Digital Twin

Lernen von den Digital-Supernatives

© picture allianceWer von den beiden verpasst gerade mehr von der Welt? Und wer von den beiden denkt überhaupt in dieser Kategorie?

Das Feuilleton der F.A.Z. wird morgen von Hans Magnus Enzensberger eröffnet, der im ersten seiner zehn Tipps gegen Ausbeutung und Überwachung empfiehlt, das eigene Handy wegzuwerfen, oder zumindest der „abergläubischen Verehrung“ dieser kleinen Geräte zu widerstehen. Wir alle wissen, wie schwer das ist. Worüber wir aber noch rätseln, ist, was es so schwer macht.

Das Handy, vermutete kürzlich Hannelore Schlaffer in der NZZ, sei bereits deswegen so faszinierend, weil es leuchte. Das unterscheide die Bildschirme von allem, was uns ansonsten umgebe. Die nächstgelegene historische Analogie seien Kirchenfenster. Gänzlich neu ist die Idee also nicht, über den sinnlichen Horizont hinausreichende Welterfahrungen durch von hinten beleuchtete Scheiben zu machen und damit zu faszinieren.

Die Bildschirme werden immer flacher, doch was sie eigentlich ausmache, sei ihre Tiefe, schloss Dirk Baecker mit einer Überlegung Niklas Luhmanns an Schlaffers Erklärung an. Der Begriff der Tiefe führt aber nicht nur zu Tiefgründigkeit, wie wir gerne glauben, sondern er verweist auch auf das nicht weniger aufschlussreiche Bild der Höhle, das seit der Antike mit den Begriffen Idee, Wissen und Erfahrung verknüpft wird.

© TwitterHier stimmt was nicht. Aber das erkannte selbst der Fotograph des Bildes, Cameron Power, erst später. Einer schaute nicht auf sein Smartphone.

Schenken wir der aktuellen Titelgeschichte des „Stern“ Glauben, ist die Höhle abgrundtief: „Neulich zog ein Mann in der Metro von San Francisco eine Waffe und richtete sie auf die sitzenden Leute. Mal auf diesen, mal auf jenen. Niemand hinderte ihn. Niemand beachtete ihn. Niemand sah ihn. Alle waren in ihre Telefone versunken, spielten, tippten, klickten. Schließlich schoss er einem aussteigenden Studenten in den Rücken. Erst da sahen alle auf.“

Die Autorin dieser Szene, Frauke Hunfeld, wird sogar noch drastischer. Vor 20 Jahren, als sie das erste Mal in San Francisco gewesen sei, seien ihr die vielen verirrten, Selbstgespräche führenden Menschen auf den Straßen aufgefallen. Es waren die Patienten von Nervenheilanstalten, die zu tausenden der Politik Ronald Reagans zum Opfer gefallen seien. Derzeit würden noch viel mehr Gespräche ohne offenbaren Gesprächspartner auf offener Straße geführt, sagt Hunfeld. Schuld sei die Technologie.

Das interessante an der Lichterklärung ist, dass sie so nachvollziehbar erscheint, aber in keiner Weise etwas über Inhalte aussagt. Jeder erwachsene Mensch kennt heute das Gefühl, am Computer zu sitzen oder auf das Telefon zu schauen, ohne zu wissen, was er als nächstes damit machen soll, aber mit dem klaren Wunsch, noch irgendetwas damit zu tun. Neben der Helligkeit gilt, in welcher Form auch immer, die Universalität der Maschine. Der nächste Tweet ist der interessante, ganz egal, was er tatsächlich sagt.

Und wenn es nicht Twitter ist, ist es eine der zahllosen anderen Apps, die von sich aus etwas tut, womit sie uns immer überrascht. Die erfolgreichsten Apps sind die, die wie eine Wundertüte funktionieren. Man klickt darauf, und es wird etwas Interessantes passieren. Es ist nicht notwendig, konkrete Vorstellungen, Wünsche oder Interessen mitzubringen. Das Telefon kümmert sich schon darum.

Auf diesem Pfad kommt man zu einem wesentlichen, aber ebenso wenig verstandenen Merkmal. Moderne Smartphones flimmern mit 60 Bildern pro Sekunde – sie sind nicht nur immer aktuell, sie schmiegen sich geradezu an uns. Wie eine Matratze für den Geist passen sie punktgenau, stören selten und erfordern minimale menschliche Bewegung zur Bequemlichkeit.

Was allerdings so hinterrücks gefährlich klingt, ist es vielleicht gar nicht. Man kann es an den Dreijährigen sehen, die neuerdings ständig das Leben ihrer Mütter und Väter retten, weil sie so gut mit der modernen Technologie klarkommen. Auf der anderen Seite zeigen diese Videos aber auch, wie selbstverständlich eigentlich ist, was uns als so besonders erscheint. Dreijährige können mit einem Smartphone umgehen, wie mit einem Stock. Sie können bis zehn zählen, die Zahlen erkennen und sie können beschreiben, was sie sehen und erleben.

Auf der einen Seite zeigt der Umgang kleiner Kinder mit Technologie, dass es den Herstellern gelungen ist, die alles überragende Komplexität ihrer Geräte hinter bunt-leuchtenden Scheiben zu verstecken. Auf der anderen Seite können die Kinder aber auch zeigen, was selbstverständlicher Umgang mit Technologie heißen kann.

Denn es gibt längst eine Generation Digital-Supernatives, alle Jahrgänge ab 2008, die ihrerseits wissen, wie sie die Bildschirme bedienen müssen, die aber auch von ihnen ablassen können, als hätten sie gerade Besteck benutzt, das sie für eine spezifische Aufgabe brauchten, dann aber nicht mehr. Der Trick scheint allerdings zu sein, ihnen die Technologie frühestmöglich in die Hand zu geben, sodass sie ihre Grenzen selbst erfahren können.

Für uns andere vor 2008 geborenen gilt Enzensbergers 10-Punkte-Plan gegen die „Fallgruben der Digitalisierung“. Mit dem Unterschied, zumindest für diejenigen die Dreijährige zuhause haben, das eigene Handy noch nicht wegzuschmeißen, sondern es den Kindern in die Hand zu geben und aufmerksam zu beobachten, was sie damit tun und was nicht.

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