Für das maßvolle urbane Ausschreiten in unkommerzieller Umgebung wurden früher einmal eigene Bahnen geschaffen. Im Gegensatz zum Schaufensterbummel, der die Bewegung von Ware zu Ware zum Inhalt hat, und auch im Gegensatz zur Wanderung, die der Bewunderung möglichst unberührter Landschaft dient, ist der Spaziergang auf der Promenade eher einer von Mensch zu Mensch.
Die angemessene Bewegung ist langsames Voranbummeln, körperliche Anstrengung ist nicht erwünscht. Man möchte nicht außer Atem geraten, der Schweiß soll nicht fließen, kurz: Die rundherum zivilisierte Anmutung soll nicht zerstört werden. Die hohe Zeit des Promenierens ist die Zeit nach dem Abendessen; gutgekleidet, die Damen perfekt frisiert, die Kinderchen in Lackschuhen und sauberen weißen Söckchen, begibt man sich zwecks Verdauungsspaziergang ein wenig unter Menschen.
Denn die Promenade ist ein Ort der Begegnung, ein Ort, an dem man sich zeigt und andere sich zeigen. Anderen Menschen, ihrem Aussehen, ihrer Kleidung, ihrer Gestik und Sprache haftet immer ein Faszinosum an, stundenlang kann man Vorübergehende beobachten, das ist spannender als Fernsehen. Man bildet einen Blick aus für die Fein- und Grobheiten, teilt ein, läßt sich vom ersten Eindruck verführen oder abstoßen. Ein Eindruck immerhin, der niemals dem Zufall überlassen ist: Wer hier entlangläuft, hat sich und sein Äußeres darauf vorbereitet.
Zur Bewunderung des Mitmenschen gibt es an Promenaden viele Bänke. Man kann sich dort niederlassen und die Vorübergehenden präsentieren sich einem in ihrer ganzen Pracht. Welche Formenvielfalt die zweigeschlechtliche Vermehrung doch innerhalb einer Spezies erlaubt! Was die Exemplare mit sich anstellen, um attraktiv zu wirken. Wie es dann regelmäßig schiefgeht. Wie sich dann seltsamerweise doch ein Socken-in-Sandalenträger findet, um mit der Socken-in-Sandalenträgerin eine Socken-in-Sandalenfamilie zu gründen.
Doch die Bank hat noch andere Vorteile. Denn die Promenade ist eine städtische, oft eine kurstädtische Einrichtung, und bietet in Form von Kurpromenaden gut gepflegt, mit zahlreichen Bänken versehen, rabattengespickt, brünnchenübersäht, baumgesäumt den Kurzatmigen und Fußlahmen ein Forum. Zwischen Eiscafe, Konzertmuschel und Wandelhalle läßt sich kalorienreich und anstrengungsarm der Tag vertrödeln in seligem Nichtstun. Es bleibt das gute Gewissen, auch bei der dritten Torte noch etwas für die Gesundheit zu tun, man ist ja auf Kur.
Ein besonders dichtes Promenadennetz spannt sich durch Meran. Am Kurhaus befindet sich die breite, palmenbestandene Winterpromenade. Dort ist es recht warm, weshalb sie sich in der kühleren Jahreszeit anbietet, während die Sommerpromenade als baumüberwachsenes Labyrinth in der heißen Jahreszeit Schatten und Kühle spendet. Es schließt sich auf der einen Seite die wilde Gilfpromenade mit ihrer üppigen Vegetation an, mir persönlich die liebste, auf der andern Seite die Passerpromenade. Und oberhalb der Stadt verläuft die Tappeinerpromenade.
Das ist ein ganz besonderes Ding: Fast sechs Kilometer lang, breit und eben, geplant von dem Kurarzt und Botaniker Franz Tappeiner. Durchgängig geschützt von einem ehemals türkisblauen – mittlerweile, wie ich feststellen mußte, dunkelgrünen – Eisengeländer windet sie sich am Berg entlang, es gibt Wege und Stiegen, die sie kreuzen und nach Meran (hinab) oder Dorf Tirol (hinauf) führen. Bewachsen ist der Hang mit mediterraner Flora: Schirmpinien, Lorbeer, Opuntien. Schattige und sonnige Abschnitte wechseln sich ab, hinter jeder der sanften Kurven eröffnet sich ein Ausblick. Die Tappeinerpromenade ist ein großes Glanzstück der Spazierwegskunst, das wird die historische Promenadologie hoffentlich noch erkennen.
Das wunderbarste an dieser Promenade, die ich in elf Kindheitsurlauben beschritt, waren aber immer die Hunde. Ich lief in meinen weißen Söckchen an der Hand meiner Eltern und studierte die Tiere, ihre Halter und wie sie durch mehr als eine Leine verbunden waren, sondern wirklich zusammenpaßten. Es gab immer sehr exotische Hunde dort zu bestaunen: Absonderlich zurechtgeschorene Riesenpudel, seltsame Dreadlockhaufen, winzige schleifengeschmückte Köter. Auf der Tappeinerpromenade galt der Hund noch als Statussymbol, und es waren nicht selten extravagante Mittvierzigerinnen mit Wallegewändern und großen Hüten, die Mut zum seltsamen Hund zeigten. Was die nun ausgerechnet in Meran suchten, in einer Kurstadt, verstand ich nie. Meran hat einen gewissen morbiden Glanz, aber gewiß keinen Glamour.
Lieber als die Wanderung war mir schon immer der Spaziergang auf der Promenade, denn es gab viel zu sehen. Und es gibt bis heute auf Merans Promenaden viel zu sehen, wenn man ein wenig genauer hinschaut: Eispavillions der Jahrhundertwende, Pflanzenensembles in Tierform, Cafés mit Eiswaffelspendern, die seit den Siebziger Jahren in Deutschland ausgestorben sind. Eine pflanzenüberwucherte Wandelhalle mit Wandgemälden, die Motive sind Orte in der Region. Dinge, die man nur mit dem Charme der Nostalgie verteidigen kann.
Aber noch immer ist das wichtigste da, was eine Promenade braucht: Menschen. In all ihren schönen und weniger schönen Ausprägungen, in ihren Formen und ihrer Unförmigkeit, Stil und Stillosigkeit setzen sie sich den Blicken der Bankbeobachter aus. Und ich sitze auf der Bank und zerreiße mir das Maul über Hornhaut in Trekkingsandalen, Rucksackgeschwüre über ausladenden Hinterteilen, ganze Geschwader beiger Bermudas. Bermudas treten praktisch nur in Rudeln auf. Ich werfe ein paar verachtende Blicke auf Knatschbunter-Windanorakfamilie, wie kann sich so etwas vermehren? Hat die Natur dagegen keine Schutzmechanismen? Und freue mich gleich darauf über ein paar gut angezogene ältere Herrschaften, die den Griff zum beigen Rentneranorak offenbar erfolgreich vermeiden konnten.
Muß ich mich nun schlecht fühlen ob meiner Häme? Nein, beschließe ich. Ich nutze die Promenade nur zu ihrem ureigensten Zweck: Zum Beobachten anderer Menschen. Wer sagt, daß man sich über seine Beobachtungen nicht austauschen darf?
Was für ein hübscher Text....
Was für ein hübscher Text. Mir fällt dazu Gudrun Königs „Kulturgeschichte des Spaziergangs“ ein, die, falls nicht sowie schon bekannt, sehr zu empfehlen ist.
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Und: „Wie sich dann seltsamerweise doch ein Socken-in-Sandalenträger findet, um mit der Socken-in-Sandalenträgerin eine Socken-in-Sandalenfamilie zu gründen.“ Köstlich. Ein Lacher am frühen Morgen….
Georgiana Darcy, nein, die ist...
Georgiana Darcy, nein, die ist noch nicht bekannt. Wird auf der Literaturliste vermerkt.
Niemand sagte das, verehrte...
Niemand sagte das, verehrte Frau Diener, und niemand wird es je sagen, jedenfalls kein Mensch mit Stil und sozialer Kompetenz und Verantwortung. Denn nur dadurch erfahren die Discounter-Label-Anbieter ihre wahre Bestimmung. Nicht, daß die Masse der Gesellschaft dort einkaufen müsste, nein, es dient nur der Häme, ausschliesslich, und, vielleicht auch, ersetzt es das Pilgertum, also urbanes Pilgertum. Denn die Kirchen erhalten in der Krise weniger Steuern, um Pilgerfahrten auszurichten: Warst du heute schon beichten? wird ersetzt durch: warst du heute schon schnäppchenmachen. Als Pilgerstätten darf man wohl auch derlei Orte, in dem Sie das Glück haben zu verweilen, bezeichen. All diese Demütigungen, die man dort erfahren darf, wobei sie nocht nicht – ich darf anreichern – die stets passenden Duftkanonaden zu dem beigefarbenen Anoraks erwähnten. Auch diese nimmt man gern vom heimischen Discounter mit. Al.. Nr. 5 ist der stetige und vor allem mutige Begleiter aller Silberfüchse. In meinem geliebten Spanien – dort schätzt man den Paseo Mediterraneo über alles – las ich jüngst von der Unsitte mit nacktem Oberkörper zu…ja was ist das…dem Narzißmus zu huldigen. Wer die Spanier kennt, weiß, wie sie sind und wie sie das finden. Im übrigen für mich immer noch und gottlob – ein signifikanter Unterschied im geeinten Europa.
Gefällt mir in diesem Blog...
Gefällt mir in diesem Blog bislang am besten dieser Text. Außerdem wundere ich mich nun gar nicht mehr, dass ich auf Flohmärkten immer so überfordert bin mit dem Beobachten der Dinge und der Menschen. Kommt davon wenn man einen Flohmarkt nicht von einer Promenade unterscheiden kann. Wird mir jetzt nicht mehr passieren.
Als Sommerlektüre sei da...
Als Sommerlektüre sei da empfohlen, beides aus lange vergangenen Zeiten: Thomas Mann „Herr und Hund“ oder auch (sofern man es antiquarisch auftreibt) Paul Eipper, „Die Gelbe Dogge Senta“ mit wunderbaren Aufnahmen vom Apportieren der Familienschildkröte durch den Vierbeiner.
[Cafés mit Eiswaffelspendern...
[Cafés mit Eiswaffelspendern wie aus den 70ern]
Meran bzw. Südtirol ist immer eine Reise wert: Häufig ist es eine nostalgische Reise in die Vergangenheit.
Übrigens kann man einen Spaziergang auf dem Tappeinerweg über die Stadtgranze hinaus durch die Weinberge oder Obstplantagen verlängern bis man zu einem von zwei kaskadierenden Sessel- bzw. Korbliften gelangt, mit diesen in die Höhe fahren, dort die entsprechende Strecke zurückwandern, um mit Seilbahn und einem weiteren Sessellift in die Stadt zurückzugelangen. Ohne Einkehr oder Aufenthalte dauert das ganze einen halben Tag; mit gemütlichem Einkehren und bewundern der Fernsicht (insbes. zur Reisebeschreibung für alle Daheimgebliebenen) lässt es sich zur Tagestour ausbauen.
Schönen Urlaub !!!
Verehrte Frau Diener,
ich...
Verehrte Frau Diener,
ich gebe zu, bislang kein Blogfreund gewesen zu sein. Aber nach Ihren (und denen des Dons) muß man geradezu süchtig werden. Chapeau und herzlichen Dank Ihnen beiden für die regelmäßigen Betrachtungen, ob heiter, nachdenklich oder gar Teekannenkauffördernd.
Kommen Sie gesund zurück, wenn Freund Hein mit der Schweinesense durchs Land gezogen ist! Wer weiß, vielleicht überraschen Sie uns ja dann mit einer kulturgeschichtlichen Betrachtung der Seuchenmaske. Von (https://4.media.tumblr.com/BPDaeQ0Ckjl2401cnXLGIacvo1_500.jpg) bis (https://farm3.static.flickr.com/2423/3597872908_f972d8cc43.jpg).
PS: Bei dieser Gelegenheit sei Ihnen, Frau Diener, die Ehrenritterschaft des Ordens vom goldenen Pleuellager verliehen, mit den zughörigen Insignien goldener Spaten sowie goldener Vorhang, und zwar für die Replik auf die unfaßbare Pilcherisierung der Kommentarlandschaft. Sie wissen schon, neulich, drüben auf dem Rebellmarkt. „This is not to be borne!“ Ich mag Jane Austen. Jawohl.
Oh Frau Diener, Sie könnten...
Oh Frau Diener, Sie könnten mit meiner Mutter auf der Bank Platz nehmen – vernichtende Urteile werden innert Sekunden gefällt.
Sicher, Meran hat keinen „Glamour“, aber dieser -wie Sie schreiben- morbide Charme ist äusserst reizvoll. Was heute „Glamour“ hat wird doch allzu häufig von „Stars und Sternchen“ der Jetztzeit und deren hysterischen Fangemeinden bevölkert.
nico, die Oberkörperunsitte...
nico, die Oberkörperunsitte hat sich schon bis nach Meran ausgeweitet. Der Reisebegleiter saß heute eine Viertelstunde an der Promenade, weil ich den Ersatzakku vergessen hatte, und berichtete mir schlimmes. Es gibt sogar Beweisfotos. Anlaß für Narzismus kann da eigentlich unmöglich vorgelegen haben.
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NqlBeethoven, danke sehr. Flohmärkte überfordern wirklich auf breiter Front. Die Promenade lässt da mehr Fokussierung zu.
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anderl, Herr und Hund ist ja die ideale Tegernsee-Lektüre. Ich bin zwar nicht der ganz große Thomas-Mann-Fan, aber wenn Sie es empfehlen, geb ich ihm eine Chance.
P.Seudonym, wie erwähnt hatte...
P.Seudonym, wie erwähnt hatte ich elf Kindheitsjahre lang Gelegenheit, die Anhöhe über Meran ausführlichst und jeweils drei Wochen am Stück zu studieren. Insofern kenne ich die Möglichkeiten dort recht gut. Um nicht zu sagen: Ziemlich gut. Es gab Phasen meines Lebens, so grob mit dem Eintritt in die Pubertät, da kannte ich sie so gut, daß ich darauf gern verzichtet hätte.
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Goya, ich verteidige Jane Austen immer wieder gern. Etwas vergleichbares bietet die deutsche Literatur dieser Zeit einfach nicht (und auch lange, lange später nicht), da ist man nicht in der Position für naserümpfend vorgebrachten Dünkel.