Ding und Dinglichkeit

Ding und Dinglichkeit

Keine Frage, die Welt ist voller dinglicher Phänomene. Um viele davon wird einiges Gewese gemacht, etwa um Autos, Mobiltelefone, Schuhe. Das sind die

Warten, drängeln, ignorieren: Der öffentliche Nahverkehr

| 82 Lesermeinungen

Der öffentliche Nahverkehr erzieht zur Demut. Demut gegenüber dem Fahrplan, den tatsächlichen Fahrzeiten, Duldung noch der schlimmsten Fahrgäste und des übelsten Geschiebes unter Einsatz von Aktenkoffern als Wuchtwaffen. Und an den Türen der S-Bahnen wird tagtäglich ein Psychokrieg ausgefochten, der mehr über die Conditio humana verrät, als man je wissen wollte.

Im Umgang mit den Dinglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs hat sich ein soziologischer Kodex entwickelt, der offenbar ständig im Fluss ist. Welche Kriterien das Verhalten der geschätzten Mitbürger beeinflussen, ist mir dabei immer weniger klar. Egoismus, Faulheit oder Hektik? Eine Mischung aus alldem? Was läßt Menschen jeglichen Common Sense vernachlässigen und unschöne Drängelsituationen herbeiführen, um für fünf Minuten den eigenen Hintern auf einem schmutzigen Sitz parken zu können? All das ist mir ein Rätsel.

Bild zu: Warten, drängeln, ignorieren: Der öffentliche Nahverkehr

Eins ist sicher: Der öffentliche Nahverkehr macht ganz offensichtlich aggressiv. Nicht nur die notorischen U-Bahn-Schläger, sondern alle, auch dich und mich. Es fängt mit den äußeren Gegebenheiten an und hört mit den mißgelaunten Fahrgästen noch lange nicht auf. Die Zumutung, die die tägliche Massenbeförderung darstellt, hat vermutlich den Siegeszug des iPod nicht unwesentlich beeinflußt, denn jedes halbwegs empfindsame Gemüt setzt sich dem nicht allzu schutzlos aus. Ein musikalisches Kissen zwischen dem Dreck, dem Lärm, dem Gedrängel und einem selbst hilft der Psyche ungemein.

Die Haupttätigkeit beim Benutzen des öffentlichen Nahverkehrs ist das Warten. Man wartet am Bahnsteig, dann wartet man in der Bahn oder im Bus, bis man angekommen ist. Nun könnte man denken, daß sich in den letzten dreißig Jahren eine Kultur des Wartens entwickelt haben könnte, aber dem ist nicht so. Man steht herum und starrt. Manche lesen, wenn sie länger warten oder fahren. In einigen Tiefbahnhöfen gibt es ein wenig Berieselung durch bunte Bilder, die an eine Leinwand projiziert werden, da starren auch einige hin. Es gilt entsetzlich viel tote Zeit zu überbrücken, die sich mitunter in unbekannte Längen ausdehnt, wenn einfach nichts passiert, weil die S-Bahn so zuverlässig ist wie Godot und die Bahnaufsicht sich hinsichtlich Verspätungen ähnlich auskunftsfreudig gibt wie der KGB, wenn man ihn zum Umgang mit regierungskritischen Journalisten befragt. Erst wird die Existenz des Problems negiert, dann folgt das große Schulterzucken und Ablehnung jeglicher Zuständigkeit.

Und Ungewißheit macht aggressiv. Besonders dann, wenn man das Frühstück auf halber Strecke abgebrochen und den Kaffee stehengelassen hat, um die Bahn noch zu erwischen, die nun nicht kommt. Das macht gleich noch aggressiver. Und wenn es kalt ist und regnet, ist es am schlimmsten. Wenn dann also tatsächlich ein Verkehrsmittel kommt, sind die meisten Fahrgäste schon nervlich erheblich vorbelastet und vergessen ihre gute Kinderstube. Die Kinderstube hat uns idealerweise gelehrt, daß aussteigende Fahrgäste Vorrang haben, so predigten unzählige Mütter, Tanten und Großmütter stets mit erhobenem Zeigefinger. Exakt diese Mütter, Tanten und Großmütter haben das in den letzten zehn Jahren irgendwann vergessen und pochen nun auf ihr eigenes Recht auf Vorrang, das immer gilt, egal ob noch jemand aussteigen möchte oder vielleicht noch ein Kinderwagen in der Tür steht.

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Meistens funktioniert das so: Die Tür geht auf, Fahrgäste steigen aus. Rechts und links der Türöffnung stehen die Fahrgäste, die einsteigen möchten, und hinter den beiden vordersten stehen weitere, eine ganze Traube. Hier beginnt sich nun ein Psychokrieg zu entwickeln, wer als erster neben den aussteigenden Fahrgästen in die Türöffnung drängt. Ein Krieg, den ich mangels Skrupel- und Rücksichtslosigkeit meist verliere, weshalb ich dann an der Türöffnung stehe, Fahrgäste aussteigen lasse und die Traube hinter mir zu murren beginnt, weil sie auf der Psychokriegverliererseite steht. Denn auf der anderen Seite ist nun ein Bann gebrochen: Der skrupel- und rücksichtslose Psychokriegsgewinnler drängt in die Bahn, und hinter ihm folgt die erleichterte Traube, die bereits vor unserer Seite einsteigen kann, um einen Sitzplatz zu ergattern. Manchmal verliert auch einer der hinteren Fahrgäste die Nerven, prescht nach vorn und drängt sich durch. 

Wie reagiert man auf solches Verhalten? Man könnte ja selbst anfangen, Skrupel und Rücksicht fallenzulassen und zu drängeln, aber dann kommt eine Spirale der Skrupel- und Rücksichtslosigkeit in Gang, die man nicht gefördert sehen will. Man kann auch mit ostentativer Höflichkeit reagieren, sich hinstellen, leicht verbeugen und „bitte nach Ihnen“ sagen. Die Option, anderen den Vorrang zu geben, hat sich ja angesichts der Aggression im Nahverkehr völlig aus dem Möglichkeitenschatz der Fahrgäste verabschiedet. Die meisten sagen nicht: Bitte nach Ihnen, sie denken nur: Bitte vor Ihnen. Vielleicht, so hoffe ich immer, muß man sie nur daran erinnern, daß es auch anders geht, und sie durch Höflichkeit beschämen. Blöderweise lassen sie sich nicht beschämen, vermutlich denken sie nur, ich hab sie nicht mehr alle und sind froh, daß es Deppen gibt wie mich, die Psychokriege freiwillig verlieren, denn dann können sie umso schneller und leichter in die Bahn drängen und ihren Hintern parken.

Auch vor dem Einsatz von Waffen schrecken einige nicht zurück. Geeignet ist alles, was weh tut: Aktenkoffer, Trolleys, Fahrräder. Die landen in Kniekehlen, an Schienbeinen, auf Füßen und in Weichteilen. Gern werden Gepäckstücke aber auch dazu verwendet, um sich in überfüllten Bahnen ein wenig Privatsphäre zu verschaffen. Damit einem die Menschheit nicht allzu nahe kommt, werden Puffer aus freien Sitzen geschaffen, und damit die Sitze auch wirklich frei bleiben, plaziert man eine Tasche darauf, stöpselt sich die Ohren zu, schließt am besten noch die Augen oder vertieft sich in irgendwas und hofft, daß niemand so unverschämt ist, einen aus diesem Zustand völliger Weltvergessenheit aufzustören. Das Verhalten der Menschen im öffentlichen Nahverkehr gehorcht also einem Grundsatz: Bemühe dich, Mitmenschen so wenig wie möglich wahrzunehmen. Tu so, als wärst du allein hier. Kurz: Ignoriere das soziale Umfeld, es sind ja ohnehin alle asozial. 

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Ich würde jetzt gern irgendwie positiv schließen. Ich würde gern Hoffnung machen, daß sich eines nicht allzufernen Tages die Erkenntnis durchsetzt, daß aggressive Ignoranz vielleicht nicht der Königsweg ist, mit sozialen Streßsituationen umzugehen. Ich habe da bloß leider wenig Hoffnung, denn solange die Menschheit nicht in der Lage ist, sich artgerecht zu halten, tendiert sie, wie alle Tierarten, zu Futterneid und Beißreflex. Und der öffentliche Nahverkehr ist sicherlich das, was einer Käfighaltung am nächsten kommt – ein A4-Blatt pro Henne, ein Stehplatz pro Arbeitnehmer. Die Nachteile sind die gleichen: Streß, keine Bewegungsfreiheit, erhöhte Seuchengefahr. Und so lernt man ausgerechnet beim S-Bahnfahren, wie dünn die Kruste der Zivilisation ist und wie wenig einen im Grunde von einer Legehenne unterscheidet. (Ich kann allerdings andeuten, daß ich den Verdacht habe, allmählich kapiert jetzt auch der Letzte, daß man auf Rolltreppen rechts steht und links geht. Das wäre ja schonmal was.)


82 Lesermeinungen

  1. fraudiener sagt:

    Damenwahl, das kenn ich: Als...
    Damenwahl, das kenn ich: Als ich mal, ähnlich wie von unellen beschrieben, eine besonders unverschämt drängelnde Rotte bat, doch ein bißchen mehr Zivilisiertheit walten zu lassen, bekam ich Rückendeckung ausgerechnet von einer Gruppe Jugendlicher mit Migrationshintergrund: „Aber escht. Ährlisch.“ Rücksicht geht quer durch die Einkommens- und Gesellschaftsschichten und ist Menschen nicht auf den ersten Blick anzusehen.
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    Don Nutella, so hat jede Nation ihre Tugenden und Marotten. Ich finde das ja faszinierend, wie sich landesübergreifend ein bestimmter Umgang mit international identischen Gegebenheiten durchsetzt. Nicht daß ich an sowas wie Nationalcharakter glauben würde.
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    Doctor Snuggles, kaputtes Deutsch finde ich oft auch faszinierend. Wenn man genau hinhört, merkt man bei vielen, daß sie ihre „Ey Alda“-Floskeln an völlig korrekte Sätze anhängen. Wie letztens im Park aufgeschnappt: „Das ist nicht unüblich, Alda.“
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    ochja, deshalb fahre ich immer Landstraße 🙂

  2. BlackJack66 sagt:

    Ach werte Frau Diener, Sie...
    Ach werte Frau Diener, Sie haben vergessen zu erwähnen, dass die Leute zusätzlich Angst haben zu tief in den Nahverkehrsraum vorzudringen. Man hält ishc bevorzugt in der Menschentraube an der Tür auf. In der Mitte jeglicher S-Bahn fände jeder noch bequem eine Stehplatz, der größer ist als das A4 Legehennenplatzerl. Warum ist das eigentlich so?
    Ich finde das S-Bahn fahren immer wieder spannend und nicht nur weil man befürchten muss Opfer zu werden, sondern durchaus soziologisch spannend. Hier ist Feldforschung am lebenden Objekt billig und realitätsnah durchführbar. Wer hat denn je behauptet, dass die Zivilisation uns nicht nur oberflächlich verändert hat. Sagte nicht W Busch weiland schon: Das wir streng genommen immer noch die gleichen Affen sind? Oder war das jemand anderes?

  3. fraudiener sagt:

    Black Jack, Sie meinen Erich...
    Black Jack, Sie meinen Erich Kästner, oder?
    https://www.sternenfall.de/Kaestner–Die_Entwicklung_der_Menschheit.html
    Der hat das seinerzeit besonders hübsch in Verse gegossen, und bis auf die Rohrpost ist das auch noch alles aktuell.

  4. Moritz sagt:

    Ein schöner Artikel zum...
    Ein schöner Artikel zum Thema. Ich versuche den ÖPNV soweit es geht zu meiden, ist leider bei einer Reisetätigkeit nicht wirklich möglich.
    Letztendlich ergebe ich mich dann in mein Schicksal, erwische mich aber oft bei depressiven Gedanken. Heute morgen in Düsseldorf in der Strassenbahn haben sich 2 junge Frauen über Hausaufgaben unterhalten, wußten aber offenbar nicht genau welche Sprache sie da gerade lernen – die eine mußte maulend aufstehen, weil ein nach Urin riechender Opa mit Gehbehinderung auf ihrem Platz sitzen wollte. Ich schwanke dann immer zwischen „du mußt Verständnis haben, hat es nicht jeder so gut wie du“ und „Gleich raste ich aus“.
    Wie sagte Harald Schmidt so schön – Toleranz ist die Mischung aus Ekel, Verachtung und Mitleid, also entscheide ich mich, tolerant zu sein, während der Rhein grau an mir und meinem Ipod vorüberzieht.
    Gruss Moritz

  5. Jeeves sagt:

    "...daß ich den Verdacht...
    „…daß ich den Verdacht habe, allmählich kapiert jetzt auch der Letzte, daß man auf Rolltreppen rechts steht und links geht. Das wäre ja schonmal was.“
    Nunja, ich bin da (leidgeprüft und) nicht so optimistisch. Und noch einer ebenfalls:
    „Jede Generation fängt immer neu an, nichts zu wissen“ – Bedeutet das … daß man von einer zyklischen Verblödung ausgehen muß, die von Generation zu Generation wiederkehrt? Dieter Hildebrandt: „Ich glaube ja“.

  6. Paulchen sagt:

    Geehrte Frau Diener,
    die Zeit...

    Geehrte Frau Diener,
    die Zeit an welche ich mich erinnerte war damals in Berlin.
    Und diese Stadt bleibt immer was sie war.
    Herzlichst P.

  7. elbsegler sagt:

    Der ÖPNV, eine Abkürzung,...
    Der ÖPNV, eine Abkürzung, die schon so unangenehm klingt, wie diese Art des Personentransports sich dann auch anfühlt, hat eben nichts mit Reisen zu tun. Es ist reiner Transport. Der Mensch als Beförderungsfall. Auch wenn sich die Unternehmen mehr oder weniger mühen, so etwas wie Komfort zu bieten, bleibt es in den Hauptreisezeiten eine unappetitliche Angelegenheit. Es ist immer wieder erstaunlich, wie ungeniert uns manche Mitmenschen mit ihren Lebensäußerungen belästigen. Abgesehen vom notorischen Drängeln und Blockieren, der aufgedrängten „Musik“ ist das ganze auch ein olfaktorisch höchst unangenehmes Erlebnis. Die Vorteile regelmäßigen Kleiderwechsels oder der Morgentoilette scheinen sich bei vielen dieser Beförderungsfälle noch nicht herumgesprochen zu haben. Nach einem herzhaften Schubser mit der Nase in einer imbissbudenerprobten Strickjacke zu landen, ist kein Erlebnis, was einem besondere Kraft für den jungen Tag verschafft. Der ÖPNV macht wohl auch unbewußt aggressiv, weil in vollen Bussen und Bahnen zwangsläufig jeder in die Intimzone des anderen einbricht. Den Mindestabstand unterschreiten zu müssen und dies auch von anderen hinnehmen zu müssen, ist einfach ein Problem. Und schließlich die paradoxe Situation, sich fortzubewegen in dem man die meiste Zeit wartet, angespannt herumsteht, wie Sie es so schön beschrieben haben.

  8. Don Ferrando sagt:

    In meinem Englisch Schulbuch...
    In meinem Englisch Schulbuch gab es in den Siebzigern noch Photographien von Bushaltestellen in London mit dem berühmten Queuing.
    Als ich dieses Jahr das erste mal London besuchte, war ich total enttäuscht, daß davon heutzutage leider nicht mehr viel übrig geblieben ist !
    sic transit gloria imperii!

  9. Tschonni sagt:

    Erstmal wage ich zu behaupten,...
    Erstmal wage ich zu behaupten, dass die Hühner die auf meinem Teller landen, ein besseres Leben hatten, als der Nutzer des ÖPNV im Rhein-Main-gebiet.
    Davon abgesehen ists doch gerade schön ohne Ipod zu fahren, zumidenst Kurzstrecken. Denn nur da sieht man Menschen, die man so nie kennen lernen würde. Die man wahrscheinlich auch nicht kennen lernen wollte. So kam ich beispielsweise auf einer Fahrt von Darmstadt nach Frankfurt, mal in den Genuß einen Freigänger auf meinem Nachbarsitz zu haben, der 2 Damen die er zufällig traf erzählte dass er eine elektronische FUssfessel trägt. Privat will ich ihn nicht kennen , aber das ERegnis an sich fand sofort den Weg ins Notizbuch 🙂
    Und das Phänomen, dass sich vor dem „alda“ ganze Sätze verbergen, haben wir vor kurzem „Angewandte Straßenlinguistik für Akademiker“ getauft.
    Denn auch in meinem Freundeskreis kommen Sätze vor wie „Sag mal, hast du den neuen Max Goldt schon gelesen? Fabelhaft, ich kann dir aber erst nächste Woche geben, den habe ich gerade nem Homie ausgeliehen“ Ohne dass auch nur einer von uns eine Hood hätte, oder in irgendeiner Szene ist. Und fragen wie „was geht?“ oder „lass mal wiedern grillnchill machen“ deklassieren uns verbal auch erstmal.

  10. BlackJack66 sagt:

    Ja Sie haben recht Frau...
    Ja Sie haben recht Frau Diener, dieses Zitat meinte ich, warum ich es Busch zuschreiben wollte, kann ich wohl nur auf beginnende Verkalkung schieben?!
    Aber vielleicht ist gesunde Halbbildung auch ein Zeichen unserer Zeit, kein dingliches zwar, aber trotzdem ein Zeichen.

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