Noch vor wenigen Jahren galt es als letzter Schrei unter Intellektuellen, Erfahrungen von Gewalt oder Macht als “diskursive Phänomene,” “Differenziale des sozialen Wissens,” “Strukturen der Kommunikation” oder was immer sonst sich an Begriffen für eine nicht-physische Welt anbot, zu “entlarven.” Im nicht mehr ganz unmittelbaren Rückblick nimmt diese einst so beliebte und endlos wiederholte Geste den Schein des Altklugen an, den Schein eines naiven und vor allem deshalb impertinenten Glaubens an eigene geistige Überlegenheit. Historisch spezifische Momente des Geistes mögen auf solchen Glauben angewiesen sein, um Resonanz zu finden – wie eben der sogenannte “Konstruktivismus” und der “Linguistic Turn” gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.
Beide Motive etablierten damals die Überzeugung, dass dem menschlichen Intellekt allein seine eigenen Produkte zugänglich seien, einschließlich der selten erwähnten, aber folgenreicheren Annahme, dass man mit der daraus erwachsenden Selbstbeschränkung des Denkens individuell und sozial gut leben könne. Vielleicht lässt sich diese Aufhebung der körperlichen Dimension menschlichen Lebens heute als späte Parallelentwicklung zur Mathematisierung der materiellen Umwelt in den modernen Naturwissenschaften deuten und mithin als Teil eines langfristigen Prozesses, der mit der Rationalität und dem cartesianischen “Cogito” der frühen Neuzeit eingesetzt hatte, in der Aufklärung politisch und sozial normativ wurde, um dann gegen die Jahrtausendwende weniger zu seiner Erfüllung als an ein Ende zu gelangen.
Ebenso könnte es eine den allerbesten Absichten folgende Reaktion auf die Schrecken der beiden Weltkriege gewesen sein, sich – konstruktivistisch und tendenziell – eine Zeit lang zuzutrauen, physische mit verbaler “Gewalt” gleichzusetzen, sexistische Unhöflichkeiten mit Vergewaltigungen oder nationalen Dünkel mit Genoziden. Inzwischen hat uns wieder ein unmittelbares Erleben von Gewalt als physischer Realität eingeholt – und zwar weniger in jenen industrialisierten und kollektivierten Formen, wie sie Holocaust oder Gulag systematisch entwickelt hatten, als in einer individuellen und lokalen Drastik, welche historisch wohl zum ersten Mal Francisco de Goya mit seinen “Desastres de la Guerra” festgehalten hatte, jenen absolut schonungslosen Szenen von Schmerz, Vernichtung und Verfall der Körper während des Befreiungskrieges spanischer Bauern gegen ihre napoleonische Besatzer nach 1800. Am Ende dieser Serie von fünzig Stichen steht – anscheinend trotzig – das Bild einer barbusigen jungen Frau umgeben von Licht und mit dem Kommentar: “dies ist das Wirkliche” (“esto es lo verdadero”).
In der unleugbaren Rückkehr von gegen alle intellektuelle Aufhebung widerständigen Formen der Gewalt zeichnen sich drei Typen ab. Erstens jene Gewalt, die sich als Ritual der Gerechtigkeit im Namen eines Gottes und seines Staates zelebriert, vor allem in den aggressiv verbreiteten Aufnahmen von Exekutionen durch den sogenannten “Islamischen Staat.” Zweitens die Gewalt eines vielgestaltig aktionistischen Terrorismus, der als feindlich identifizierte Gesellschaften im wörtlichen Sinn durch “Furcht und Schrecken” destabilisieren will und dabei vor allem auf die visuellen Schock-Effekte seiner Morde setzt. Und schließlich jene kollektiven Gewalt-Exzesse des Zerstörens, wie sie etwa beim G-20-Gipfel in Hamburg ausbrachen, Exzesse, die wegen ihrer bloß hauchdünnen Schicht politisch-ideologischer Motovation wohl zunächst am schwersten zu deuten sind.
Der erklärt gemeinsame Feind solch neuer Formen von Gewalt sind die etablierten Nationalstaaten und jene von ihnen umhegten Gesellschaften, welche durch Gewalt-Ereignisse in eine politisch problematische Posiiton gebracht werden sollen. Denn trotz des von ihren Rechtssystemen den meisten Staaten gewährten Gewalt-Monopols ist es ja auch für sie, vor allem seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, zu einem moralischen Legitimitätsanspruch geworden, jeden Umschlag ihrer Macht als Gewaltpotenzial in Gewalt-Ereignisse zu vermeiden. Ideal oder wenigstens akzeptabel angesichts solcher Herausforderungen und der eigenen moralischen Prämissen wäre eigentlich nur ein Staat, der gegenüber individuell-aktionistischer Gewalt “gewaltlosen Widerstand” leistete. Doch diese durch Mahatma Gandhi sprichwörtlich gewordene Form der Reaktion steht allein Individuen offen — um durch die Inszenierung eines Kontrasts die angebliche Grausamkeit und das Unrecht von Staaten anklagend hervorzuheben. Sie kann nicht zu den Optionen eines Staats selbst gehören, der auf den Schutz des physischen (Über)Lebens seiner Bürger verpflichtet ist.
Hier liegt das Gewalt-Dilemma und auch eine prinzipielle Hilfllosigkeit jedes modernen Staats: wo er auf eigene Gewalt verzichtet oder sie allzu sparsam gebraucht, wird er gegenüber seinen Bürgern schuldig; zugleich aber kann jede staatliche Gewalt-Verwendung als Rückfall in eine vormoderne und also illegitime Praxis angeklagt werden. Der dritte und der zweite Typ der neuen Gewalt nutzen die Logik dieser Schwäche mit systematischem Zynismus, und selbst die Gewalt selbsterkärter Gegen-Staaten glaubt hier einen Legitimationsanspruch sozusagen im Sinn eines “Gleichheitsprinzips” gewinnen zu können (“wir tun nur das, was die etablierten Staaten schon immer praktizieren”). Problemfreie Lösungen oder Auswege scheint es nicht zu geben. Der moderne Staat kann in seinem Selbstanspruch gegenüber Gewalt-Provokationen eigentlich nur verlieren – und muss von Fall zu Fall zwischen solchem moralischen Prestigeverlust und der Schutz-Verpfichtung gegenüber seinen Bürgern abwägen. Die Stadt Hamburg agierte anscheinend besonders unglücklich in dieser Entscheidungssituation.
Wie aber lassen sich “Gewalt” und “Macht” – post-konstruktivistisch – definieren? Gewalt im nicht-metaphorischen Sinn setzt, meine ich, immer dort ein, wo Körper Räume gegen den Widerstand anderer Körper besetzen (oder zu besetzen versuchen). “Macht” dagegen ist Gewalt als Potenzial – und zwar heute im Gegensatz sowohl zu archaischen Formen des Staats, denen an Möglichkeiten der Realisierung solcher Potenziale gelegen war, als auch gegenüber einer Tendenz vergangener Jahrhunderte, wenigstens das Potenzial in vielfacher Weise als Drohgebärde sichtbar zu machen. Staaten unserer Gegenwart verlieren moralische Legitimität schon durch den bloßen Verweis auf Macht (und nicht erst durch ihren – früher und prinzipiell durch das Gewalt-Monopol legitimierten – Gebrauch).
Historisch langfristig und auch sozialanthropologisch gesehen liegt (beinahe selbstredend) die Vermutung nahe, dass ein Drang der territorialen Expansion zu den Grund-Instinkten menschlichen Lebens gehört, aus dem – als Funktionsäquivalent zu Territorialmarkierungen und ähnlichen Ansprüchen bei anderen Lebewesen – die verschiedenen Formen von Staatlichkeit und die Jahrtausende ihrer Konflikte entstanden sein müssen. Eben diese Vermutung wird allerdings unter heutigen – wahrscheinlich “global” zu nennenden – Standards inakzeptabel und Legitimitäts-gefährdend, sobald man sie beim Namen des “Gewalt-Instinkts” nennt. Dass sich gegen die These eines primären Gewalt-Instinkts allerlei gutgemeinte Exempel setzen lassen, ist mir ebenso bewusst wie die ideologisch-politischen Risiken einer Gewaltinstinkt-Annahme auf anthropologischer Ebene.
Andererseits lässt sich angesichts von Ereignissen wie den sogenannten “Protesten” beim G-20-Gipfel – gerade aufgrund ihrer extrem vagen ideologischen Programmatik – die Frage kaum aufschieben, ob in der absoluten Gewalt-Tabuieriung, welche vor allem in Zentraleuropa so erstaunlich weit realisiert worden ist, nicht eine anthropologische Überforderung liegt. Und die – spekulative – Reaktion auf eine – spekulativ – positive Antwort sollte natürlich nicht in einer Empfehlung zur politischen Aufhebung von Gewalt-Tabus liegen, in einer Rückkehr zu Territorialkämpfen oder einer Renaissance des pessmistischen Motivs, nach dem “jeder Mensch für seinen Nächsten ein Wolf” sein soll. Alles Weiter-Denken in dieser Hinsicht und in diese Richtung impliziert ja wirklich die Gefahr, unter den Verdacht des Faschismus zu fallen.
Ähnlich wirken denn auch ziemlich alle denkbaren Antworten auf die nächste Frage, nämlich wie man, vorausgesetzt, es gäbe einen Gewalt-Instinkt, diesen sozusagen “abarbeiten” könnte. Hier kommen einem natürlich alle Arten von fröhlich auferlegten Körper- und Sportritualen in den Sinn, von harmlosen “Wandertagen” bis hin zu komplexen “Kampfsportarten,” ein unvermeidlich und noch einmal zurecht faschistisch wirkender Hintergrund. Anders gesagt: die Chance, dass staatlich auferlegte Sport-Camps zum Beispiel (oder “Jugendspiele”) die geeignete Präventiv-Institution zur Verhinderung von Ereignissen wie Hamburg werden könnten, scheint glücklicherweise sehr gering. Aber vielleicht führte es ja schon weiter, wenigstens die Vermutung oder die Hypothese eines generellen Gewalt-Instinkts in unserem Erziehungssystemen zuzulassen, so dass es möglich würde, über das Problem ohne Vorab-Vorwürfe und schlechtes Gewissen zu reden.
Selbst als Gedankenspiel riskanter wirkt eine andere Idee. Wenn wir annehmen, dass sich in Gewalt-Formen vor allem des dritten, aber auch des zweiten Typs oft ein Gewalt-Instinkt zeigt, für den keine hinreichenden institutionellen Möglichkeiten der “Abarbeitung” zur Verfügung stehen (und zur Verfügung stehen können), wäre es dann nicht eine Chance – ja geradezu eine Verpflichtung – des Staats, sein Gewalt-Monopol direkter und sichtbarer einzusetzen als derzeit üblich? Das heisst: weniger unentschlossen, nicht nur zum Schutz solcher Bürger, die den Gewalt-Instinkt kaum spüren oder ihn ohne größere Probleme individuell kontrollieren, sondern tatsächlich auch in der Funktion einer Abarbeitungs-Chance.
Selbst ein solcher Vorschlag lässt seine einige Unbeholfenheit deutlich werden – einmal ganz abgesehen davon, dass er keinerlei Lösungspotenzial für den zweiten oder gar den ersten Typ der neuen Gewalt anbietet. Weniger prekär scheint es aber, einen Zusammenhang zu postulieren zwischen der unleugbaren Rückkehr der Gewalt in unsere Gegenwart und einer kollektiven Selbstüberforderung durch den Anspruch flächendeckender Eliminierung und Aufhebung von Gewalt, wie er im Zeitalter des “Konstruktivismus” seinen intellektuellen Höhepunkt erreicht hatte. Diesen Anspruch zu verabschieden, könnte sich langfristig als Verpflichtung gegenüber der “Abklärung der Aufklärung” (als einer selbstreflexixen Dimension der Aufklärung) herausstellen – ähnlich wie zum Beispiel die Vermittlung von Kompetenzen physischer Selbstverteidigung an potenzielle Opfer individueller Gewalt.