, Antagonisten und anderen Zeitgenossen von Karl Marx, sondern an Milliarden von Menschen seiner vergangenen Zukunft, deren Lebensumstände er sich nicht vorstellen konnte — diese Unterstellung von einer alle historischen Differenzen überspringenden unmittelbaren Wirkungsmächtigkeit hat der protestantische Theologe Rudolf Bultmann bezüglich der Evangelien mit dem Begriff des “Kerygma” beschrieben. Zweitens kamen schon sehr früh nach der sowjetischen Oktoberrevolution, als erstem sich selbst als von Marx inspiriert verstehendem politischen Ereignis, scharfe Diskussionen auf über den als kanonisch zu bewahrenden Bestand seiner Texte in ihrer präzisen Wörtlichkeit und vor allem über ihre autoritative Auslegung. Es war wohl der letzte – sich langfristig durchaus negativ auswirkende – Triumph im politischen Leben von Lenin, eben diese Autorität der Text-Pflege und der Text-Auslegung an die kommunistische Partei gebunden zu haben (mit negativen Konsequenzen in der Tat, weil sich die Partei so der Möglichkeit begab, durch immer neue Interpretationen – gleichsam von außerhalb – über ein Potenzial von Veränderungs-Anregungen und Realitäts-Alternativen zu verfügen).
Freilich machen solche Beobachtungen die Frage nach den Gründen für die Singularität der Ideen von Karl Marx nur noch dringender und interessanter – ohne sie schon zu beantworten. Naturgemäß werden Lösungs-Vorschläge auf den Ebenen der Spekulation und verschiedener Grade von Plausibilität verbleiben müssen, denn empirische oder strikt logische Evidenz kann es in diesem Zusammenhang nicht geben. Eine Reihe möglicher Antworten immerhin lässt sich aus heutiger Position vorab ausscheiden. Die Beschreibungen der “klassenlosen Gesellschaft” zum Beispiel, als jener neuen Form kollektiven Lebens, welche revolutionäres Handeln motivieren sollte, bleiben im Werk von Marx erstaunlich blass – weil sie kaum je den Gedanken an das Verschwinden traditioneller Strukturen der Hierarchie und Ausbeutung überschreiten. Wenn des weiteren die schon vor dem europäischen Revolutionsjahr 1848 in ihrer Grundform entwickelte und dann nach den Erfahrungen von 1848 weiter differenzierte Theorie vom Klassenkampf als Weg zu einer neuen Gesellschaft früh im zwanzigsten Jahrhundert als Handlungsvorlage überzeugend gewirkt haben muss, so sollte die nachfolgende politische Geschichte sukzessiver Momente des Scheiterns ihre Überzeugungskraft weitgehend reduziert haben. Und schließlich ist Marx – bei aller bewundernswerten Komplexität seiner Reflexionen – in den späteren Manuskripten um das “Kapital” die Lösung des Problems nicht gelungen, Selbstzerstörung und Selbstaufhebung des Kaptalismus als historisch oder soziologisch “notwendig” zu beschreiben.
Was bleibt also faszinierend an seinen Texten — selbst im Anschluss an den Kollaps der nach den Vorgaben des Marxismus gebauten Institutionen und Staaten? Ich halte eine Antwort für plausibel, ja für wahrscheinlich, welche von frühen Erlebnissen – und Traumata – im Leben von Karl Marx ausgeht. Von der Tatsache etwa, dass es sein Vater für unvermeidlich ansah, bald nach der Geburt des Sohns im Jahr 1818 mit der gesamten Familie von Judaismus zum Christentum zu konvertieren (allerdings zur protestantischen Konfession, was im durchaus katholischen Trier wohl eine gewisse Distanz bewahrte), weil er trotz aller von der Restauration bestätigten Garantien für jüdische Bürger Grund zu der Annahme hatte, dass er ohne diesen Schritt seinen Beruf als Rechtsanwalt nicht mehr erfolrgeich würden ausüben können. Aber auch und vielleicht vor allem von dem Erlebnis, dass er, der brillanteste unter allen jungen Männern und Gymnasiasten in Trier, sieben Jahre nach der Verlobung warten musste, bis er Jenny von Westphalen, seine Jugendliebe aus aristokratischer Familie (in Bad Kreuznach und nicht in Trier) heiraten konnte.
Was Karl Marx zu seinen intellektuellen und schriftstellerischen Höchstleistungen brachte, das waren, meine ich, weder eine Haltung spezifischer Solidarität mit der geknechteten Arbeiterklasse noch eine Utopie von übergreifender wirtschaftlicher Gleichheit, sondern seine viel umfassendere Leidenschaft, ja Besessenheit für Gerechtigkeit – genauer für eine Gerechtigkeit im Hinblick auf den objektiven Wert von Formen des Handelns und der Verdienste. Marx selbst muss unter der permanenten Erfahrung aufgewachsen sein, dass ihm und seiner Familie solche Gerechtigkeit nicht widerfuhr – und hatte bis zu seinem Tod keinen Anlass zu einer Revision dieses Eindrucks (denn die breite internationale und politische Resonanz seiner Schriften setzte erst posthum ein).
Eine solche spezifische Fixierung auf Gerechtigkeit könnte erklären, warum kein anderer Begriff das frühe und das späte Werk von Marx mit einer ähnlichen Vielfalt von Perspektiven, Thesen und Fragen umspannt wie eben der Begriff des “Wertes.” Diese Fixierung treibt die Ausfifferenzierungen des Wert-Begriffs unter den den Vorzeichen verschiedener gesellschaftlicher und praktischer Kontexte ins tendenziell Unendliche, doch aus dieser Unendlichkeit der Perspektiven scheint nie ein Weg hin zu Relativität der Werte zu werden. Im Gegenteil, selbst im Hinblick auf Begriffe, die er als Kreuzungspunkt verschiedener Wert-Begriffe konstruierte – wie den Begriff der Ware, in dem Materialwert, Marktwert, Gebrauchswert und Wert der investierten Arbeit konvergieren — wurde die Frage nach fundamentaler Wert-Objektivität und mithin Wert-Gerechtigkeit nicht aufgehoben.
Im Gegensatz zur Konzentration auf soziale Notstände, wie sie in der historischen Welt von Karl Marx sichtbar und drängend waren, bewahrt die Frage nach Gerechtigkeit der Werte ihre Aktualität auch in Gesellschaften, die – sozialstaatlichen Grundprinzipien folgend – bestimmte Grade sozialer Not präventiv auszuschließen versuchen. Karl Marx selbst wuchs keineswegs unter prekären Bedingungen auf, aber er hatte Anlass, sich “unter Wert” geschätzt zu fühlen. Ein solches (in den meisten Fällen wohl weniger plausibles) Gefühl, “unter Wert” behandelt zu werden, hält heute noch zum Beispiel Diskussionen nach der Limitierung von Höchsteinkommen am Leben – und gehört wohl auch zum Motivationshorizont von inhaltlich vagen Formen “sozialen Protests,” die möglicherweise dort am ehesten in ziellos zerstörende Gewalt umschlagen, wo Gewalt als lückenlos aus dem Alltag eliminiert gelten soll. Aber das ist schon eine andere Frage.