Mein kleiner Bruder ist zwölf Jahre alt, auf seinem Schreibtisch stehen zwei Computerbildschirme und ein Laptop. Kürzlich fragte er mich, was ich beruflich eigentlich so mache. Ich sagte, dass ich Artikel zu schreiben versuche. Das Wort „schreiben“ schien ihn eher zu enttäuschen, aber er hatte wohl gelernt höflich zu bleiben und fragte nach Themen. Beiläufig erwähnte ich ein Gespräch mit dem Youtube-Vlogger „Iblali“. „Was, Du hast mit Iblali telefoniert?“, fragte er. „Jetzt echt? Wie hast Du das gemacht? Ich dachte, Du arbeitest bei der Zeitung?“
Er zeigte mir Videos seiner Klassenkameraden auf Youtube. Pausbäckige Gesichter, die in die Kamera schauen als gebe es sie gar nicht. „Leider ist mein Zimmer unordentlich“, sagt ein Junge, „deswegen muss ich jetzt aufräumen“. Im Zeitraffer werden Gegenstände durch die Gegend geschleppt, unterlegt mit Country-Musik. Ich war überrascht von der Selbstverständlichkeit, die das Video vermittelte und schaute meinen Bruder von der Seite an. „Was ist? Wieso guckst du so?“
Dass Virtualität und Realität miteinander verschmelzen, liegt spätestens seit William Gibsons Roman „Neuromancer“, der in den achtziger Jahren erschien, im Bereich der gesellschaftlichen Vorstellungskraft. Inzwischen können wir uns fragen, ob es sich nur noch um eine Vorstellung handelt. Was wir in unseren Wohnzimmern tun wird im Netz bewertet und auf das, was wir im Netz hinterlassen, spricht man uns auf der Straße an. Der Abgleich des Virtuellen mit der Realität verringert sich bis hin zur Echtzeitverschmelzung, umgekehrt werden die fantastischen und gigantomanischen Maßstäbe der Virtualität real. Das Finale der Starleague in Südkorea, in der die besten Starcraft-Spieler gegeneinander antreten, findet in einem Flugzeughangar statt. Während Blitzlichtgewitter über die Köpfe regnet und sich die Menge in Ekstase wogt, wird einer der Kontrahenten mit einer riesigen Hebebühne in die Arena gesenkt. Doch noch fehlt sein Gegner. Der Flugzeughangar öffnet sich: „Lee Young Ho“ alias „Flash“, rollt in einer Boeing 747 zum Wettkampf.
Die „digital natives“, die mit dem Internet aufgewachsen sind, bewegen sich im virtuellen Raum von Youtube, Facebook und Co. so selbstverständlich wie in ihren Schuhen, und auch genau so häufig. Es nicht zu tun würde ihnen denselben Blick einbringen wie im Winter ohne Schuhwerk herumzulaufen.
Wir wollen versuchen, diese Transformation in Form eines Blogs zu begleiten und ein Stück der virtuellen Realität einzufangen. Es geht um Fundstücke aus dem Netz, die einen echten Wert bieten: Virale Youtube-Videos, überraschende Nachrichten, Debatten, die sich über Twitter und Blogs verbreiten, Podcasts. Wir wollen uns die Welt vom Internet erklären lassen und der Welt einen kleinen Ausschnitt des Internets näherbringen. Unser Blog möchte sich verorten, wo Internet und Kultur – oder auch: die Möglichkeit der Kultur – zusammentreffen. Mit Kultur sind hier nicht nur die klassischen feuilletonistischen Bereiche von Theater, Musik, Literatur und Kunst gemeint, sondern im weitläufigsten Sinne etwas vom Menschen Erschaffenes: eine Neuigkeit vielleicht, ein unerhörter Witz oder auch nur eine anregende Verknüpfung – all das, was im schnelllebigen Internet einen zweiten, eingehenderen Blick verdient hat.
Natürich geht das nicht ohne Hilfe des Lesers. Die Kommentarspalte steht deswegen allen offen, die nicht gerade einen Spambot bedienen. Willkommen bei digital twin!
Ende vergangenen Jahres schrieb der Philosoph Byung-Chul Han in seinem Buch „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“ über Google Glass, es verbinde „das menschliche Auge direkt mit dem Internet. Sein Träger ist gleichsam allblickend. Es leitet das Zeitalter der Totalinformation ein. Das Google Glass ist kein Werkzeug, also kein „Zeug“, kein „Zuhandenes“ im Heideggerschen Sinne, denn man nimmt es nicht in die Hand. Das Handy wäre noch ein Werkzeug. Das Google Glass rückt uns so sehr auf den Leib, dass es als Teil des Körpers wahrgenommen wird. Es vollendet die Informationsgesellschaft, indem es das Sein mit der Information vollständig zusammenfallen lässt.“ Google Glass mag die Fusion von Mensch und Maschine und damit einer Vision einläuten, die so alt ist wie das Science-Fiction Genre selbst. Vor allem aber markiert es den zeitlichen Zusammenfall von Virtualität und Realität. Über unsere analoge Umgebung legt sich eine digitale Folie. Wir sehen nicht allein den Gesichtsausdruck und die Kleidung eines Menschen, wir sehen seine Facebook-Freundschaften und die Bücher, die er bei Amazon gekauft hat.
Das ist die eine, gewissermaßen die dunkle Seite der virtuellen Realität. Die andere klingt im Namen von Jann Mardenborough an, einem englischen Computerspieler, der seine Nachmittage nach dem Abitur damit verbrachte, Rennsimulation zu spielen, während seine Freunde „nach Australien gingen, und herumreisten“. Mardenborough wurde eingeladen zur „Gran Tourismo Academy“, die den besten Spielern der Rennsimulation ermöglichen sollte, ihre Fähigkeiten in echten Rennwagen zu testen. Aus den fähigsten Teilnehmern formte man eine Rennauswahl, die beim 24 Stunden Rennen in Dubai antrat. Sie belegte den dritten Platz. Inzwischen fährt Mardenborough in der Formel 3.