Viel Neues wird Woche für Woche meinen beiden Enkelkindern abverlangt, die in einem oberbayerischen Dorf zur Grundschule gehen und als selbstverständliche Pflicht ansehen, woran wirklich niemand dachte, als ich selbst vor ungefähr sechzig Jahren ein Zweit-, Dritt- und Viertklässer im selben Bundesland war. Bei jedem meiner Besuche, so bemerke ich und schwöre Besserung, sind Clara und Diego enttäuscht, ratlos und auch besorgt zu sehen, wie wenig Begeisterung die beständig wachsende Komplexität ihrer Trennmüllunterscheidungskompetenzen bei mir auszulösen vermag – um aus großväterlicher Peinlichkeitauf flagrante Fehler im aktuellen Entsorgungsverhalten erst gar nicht einzugehen. Siebzig Kilometer südlich, in der Landeshauptstadt, lebt, lehrt und denkt ein von mir sehr bewunderter Kollege, den meine Studenten an der amerikanischen Pazifikküste wohl nie kennenlernen werden, weil er sich seit langem schon das Fliegen aus Gründen verboten hat, die sich naturwissenschaftlich eindrucksvoll illustrieren lassen. Und seit gut zwei Wochen lernt meine Frau in Kalifornien auf ein ausschließlich batteriebetriebenes Auto um, mit erheblichem Zeitaufwand, dessen finanziellen Wert sie lieber nicht zum Kaufpreis addieren will.
Ohne Murren verlangen sich also viele von uns, “aus ökologischen Gründen,” wie sie eigentlich vage, aber doch mit großer Bestimmheit sagen, weil noch nie ein moralischer Imperativ derart kategorisch schien, ohne Murren und Klagen verlangen wir uns erheblichen, immer wachsenden Neu-Aufwand in allen Dimensionen unserer Existenz ab. Wir wollen weiterem (vor allem irreversiblem) Schaden an der für unser Leben als Gattung notwendigen Umwelt vorbauen und zugleich so sparsam als möglich mit den als existentiell unverzichtbar vorausgesetzten Rohstoffen (im weitesten Sinn des Wortes) umgehen. Dabei beziehen wir uns auf mindestens zwei verschiedene, nacheinander gestaffelte Schreckens-Horizonte der Zukunft. Auf die mittlerweile wohl verlässlich hochgerechneten Auswirkungen der sich vor unseren Augen vollziehenden Klimakatastrophe; aber auch auf ein im Sinn von maximaler Nachhaltigkeit (philosophisch und theologisch: auf Ewigkeit) ausgelegtes Leben der Gattung Mensch in respektvoller Interaktion mit dem Planeten “Erde.”
Natürlich werden vor allem im freundlich wohlfahrtsstaatlichen Klima Europas all diese zu Regeln gewordenen Verhaltens- und Verzichtanforderungen “ethisch” genannt, was im alltäglichen Sorachgebrauch von heute bedeutet, dass man ihr übergeordnetes Interesse für die Menschheit von jeder denkbaren Diskussion ausnimmt – und auch eine auffällige Kantigkeit bei der Beschreibung einschlägiger Werte und Pflichten erklärt. Kaum in den Blick geraten kann freilich angesichts dieses überwältigenden Konsensus die Frage nach den Gründen für den zweiten, auf Ewigkeit gestellten Zukunftshorizont, die Frage nach der Tunlichkeit und auch nach der konkreten Möglichkeit eines dauerhaften Überlebens der Menschheit. Ihr virtuell argumentativer Ort, können wir vermuten, ist markiert vom Konflikt zwischen zwei langfristig wirksamen und wohl kaum zu unterdrückenden Impulsen: vom Konflikt zwischen einem uns allen vertrauten individuellen Impuls von vitaler Intensität, welcher der Umwelt oft Schaden zufügt, und jenem schwerer fassbaren kollektiven Impuls hin zum Überleben als Gattung, der, sollte er denn tatsächlich übergreifend und unvermeidlich sein, außerhalb der Gattung Menschheit nur schwer vorstellbar ist (denn was immer der Grund für das Verschwinden der Riesenechsen gewesen sein mag, niemand malt sich ein kollektives Aufbäumen der Saurier gegen jenes Ende aus).
Gerade weil aber die Frage nach den (potentiell guten) Gründen für den Traum vom Menscheitsüberleben dergestalt hinter einem ethisch markierten Tabu verschwunden ist, hat die Energie der beiden erwähnten Impulse neue narrative Rahmenstrukturen unserer Existenz, ja veritable neue Epen hervorgebracht. Auf der einen Seite sind wir alle mit dem düsteren Epos einer transzendentalen Bestrafung vertraut, in dem die Gattung des Homo Sapiens Sapiens verantwortlich für schon früh in ihrer Evolution und später in ihrer Geschichte “begangene” Umweltschäden gemacht wird (so als hätten etwa die Industriellen des neunzehnten Jahrhunderts die ökologischen Folgen des von ihnen betriebenen “Fortschritts” ahnen können), um dann als “Bestrafung” ihrem Verschwinden von der Oberfläche des Planeten in einer näheren oder ferneren Zukunft entgegenzusehen. Dieser Erzählung steht gegenüber das eher hoffnungsfrohe Epos von einer gerade noch früh genug stattfindenden Umkehr, durch welche die Homines Sapientes Sapientes ihre Umwelt retten und dafür mit ewigem Leben belohnt werden (es ist diese zweite Erzählung, welche vor allem die Existenz meiner Enkelkinder in Bann hält).
Als viel “natürlicher” und auch wahrscheinlicher müssen wir die erste Geschichte (abgesehen von ihrer moralistischen Überdeterminierung) ansehen, denn obwohl ja die evolutionären Spannen und –Rhythmen verschiedener Gattungen des Lebens erstaunlich weit voneinander abweichen, haben wir keinen Grund zu glauben, dass auch nur eine unter ihnen je vom Verschwinden ausgenommen werden könnte. Das Artensterben mag unter dem Einfluss der menschlichen Kultur von heute eine neue, ökologisch vielleicht bedrohliche Dichte erreicht haben, aber diese Entwicklung unterstreicht letztlich nur die nüchterne Einschätzung, nach der wir als Gattung jedenfalls und unvermeidlich an ein Ende gelangen werden – vielleicht, anders als die Saurier, an ein Ende im vollen und potentiell tragischen Bewusstsein seiner selbst.
Weil aber nur die zweite Geschichte ein die Natur schützendes und bewahrendes Verhalten beschreibt und motiviert, assoziieren wir ausgerechnet sie – das Epos von der unwahrscheinlichen Bewusstseinsleistung der Aufhebung evolutionärer Gesetze – mit dem Prädikat des Natürlichen. Diese inadequate Perspektive rückt dann auf der anderen Seite die Evolutionsgeschichte des Menschen, so wie sich tatsächlich ereignet hat, in ein Licht des Un- oder gar Anti-Natürlichen (um nicht zu sagen: in ein Licht des Menschheits-Verbrechens). Sicher, man kann den Homo Sapiens Sapiens als ein exzentrisches Produkt oder gar als eine Verirrung der Evolution ansehen (aber aus welcher Perspektive?); man kann mit dem großen französischen Paläontologen André Leroi Gourhan spekulieren, dass Kulturgeschichte und Technikgeschichte zwei nicht-biologische, ihren Rhytmus beschleunigende Phasen in der laufenden Transformation des Menschen gewesen seien – doch selbst diese “doppelte Exzentrik” des Menschen ging aus der “Natur” hervor, statt das Ergebnis eines menschlichen Entschlusses gewesen zu sein, wie man es für die ökologische Wende der vergangenen fünfzig Jahre annehmen muss. “Natürlich” in genau diesem Sinn ist auch die physische und mentale Dominanz des Menschen über soviele andere Gattungen, wohingegen Postulate einer “Gleichheit” unter den Arten oder ethisch motivierte Selbst-Verbote des Konsums von Milch, Eiern und Fleisch den Menschen immer weiter aus der Spur von Evolution und Natur hinaustragen.
Doch das Erreichen des Ewigkeits-Ziels für den Menschen als Gattung scheint nicht allein unrealistisch — es bleibt auch unklar, wer eigentlich davon profitieren sollte, wenn es sich je realisieren ließe. Längst schon haben wir uns an fromme Kalendersprüche mit Inhalten wie “Wir haben die Erde von unseren Kindern nur ausgeliehen” gewöhnt, die dann metonymisch auf die Jahrtausende von Jahrmillionen einer Menschheits-Ewigkeit ausgedehnt werden sollen. Doch es liegt, meine ich, eine deutliche affektive – und wenn jemand darauf bestehen wollte: auch eine ethische Grenze – zwischen jenen nachfolgenden Generationen, mit denen wir persönlich in Kontakt sein können, und den Menschen einer fernen Zukunft, die allein in unserer Vorstellung auftauchen. Was sollte das Prinzip sein, das uns in eine Verpflichtung gegenüber ihnen versetzt? Könnte wir denn wissen, ob ihnen an ewigem Leben gelegen sein wird? Auf solche Fragen gibt es nur zwei positive – und gleichermaßen problematische – Antworten: verpflichten könnte uns jener Impuls einer “Solidarität der Gattung,” der allerdings, wie wir gesehen haben, durchaus menschenspezifisch und mithin auch in einer übergreifend menschlichen Interpretation des Universums verankert ist. Verpflichten könnten uns auch Forderungen, die sich wohl allesamt als Säkularisate von Vermutungen über einen “göttlichen Willen” in der Struktur des Universums entlarven ließen, wie etwa die Prämisse, dass die “Schöpfung” oder “Natur” im Menschen einen Höhepunkt ihres Potentials erfülle. Vielleicht sollten wir, wie gesagt, einen viel deutlicheren Unterschied machen zwischen ökologischen Verhaltensforderungen, die sich auf bereits ausgelöste und greifbare Entwicklungen beziehen – und solchen, welche in die Abstraktheit des Ewigen zu reichen versuchen.
In anderer Absicht (nämlich als Kritik an einer Grundforderung des Marxismus) hat Albert Camus während der fünfziger Jahren, genauer: am Ende seines Buchs über den “Homme Révolté,” gegen die Tendenz polemisiert, in ihrer jeweiligen Gegenwart Opfer von Menschen zu verlangen, die als Beiträge zur Herbeiführung vager und vielleicht nie zu verwirklichender Zukunftsszenarios präsentiert werden. Die Verewigung der Gattung “Mensch” (und mithin ein Teil des Trennmüll-Stresses meiner Enkelkinder) sollte, meine ich, genau unter diesen Vorbehalt fallen. Eine solche, die Tabus gängigen Gutmenschentums brechende Verweigerung hätte nichts zu tun mit dem Leugnen uns naher ökologischer Bedrohungen in der Rhetorik und Politik des nicht mehr ganz neuen amerikanischen Präsidenten. Aber vielleicht läge ein politischer Fortschritt darin, diesen Präsidenten mit genaueren und nüchterneren Zukunftsvorstellungen zu konfrontieren, als wir es gewohnt sind und uns bisher abverlangen.