Vor etwa sechs Jahren sah ich zum ersten Mal eine im Computer integrierte Webcam. Sie fiel mir nur auf, weil ein befreundeter Kommilitone sie ziemlich dilletantisch zugeklebt hatte: mit einem Fetzen Papier und mehreren Tesafilmstreifen. Alle rannten in den Supermarkt, um sich klobige Webcams zu kaufen, die meist vom Bildschirmrand wieder herunterrutschten, hier war eine Kamera von schlichter Eleganz. Warum etwas so Stilvolles verstecken? Ich vermutete, er habe die Kamera nur so auffällig zugeklebt, damit man sie noch besser erkennen könne.
Nun weiß ich, dass er vermutlich der einzige in meinem Bekanntenkreis ist, von dem die Geheimdienste kein Foto hätten aufnehmen können. Seit 2008 existiert das Überwachungprogramm „Optic Nerve“, dass es britischen Geheimdienstmitarbeitern ermöglicht, wahllos Videochatgespräche von Yahoo-Nutzern mitzuschneiden. In einem Zeitraum von sechs Monaten allein sammelte der GCHQ Webcam-Bilder von 1,8 Millionen Personen. Hochgerechnet bis zu den Enthüllungen Snowdens wären das Aufnahmen von etwa 16 Millionen Menschen. Und zwar in ihren intimsten Momenten: während sie mit ihren Partnern telefonierten, während sie versunken auf den Bildschirm starrten, in der Nase popelten oder sich vor ihren Rechnern umzogen. Es sind Bilder, die direkt aus den Wohn- und Schlafzimmern in die staatlichen Überwachungszentralen gelangten.
Damit hat sich das berühmte Überwachungsszenario aus George Orwells „1984“, das während der Spähaffäre zur Boulevard-Metapher mutiert war, zumindest technisch in Teilen bewahrheitet. Als Winston, der Protagonist des Romans, seine Wohnung betritt,
„verlas eine sonore Stimme eine Zahlenstatistik, bei der es irgendwie um die Roheisenproduktion ging. Die Stimme kam aus einer länglich-rechtecktigen Metallplatte, die wie ein blinder Spiegel in die Wand zur Rechten eingelassen war. (…) Der Teleschirm war Sende- und Empfangsgerät zugleich. Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein gedämpftes Flöstern hinausging, würde registriert werden; außerdem konnte er, solange er in dem von der Metallplatte kontrollierten Sichtfeld blieb, ebenso gut gesehen wie gehört werden. Man konnte natürlich nie wissen, ob man im Augenblick gerade beobachtet wurde oder nicht. Wie oft oder nach welchem System sich die Gedankenpolizei einschaltete, darüber ließ sich bloß spekulieren. Es war sogar denkbar, daß sie ständig alle beobachtete. Sie konnte sich jedenfalls jederzeit in jede Leitung einschalten. Man mußte folglich in der Annahme leben – und tat dies auch aus Gewohnheit, die einem zum Instinkt wurde –, daß jedes Geräusch, das man verursachte, gehört und, außer bei Dunkelheit, jede Bewegung beäugt wurde.“
– George Orwell, 1984, S. 18f.
Bislang wurde darauf hingewiesen, dass die Spähaffäre und die soziale Kontrolle durch Google und Facebook eher an Aldous Huxleys Roman „Brave New World“ erinnern als an „1984“. Wir heißen das Leben in der Vernetzung willkommen, statt uns davor zu fürchten. Wir bekommen keine Überwachungsinstrumente aufgezwungen, wir kaufen sie in Form von Smartphones freiwillig und teuer ein. Der obige Absatz aber nimmt die flächendecke Überwachung unserer Videokommunikation in all ihren Facetten vorweg: Die Beliebigkeit, mit der sich ein staatliches Monopol in die privateste Räume einklinken kann und die Selbstkontrolle, die das Wissen darüber bewirkt. Soziale Kontrolle kann zwar auch schon das Auslesen unserer E-Mails bewirken, sie erreicht allerdings eine neue Dimension: Wir können uns nicht mehr hinter der Macht des Wortes verstecken, sondern wähnen unsere Gestik und Mimik beobachtet – alles, was uns unmittelbar zum Menschen macht.
Seit Dezember vergangenen Jahres ist bekannt, dass das FBI in der Lage ist, Kameras aus der Ferne einzuschalten, ohne dass die Signallampe aufleuchtet. Man darf vermuten, dass es nicht nur um Kunden von Yahoo geht. Dasselbe Dokument, was gestern aus dem Fundus von Edward Snowden veröffentlicht wurde, zitiert Geheimdienstmitarbeiter, die wie elektrisiert sind von den Möglichkeiten der Bewegungskamera in der Xbox-Spielkonsole: Es handele sich „ziemlich normalen Webcam-Traffic“.
Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn der Prototyp aller Dystopien, Orwells Vision eines allblickenden Auges, Realität geworden ist? Wenn ausgerechnet das banalste und zugleich gruseligste Szenario, die völlige Durchleuchtung der Intimspähe mitsamt Bildern sexuellen Inhalts, sich bewahrheitet?
Sicher, zwischen Orwells Roman 1984 und der Realität im Jahr 2014 bestehen bedeutende Unterschiede: Es fehlt die politische Entität, der gebündelte politische Wille, um Überwachungsmechanismen in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Die Strukturen aber scheinen geschaffen.
Vor einunddreißig Jahren brachte der Spiegel zum kommenden Jahrestag von Orwells Roman eine Titelgeschichte, „die neue Welt von 1984“. Orwells Vision vom totalen Überwachungstaat, heißt es dort in Berufung auf den ehemaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes Horst Herold, „ist der Wirklichkeit sehr nahe gerückt. Der gläserne Mensch ist da, seine Daten sind gespeichert. Der technisch perfekte Überwachungsapparat harrt seines politischen Mißbrauchers.“ Wenn das schon damals galt, welche Titelgeschichten müssen wir dann heute schreiben? Und wenn ein Roman wie „1984“ partiell Realität wird, wie mag der Inhalt zukünftiger dystopischer Klassiker aussehen?
(Bilder via Luigi Rosa)
Stellt sich nur Titelfrage neu für technisch aufgemöbelten 1984-Roman?
George Orwells 1984 ist – wie seine Antiutopie „Farm der Tiere“ – eine entlarvender, antikommunistischer Roman mit fiktionalen Stasi-Mitteln vor dem Hintergrund bolschewistischer Herrschaftsmethoden und sozialistischer Mangelgesellschaft. Man verbaut sich den Zugang zur Erkenntnis und dem „Realsozialismus“, wenn man nur auf die „technischen Phänomene“ des Romans bezug nimmt.
Die durch Snowden aufgedeckte Überwachungspraxis von Geheimdiensten kommt mir momentan noch wie eine monströs erweiterte Truman Show des Drehbuchautors Andrew Niccol vor, die alle Personen ständig datensammelnd überwacht, ohne zur allerdings zur Gänze zu überzeugen, das wir alle nur nach spieltheoretischen Gesichtspunkten zur Terrorabwehr „gecastet“ werden.
Ob die „demokratische“ Geheimdienstpraxis mit neuen „Herrschaftstechniken“ (asymmetrischer Wahlkampf bzw. Mobilisierung über Internet) korrespondiert, wie unsere gesamtgesellschaftliche Lage ist, ob sie sich auf einer antidemokratischen Rutschbahn befindet oder auf diese manipulativ verschoben werden soll, wäre sicher eines demokratischen „Ruck-Romanes“ wert.
Ein neuer Titel für 1984 leistete all dieses nicht.