1989, kaum in Kalifornien angekommen, hatten meine Frau und ich die (wie sich später herausstellen sollte: einem eher komischen Missverständnis zu verdankende) Ehre, auf der Gästeliste für die dritte (und tatsächlich letzte) Hochzeit eines ebenso prominenten wie wohlhabenden neuen Kollegen zu stehen. Besonders fasziniert und auch etwas irritiert waren wir von einer kleingedruckten Anmerkung auf der eleganten Einladungskarte, der zufolge Braut und Bräutigam das Catering des Festes einer Firma aus San Francisco mit dem exzentrischen Namen “Edible Art” anvertraut hatten. War das, bei aller Bewunderung und Sympathie für den berühmten Innovationsdrang unserer damals neuen Heimat, nicht doch etwas überzogen, dachten wir, war es nicht zuviel, ausgerechnet Essen so ganz ohne Relativierung unter den Begriff der Kunst zu stellen? Oder sollte der Name “Edible Art” zumindest eine Pointe wert sein? Ein anderer Gast beeindruckte uns mit der kühnen Bemerkung, dass ein Buffet solcher Qualität ja vielleicht wirklich eine Assoziation mit der Ästhetik verdiene.
Inzwischen gehört es längst zum Lebensstandard einer um Kultur im anspruchsvollen Sinn bemühten Mittelklasse, sich drei bis vier Mal pro Jahr ein Abendessen in jenen (Michelin) Sterne-Restaurants zu gönnen, die man kaum verlässt, ohne eine Rechnung von vielen hundert Euro beglichen zu haben. Je nach Kompetenz, Budget und Lust erfreut sich der Kunde dort auf verschiedenen Intensitäts-Ebenen stundenlang an “Degustationsmenus” mit mindestens zehn Gängen von eher mikroskopischer Substanz und an ihren oszillierenden “Weinbegleitungen” – nachdem er zuvor folgsam den Spezialisten-Rat eingelöst hat, einen Hamburger oder ein Wurstbrot zu verschlingen, um nicht möglichen Hunger mit kulimarischer Aufmerksamkeit interferieren zu lassen. Die physische Funktion der Nahrungsaufnahme ist also kategorisch vom Genuss getrennt, wie es bald, hört man, für das Verhältnis von Fortplanzung und Sex der Fall sein wird — und für das Verhältnis zwischen Informationswert und visueller Erfahrung bei gegenstandslosen Gemälden längst üblich ist. Auch nur die Frage zu stellen, ob Sterneköche denn Künstler seien, ob ihre Menus ästhetische Erfahrung herausfordern und ob es wert sei, ihnen nachzueifern, gilt heute als Symptom drastischen Banausentums. Mittlerweile hat das Ritual die Grenzen seiner Ursprungsmilieus überschritten und selbst jene Gaststätten erobert, die vor zehn Jahren noch auf “Hausmannskost” setzten. So sind denn auch im Leben von Friseusen und Tankwarten, Studienrätinnen und Sparkassenbeamten, Bahnschaffnerinnen und Taxifahrern hehre Berufungen zur “essbaren Kunst” erwacht.
Eine ähnliche, vielleicht weniger auffällige Veränderung hat sich während der vergangenen Jahrzehnte im Zuschauersport etabliert. Einmal abgesehen davon, dass Fußball- oder Eishockeyspiele, Formel Eins-Rennen und selbst die Tour de France ihren traditionellen Status als “schönste Nebensachen der Welt” hinter sich gelassen haben, der ihnen vor einem halben Jahrhundert noch zu freundlicher Toleranz verholfen hatte, abgesehen von den immer exklusiveren Preisen für Eintrittskarten zu live Ereignissen, hat sich der Blick auf den Sport inhaltlich grundlegend gewandelt. In den VIP-Suiten und bei den Medien-Kommentaren geht es nicht mehr ausschließlich um Sieg, Niederlage und lokale Solidarität, sondern zum einen um Taktik und die ästhetische Qualität, welche sie hervorbringen kann, zum anderen um den Genuss von besonderen Stimmungen und Milieus, als deren Garanten laute Fans alten Stils immer noch Zugang zu billigen Karten für hermetisch abgeschirmte Stadionsegmente haben. Selbst die früher für ihren von Blut, Schweiß und Tränen durchdrungenen Siegeswillen berüchtigte deutsche Nationalmannschaft brilliert mittlerweile mit eleganten Spieleröffnungen und Ballstafetten. Was einst als “ästhetischer Wert” nur im Eiskunstlauf, Turmspringen oder Dressurreiten eine für die meisten Zuschauer eher peinliche Dimension war, welche die Männlichkeit von Athleten in ein ambivalentes Licht rückte, dominiert nun sogar bei tradtionellen Kampfsportarten in einer Sehnsuch nach Schönheit und Erhabenheit.
Die begonnene Liste von Räumen gesellschaftlicher Praxis, welche erst in den vergangenen Jahrzehnten unter den Anspruch und die spezifische Freude ästhetischer Erfahrung geraten sind (nur in der Mathematik hatte man schon immer von “eleganten” Ansätzen und Lösungen gesprochen), diese Liste ließe sich wohl fast beliebig fortsetzen. Am Ende führt sie jedenfalls zu der Frage, ob denn, global gesehen, überhaupt noch ein sozialer Ort oder eine soziale Ebene verbleiben, für die wir den Effekt einer “Ästhetisierung” ausschließen können. Und diese Frage trifft sich mit dem Eindruck, dass die klassische “Autonomie” von Kunst und ästhetischer Erfahrung heute immer häufiger aufgehoben wird, anders gesagt: dass auch die Schwelle zwischen Alltag und ästhetischer Erfahrung im Verschwinden ist. Historisch langfristig gesehen scheint sich hier ganz ohne Programm oder kollektive Intention jene “Vermittlung von Kunst und Leben” anzubahnen, welche die Avantgarden des frühen zwanzigsten Jahrhunderts – vergebens – auf ihre hochfliegenden Fahnen geschrieben hatten.
Vielleicht war es ja der Beginn oder eine frühe Phase dieser spät in Gang gekommenen doppelten Ästhetisierungs-Bewegung, auf die meine Generation, die politisch ehrgeizige Generation der Studentenrevolten, vor allem in den siebziger Jahren mit der herablassenden Großzügigkeit eines angestrengten Interesses für “Trivialliteratur,” “populäre Kunstformen” oder auch für das “Gesangsgut der Arbeiterklasse” reagiert hatte. Weil aber solche mit viel Pathos entdeckten Gegenstände die keineswegs veränderten Geschmackskriterien ihrer neuen Betrachter notwendig enttäuschten, erfolgte deren Rückkehr zu den Texten und Kunstwerken des Kanons unverzüglich – und umso entschlossener angesichts der Unmöglichkeit, den eigenen Bemühungen und den fremd bleibenden Ausdrucksformen irgendeinen Ort auf der Kurve revolutionärer Bewegungen zuzuweisen.
Wenn nun aber soziologische oder politisch-engagierte Ansätze zum Verständnis jener Expansion ästhetischer Erfahrung, die bis heute wie ein Erbe der radikalen Avantgarden aussieht, schnell an ihre intellektuellen Grenzen stoßen, dann sollten wir unsere unbeantworteten Fragen aus einer neuen, ganz anderen Perspektive stellen. In diesem Zusammenhang ist die Geschichte des Worts “ästhetisch” besonders aufschlussreich. Es ist zwar dem altgriechischen “Aisthesis,” das für “Wahrnehmung” steht, nachgebildet, existierte jedoch in der uns vertrauten Bedeutung und Schreibung nicht vor den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts (was die Annahme problematisch macht, dass es ein Äquivalent unserer “Ästhetik” in den Gesellschaften der griechischen Antike gegeben haben müsse). Im Detail analysiert und definiert wurde der neue Begriff zum ersten Mal in den akademischen Qualifikationsschriften des jungen Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten, der in Antwort auf die zeitgenössische europäische Faszination für die Praxis des Geschmacks-Urteils “ästhetisch” jene Urteile nannte, die von der Reaktion der menschlichen Sinne ausgingen — und nicht von der Vernunft.
Baumgarten und seine viel berühmteren Leser, zu denen Kant, Schiller und Hegel gehörten, unterstellten dabei, was erst seit dem vorausgehenden Jahrhundert, seit den Zeiten von Descartes und Leibniz praktisch und theoretisch gültig geworden war, nämlich erstens die normative Zentralstellung der Vernunft im Alltag und zweitens das Selbstverständnis des Menschen als “Subjekt” (was hieß: als vom Körper unabhängiges Bewusstsein – wie es der berühmte Satz “Ich denke, also bin ich” in der kompaktesten Weise artikulierte, im Kontrast auch zur mittelalterlichen und biblischen Formel vom Menschen als Einheit von Körper und Seele). Erst vor dem Hintergrund der jetzt dominierenden Vernunft und Rationalität war ein Urteil unter Beteiligung der Sinne die interessante Ausnahme (worauf vor allem Kant bestand), und galt ein die Sinne einschließendes produktives und rezeptives Verhältnis zur Welt gegenüber dem etablierten Vernunft-Alltag als “autonomom” (wie besonders Schiller mehrfach darlegte). “Ästhetisch” nennen wir seither ein exzentrisches menschliches Weltverhältnis, das zugleich auf auf den Sinnen und der Vernunft beruht, auf physischer Wahrnehmung und auf begrifflicher Erfahrung (nicht allein auf Vernunft und Erfahrung). Oder, in der Formulierung des Systemtheoretikers Niklas Luhmann: “ästhetisch” ist eine Form von Kommunikation (als Grundelement sozialer Systeme), in der Wahrnehmung nicht nur ihre Voraussetzung und ihr Auslöser ist, sondern zusammen mit Bedeutung und Wissen auch ihr Inhalt. Wir reagieren ja nicht nur auf die Inhalte, sondern auch auf den Rhythmus von Gedichten; wir identifizieren nicht allein die Gegenstände von Gemälden, sondern nehmen auch ihre Farben und Fomen als solche wahr.
Exzentrik, Autonomie und Besonderheit der ästhetischer Erfahrung war also an eine Kultur unter Vorherrschaft der Vernunft gebunden, sie wäre undenkbar in Kontexten gewesen, wo Körper und Sinne eine zentralere Rolle gespielt hätten (oder gar dominiert) – und eben in diesem Sinn haben ästhetische Erfahrung und ästhetische Kommunikation schon immer den Status historisch spezfischer Phänomene menschlicher Existenz gehabt. Seit der Zeit um 1800 wurde das bewusstseinszentrierte Selbstbild des neuzeitlichen Menschen als “Subjekt” aber auch zur Voraussetzung des sich damals entwickelnden historischen Weltbilds, womit die Vernunftdominanz noch selbstverständlicher – und alle von ihr ausgenommenen Phänomene noch exzentrischer — erschienen. Aus der Distanz unseres Rückblicks können wir deshalb fragen, ob die Prognose von Hegels Vorlesungen zur ‘Ästhetik” über das bevorstehende “Ende der Kunstperiode” nicht vor allem ein Symptom der damals überwältigenden Vernunftdominanz gewesen sein muss. Für Hegel selbst war sie vor allem ein weiteres Indiz der erreichten Wiedervereinigung von Geist und Materie im preussischen Staat seiner Gegenwart und in der Reflexion seiner Philosophie.
Solange die Verschaltung von Rationalität und historischem Weltbild als übergreifende Konfiguration des Wissens (als “epistemologischer Rahmen,” können wir sagen) und als Rahmen der westlichen Kulturen stabil blieb, war ästhetische Erfahrung eine marginale, aber konkrete Realität des Lebens, an der sich nicht rütteln ließ. Alle Versuche der Avantgarden im frühen zwanzigsten Jahrhunderts, ihre Marginalität und Distanz gegenüber dem Alltag aufzuheben, mussten daran, wie schon erwähnt, scheitern. Dass genau dies heute sowohl in der Eroberung vormals pragmatischer Bereiche der Gesellschaft durch ästhetische Erfahrung als auch in der Öffnung des Alltags ihr gegenüber so mühelos “gelingt,” obwohl die lauten Programme der Avantgarden längst verhallt sind, macht die Annahme wahrscheinlich, dass sich – als Teil einer profunden und folgenreichen Transformation – das grundlegende menschliche Selbstbild und mithin sein Verhältnis zur Welt der Dinge verändert haben muss. Daneben gibt es auch vielfältige Gründe und Anlässe für die These, dass wir heute in einem veränderten Rahmen der Zeitlichkeit, also nicht mehr primär im Rahmen des “historischen Weltbilds” denken und handeln. Vor allem aber ist unser traditionell bewusstseinsdominiertes Selbstbild durch zahlreiche Bewegungen des Wiedereinschlusses von Körper und Sinnlichkeit anders und gewiss komplexer geworden.
Genau diese letzte Veränderung erklärt mit geradezu elementarer Logik, meine ich, warum wir in sovielen – oft unerwarteten und anscheinend “neuen” – Kontexten heute ästhetische Erfahrung zu vollziehen glauben, in Kontexten, die nicht – wie Theatergebäude oder Museen – von der Prämisse der ästhetischen Autonomie geformt sind. Wenn die Sinne wieder in den Vordergrund getreten sind, dann muss das, was wir seit dem achtzehnten Jahrhundert für “ästhetisch” angesehen haben, allgegenwärtig werden. Man braucht solche Erfahrungen nicht als (im Sinn der Ästhetik) inauthentisch zurückweisen oder ausschließen. Allerdings wird ihr Sonderstatus wohl in dem Maß verschwinden, wie sie eben allgegenwärtig und tatsächlich flächendeckend werden. Vielleicht erleben wir ja ein “Ende der Kunstperiode,” das epistemologisch durchaus verschieden ist von Hegels Prognose und Gegenwartsbeobachtung unter diesem Begriff. Zugleich könnte unser eigenes Ende der Kunstperiode die Zeit des Übergangs hin zu einer Form des Alltagslebens sein, die wir uns noch kaum vorstellen können, weil in ihr eine neue Intensität der Sinne mit einer noch ungeahnten, technologisch ermöglichten Unabhängigkeit von den Körpern konvergieren wird.