In einer Zeit, in der der größte Vorhang der Welt der Eiserne genannt wurde, verfügten viele deutsche Haushalte über eine Abschottungsbestrebung, die man nur noch als Verrammelungstrieb bezeichnen kann. Rudimente davon haben sich bis heute erhalten: Um das Grundstück die blickdichte Thujenhecke, um die Terrasse Palisadenkonstruktionen, und hinter den Fensterscheiben eine Stoffdraperie, die gemeinhin als Gardine bezeichnet wird und dem Mauerwerk in Sachen Opazität in nichts nachsteht. Das Haus wird als Burg gedacht, das Fenster als Schießscharte, und nur ein sanftes Wippen der Vorhangfalten läßt erahnen, daß ein Bewohner gerade einen Blick nach draußen wirft.
Wenn die jüngere Generation ein solches Haus erbt, entfernt sie erst einmal Mauerwerk im großen Stil, Fenster werden vergrößert und Durchbrüche geschaffen, Licht und Luft soll hinein. Über das, was hinausdringt, macht man sich wenig Gedanken: Gern werden ganze Außenwände verglast, sodaß sich abendlichen Spaziergängern im Lichte der Halogenspots ein vollendetes Tableau deutscher Wohnkultur bietet. Die Gardine ist, wenn überhaupt vorhanden, jeglicher Funktion als Sichtschutz beraubt und auf ein dekoratives Minimum reduziert. Man lebt auf einer Bühne, das Stück heißt: „Es geht uns gut“.
Eine Öffnung, die der älteren Generation geradezu obszön erscheinen muß. „Ich will nicht“, so lautet der entsprechende, gernzitierte Satz dazu, „daß mir jeder auf den Teller gucken kann.“ Es ist schließlich eine hart erarbeitete Privatsphäre, nach Jahrzehnten der Wohnungsnot, der Zusammenrückerei in Wohnküchen, nun endlich ist man für sich und will es auch bleiben. Und so wurde der Sichtschutz zur Kunstform erhoben, man arbeitete zwei- bis dreilagig, mit Stores, Schabracken und Dekoschals, man fältelte aufwendig, fütterte, wattierte, raffte mit Kräuselband und beschwerte mit Bleiband, um den korrekten Wellenschlag des Stoffes zu erreichen. Auf diese Weise entstand ein Sichtschutzensemble, das äußerste Privatheit garantierte und von der ehrgeizigen Hausfrau stets blütenweiß gehalten werden mußte (was sollen denn die Nachbarn denken!), was einen enormen Aufwand verlangte. Neben der Wascherei mit Hilfsmitteln wie Bleiche und Stärke mußten die Gardinen hoch oben auf der Aluleiter aus ihrer Führungsschiene gezogen und umständlich wieder eingefädelt werden, jeder der kleinen Plastikgleiter einzeln.
Das Schreckensbild der Gardinenkultur ist der sogenannte Präsentierteller, auf dem man sich keinesfalls zu befinden wünscht. Der Präsentierteller ist ein gut einsehbarer Ort, etwa ein Straßencafé, es kann aber auch eine Terrasse im Garten sein. Man setzt sich dort Blicken aus, ein Umstand, der gemeinhin als ungemütlich erachtet wurde und jüngeren Menschen seltsamerweise überhaupt nichts auszumachen scheint.
Es zieht sich in dieser Hinsicht ein Generationengraben durch das Volk: Vor etwa fünfzig Jahren saß man noch nicht auf der Straße, man saß höchstens gut versteckt in einem Garten oder auf einer Terrasse. Später wurde es üblich, in Restaurants Sichtschutzwände zwischen den Tischen aufzubauen, sodaß separierte Kojen entstanden. Die Gardine ist das Symbol heimatlicher Geborgenheit schlechthin, weshalb sie auch Fenster von Schiffen, Wohnwagen und Lastwagenfahrerkabinen ziert. Fern der Heimat wird in unsicherer Umgebung Behaglichkeit evoziert, wird sich zeichenhaft abgeschottet gegen das Fremde.
Inzwischen jedoch stellt die gesamte Gastronomie ihr Mobiliar mitten ins Getöse, und dort hocken Menschen und essen, einfach so, und schauen Passanten zu und die Passanten schauen zurück. Der Grad an Öffentlichkeit, der als erwünscht angesehen wird, hat sich offenbar drastisch erhöht. Das ging in langsamen Schritten vonstatten, auch bei uns zu Hause: Ungefähr Ende der achtziger Jahre entschied sich meine Mutter, die Gardinen eine Handbreit über der Topfpflanzenoberkante abzuschneiden und sorgte somit für ein wenig mehr Helligkeit im Zimmer. Irgendwann fielen die Seitenschals aus dunkelgemustertem, dicken Stoff und wurde durch ein fluffigeres Gesamtbild in weiß und bleu ersetzt. Inzwischen zieren einige Fenster nur noch Halbgardinen, die die obere Fensterhälfte komplett freilassen.
Es ist eine langsame, aber stetige Evolution, beeinflußt nicht zuletzt durch südländische, im Urlaub erlernte Offenheit, die den Deutschen beibrachte, anderen Menschen den Anblick ihrer Teller zuzumuten und sich dabei nicht unwohl zu fühlen. Und diese Offenheit wird nun im Toskana-Reihenhaus konsequent fortgesetzt: Wände mediterran gewischt, terrakottafarbenes Sofa und textilfreier Blick in Nachbars Garten. Rücken wir zusammen, kommen wir uns näher, seien wir sozial, wir sind ja nicht so, soll heißen: so verklemmt deutsch. Soll jeder sehen, daß wir nichts zu verbergen haben. Schaffen wir die Privatsphäre ab, und zeigen wir, wer wir sind. Machen wir noch ein Handyfoto und laden es hoch.
Jegliches Textil gerät unter Verdacht, daß sich Muff unter oder hinter ihm ansammeln könnte und gehört dementsprechend entsorgt. Zu den Gardinen (und Schals und Schabracken) packen wir gleich noch die Tischdecken, die Stoffservietten, die Taschentücher mit Monogramm und Häkelspitze. Ein Tisch ohne Decke ist viel leichter abwischbar. Entsorgen wir Sofakissen und Deckchen und Lampenschirme, vermeiden wir das Zwielichtige. Und tun wir alles, um nicht unter Muffverdacht zu geraten. Was sollen denn die Nachbarn denken.
Meine Grossmutter hat immer...
Meine Grossmutter hat immer versucht, mir Gardinen für meine vier Meter breite Fensterfront zu schenken, aber damals blieb ich hart. Da war ich auch 25. Heute dagegen habe ich schwere Vorhänge aus Naturseide. Und höre meine Grossmutter s.A. kichern.
Schlimmer noch als Gardinen...
Schlimmer noch als Gardinen finde ich als Architektin Glaskunstwerke aller Art (ob bunt oder senfschimmernd), die gerne diverse Einfamilienhäuschen im Eingangsbereich schmücken und bestenfalls einen zarten Lichtschimmer durchlassen.
Wer's mag, kann sich ja dieser...
Wer’s mag, kann sich ja dieser oder jener Mode unterziehen. Ich bevorzuge kleine Fenster (vertrage gar kein Tageslicht), die zudem mit Lamellen verborgen sind. Das Bild von der Burg hat etwas. Ich fühle mich wohl.
Auf einer weiland jugendlichen...
Auf einer weiland jugendlichen Radtour in Holland war ich reichlich befremdet von deren Präsentiertellerkultur. Trotzdem krieg ich Erstickungsgefühle bei meiner Schwägerin, die noch so blickdichte Wellengardinenarrangements hat. „Meine Amaryllis blüht!“ „Ja, wo denn?“ Also, ich würde schlechterdings nirgendwo wohnen, wo nicht Abstand oder Höhe oder Bäume gnädig vor Nachbarsblicken schützen. Und abends schöne Vorhänge.
Also, in Richtung Don Alfonso...
Also, in Richtung Don Alfonso gesprochen: Am besten wirkt noch immer ein luftig-helles, unverstelltes französisches Fenster auf einen Garten hinaus, welcher erst am Horizont von einer Buchen(!)hecke (alles andere wäre spießiges Schrebergärtnertum) begrenzt wird.
Sind das Geschwister im...
Sind das Geschwister im Geiste?
– Telefonmützchen aus Brockat für die 70er Jahre Bundespost-Apparate
– gehäckelte Klopapierrollenüberzieher (Welch ein Wort!) fürs Auto
– Plastikeinbände für Schulhefte
Biedermeier......
Biedermeier…
Schöner Artikel der den...
Schöner Artikel der den Wandel der gesellschaftlichen Konventionen an diesem Beispiel zeigt.
Ich bevorzuge einen Mittelweg. Gardinen habe ich nicht aber diesen pseudo-mediteranen Stil finde ich ebenso schrecklich. Dekorative Minivorhänge und Fliesen im Wohnzimmer sind einfach ungemütlich.
Ein anderes Thema ist die Gartenmode. Ich bin oft verwundert darüber, dass selbst Leute die an vielbefahrenen Straßen wohnen alle sichtschützenden Bäume oder sogar die Hecke an der Grundstücksgrenze platt machen.
Don, der schwere Vorhang im...
Don, der schwere Vorhang im Stil des 18. Jahrhunderts (knapp überbodenlang!) beschränkt sich ja meist auf die Seiten und lässt in der Mitte genug Platz zum Durchschauen. Er kann aber auch bei Bedarf vorgezogen werden. Im Grunde ist das mein Ideal.
Thessa: Glasbausteine! Riffelglas! Bleiglaskitsch! Da gibt es Schlimmes. Meine Wohnungstür hat wenigstens geätzte Sternchen.
Sven, ja, die Telefonmützchen...
Sven, ja, die Telefonmützchen sind enge Verwandte der plüschigen Textilkultur. (Vermutlich auch die von Max Goldt so schön bezeichnete Klofußumpuschelung.) Die Evolution des Schulhefteinbands ist mir dagegen ein Rätsel. Ich werde das mal eruieren.