Im Umgang mit den Dinglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs hat sich ein soziologischer Kodex entwickelt, der offenbar ständig im Fluss ist. Welche Kriterien das Verhalten der geschätzten Mitbürger beeinflussen, ist mir dabei immer weniger klar. Egoismus, Faulheit oder Hektik? Eine Mischung aus alldem? Was läßt Menschen jeglichen Common Sense vernachlässigen und unschöne Drängelsituationen herbeiführen, um für fünf Minuten den eigenen Hintern auf einem schmutzigen Sitz parken zu können? All das ist mir ein Rätsel.
Eins ist sicher: Der öffentliche Nahverkehr macht ganz offensichtlich aggressiv. Nicht nur die notorischen U-Bahn-Schläger, sondern alle, auch dich und mich. Es fängt mit den äußeren Gegebenheiten an und hört mit den mißgelaunten Fahrgästen noch lange nicht auf. Die Zumutung, die die tägliche Massenbeförderung darstellt, hat vermutlich den Siegeszug des iPod nicht unwesentlich beeinflußt, denn jedes halbwegs empfindsame Gemüt setzt sich dem nicht allzu schutzlos aus. Ein musikalisches Kissen zwischen dem Dreck, dem Lärm, dem Gedrängel und einem selbst hilft der Psyche ungemein.
Die Haupttätigkeit beim Benutzen des öffentlichen Nahverkehrs ist das Warten. Man wartet am Bahnsteig, dann wartet man in der Bahn oder im Bus, bis man angekommen ist. Nun könnte man denken, daß sich in den letzten dreißig Jahren eine Kultur des Wartens entwickelt haben könnte, aber dem ist nicht so. Man steht herum und starrt. Manche lesen, wenn sie länger warten oder fahren. In einigen Tiefbahnhöfen gibt es ein wenig Berieselung durch bunte Bilder, die an eine Leinwand projiziert werden, da starren auch einige hin. Es gilt entsetzlich viel tote Zeit zu überbrücken, die sich mitunter in unbekannte Längen ausdehnt, wenn einfach nichts passiert, weil die S-Bahn so zuverlässig ist wie Godot und die Bahnaufsicht sich hinsichtlich Verspätungen ähnlich auskunftsfreudig gibt wie der KGB, wenn man ihn zum Umgang mit regierungskritischen Journalisten befragt. Erst wird die Existenz des Problems negiert, dann folgt das große Schulterzucken und Ablehnung jeglicher Zuständigkeit.
Und Ungewißheit macht aggressiv. Besonders dann, wenn man das Frühstück auf halber Strecke abgebrochen und den Kaffee stehengelassen hat, um die Bahn noch zu erwischen, die nun nicht kommt. Das macht gleich noch aggressiver. Und wenn es kalt ist und regnet, ist es am schlimmsten. Wenn dann also tatsächlich ein Verkehrsmittel kommt, sind die meisten Fahrgäste schon nervlich erheblich vorbelastet und vergessen ihre gute Kinderstube. Die Kinderstube hat uns idealerweise gelehrt, daß aussteigende Fahrgäste Vorrang haben, so predigten unzählige Mütter, Tanten und Großmütter stets mit erhobenem Zeigefinger. Exakt diese Mütter, Tanten und Großmütter haben das in den letzten zehn Jahren irgendwann vergessen und pochen nun auf ihr eigenes Recht auf Vorrang, das immer gilt, egal ob noch jemand aussteigen möchte oder vielleicht noch ein Kinderwagen in der Tür steht.
Meistens funktioniert das so: Die Tür geht auf, Fahrgäste steigen aus. Rechts und links der Türöffnung stehen die Fahrgäste, die einsteigen möchten, und hinter den beiden vordersten stehen weitere, eine ganze Traube. Hier beginnt sich nun ein Psychokrieg zu entwickeln, wer als erster neben den aussteigenden Fahrgästen in die Türöffnung drängt. Ein Krieg, den ich mangels Skrupel- und Rücksichtslosigkeit meist verliere, weshalb ich dann an der Türöffnung stehe, Fahrgäste aussteigen lasse und die Traube hinter mir zu murren beginnt, weil sie auf der Psychokriegverliererseite steht. Denn auf der anderen Seite ist nun ein Bann gebrochen: Der skrupel- und rücksichtslose Psychokriegsgewinnler drängt in die Bahn, und hinter ihm folgt die erleichterte Traube, die bereits vor unserer Seite einsteigen kann, um einen Sitzplatz zu ergattern. Manchmal verliert auch einer der hinteren Fahrgäste die Nerven, prescht nach vorn und drängt sich durch.
Wie reagiert man auf solches Verhalten? Man könnte ja selbst anfangen, Skrupel und Rücksicht fallenzulassen und zu drängeln, aber dann kommt eine Spirale der Skrupel- und Rücksichtslosigkeit in Gang, die man nicht gefördert sehen will. Man kann auch mit ostentativer Höflichkeit reagieren, sich hinstellen, leicht verbeugen und „bitte nach Ihnen“ sagen. Die Option, anderen den Vorrang zu geben, hat sich ja angesichts der Aggression im Nahverkehr völlig aus dem Möglichkeitenschatz der Fahrgäste verabschiedet. Die meisten sagen nicht: Bitte nach Ihnen, sie denken nur: Bitte vor Ihnen. Vielleicht, so hoffe ich immer, muß man sie nur daran erinnern, daß es auch anders geht, und sie durch Höflichkeit beschämen. Blöderweise lassen sie sich nicht beschämen, vermutlich denken sie nur, ich hab sie nicht mehr alle und sind froh, daß es Deppen gibt wie mich, die Psychokriege freiwillig verlieren, denn dann können sie umso schneller und leichter in die Bahn drängen und ihren Hintern parken.
Auch vor dem Einsatz von Waffen schrecken einige nicht zurück. Geeignet ist alles, was weh tut: Aktenkoffer, Trolleys, Fahrräder. Die landen in Kniekehlen, an Schienbeinen, auf Füßen und in Weichteilen. Gern werden Gepäckstücke aber auch dazu verwendet, um sich in überfüllten Bahnen ein wenig Privatsphäre zu verschaffen. Damit einem die Menschheit nicht allzu nahe kommt, werden Puffer aus freien Sitzen geschaffen, und damit die Sitze auch wirklich frei bleiben, plaziert man eine Tasche darauf, stöpselt sich die Ohren zu, schließt am besten noch die Augen oder vertieft sich in irgendwas und hofft, daß niemand so unverschämt ist, einen aus diesem Zustand völliger Weltvergessenheit aufzustören. Das Verhalten der Menschen im öffentlichen Nahverkehr gehorcht also einem Grundsatz: Bemühe dich, Mitmenschen so wenig wie möglich wahrzunehmen. Tu so, als wärst du allein hier. Kurz: Ignoriere das soziale Umfeld, es sind ja ohnehin alle asozial.
Ich würde jetzt gern irgendwie positiv schließen. Ich würde gern Hoffnung machen, daß sich eines nicht allzufernen Tages die Erkenntnis durchsetzt, daß aggressive Ignoranz vielleicht nicht der Königsweg ist, mit sozialen Streßsituationen umzugehen. Ich habe da bloß leider wenig Hoffnung, denn solange die Menschheit nicht in der Lage ist, sich artgerecht zu halten, tendiert sie, wie alle Tierarten, zu Futterneid und Beißreflex. Und der öffentliche Nahverkehr ist sicherlich das, was einer Käfighaltung am nächsten kommt – ein A4-Blatt pro Henne, ein Stehplatz pro Arbeitnehmer. Die Nachteile sind die gleichen: Streß, keine Bewegungsfreiheit, erhöhte Seuchengefahr. Und so lernt man ausgerechnet beim S-Bahnfahren, wie dünn die Kruste der Zivilisation ist und wie wenig einen im Grunde von einer Legehenne unterscheidet. (Ich kann allerdings andeuten, daß ich den Verdacht habe, allmählich kapiert jetzt auch der Letzte, daß man auf Rolltreppen rechts steht und links geht. Das wäre ja schonmal was.)
Moritz, ich arbeite an meinem...
Moritz, ich arbeite an meinem Reichtum, um mir halbwegs oft ein Taxi leisten zu können. Gerade mit Gepäck, wenn ich doch mal wieder Zug fahre. Und gerade, wenn ich hier am Ort ankomme, wo es sehr häßliche, enge und stinkende Unterführungen gibt.
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Jeeves, zum Thema zyklische Verblödung: An der Frankfurter Uni im IG-Farben-Haus fahren noch Paternoster. In jedem Stockwerk befindet sich ein Nothalteknopf. Raten Sie mal, was jedes halbe Jahr zu Semesterbeginn, wenn die neuen, jungen Studenten ankommen, passiert? Alle paar Minuten Alarm, Nothalt, das ganze System bleibt stehen, weil wieder irgendein Naivchen den Knopf gedrückt hat, weil es nicht kapiert, daß es schon so agil sein muß, bei voller Fahrt in die Kabine zu springen.
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Elbsegler, meine letzten Reste eines Glaubens an die Menschheit habe ich schon früh verloren, und zwar dann, als ich diesen Job als Telefon-Umfragetante hatte. Da gab es unter anderem mal diese Umfrage zum Thema Aftershave und Deodorant bei Männern. Sie ahnen ja nicht.
Liebe Frau Diener, zum Thema...
Liebe Frau Diener, zum Thema Aftershave und Deodorant bei Männern bleibt es häufig leider nicht beim Ahnen. Kein Thema für die Mittagspause.
Fahren Sie denn gerne Zug,...
Fahren Sie denn gerne Zug, Frau Diener? Im Zug sitzen immer Leute die hartgekochte Eier auspulen und essen….war auf jeden Fall früher so.
Ich bin generell kein Freund von öffentlichen Verkehrsmitteln, die unplanbaren Sozialkontakte sind nicht so meins. Flugzeug geht gerade so noch, zumal das Ambiente beim Einsteigen und Aussteigen im Sicherheitsbereich schon ein bisschen abgeschottet ist. Ich fahre gerne Auto, da habe ich meine Ruhe und es geht mir wirklich kein (Unbekannter) auf den Keks. Obwohl, ich habe mal einen im Zug getroffen, dessen Job es war Kinder zurück zu holen, die von einem Elternteil ins Ausland verschleppt worden sind – das waren spannende Stories.
Frau Diener, an einen...
Frau Diener, an einen Nationalcharakter glaube ich auch nicht, aber ich denke, dass das Umfeld seine Menschen genauso prägt wie umgekehrt. Sprich eine Person, die in GB aufwächst, lernt von klein auf durch das Vorbild anderer wie man sich in und um öffentliche Verkehrsmittel herum benimmt. Eine Person, die in D aufwächst lernt halt eben durch das Vorbild anderer wie man sich daneben benimmt.
Dafür haben wir andere Tugenden…
Bei der Rollentreppenbenutzung...
Bei der Rollentreppenbenutzung der Deutschen gibt es überhaupt keine Fortschritte. Wirklich überall auf der Welt schaffen es die Menschen, die einfache Regel „rechts stehen, links gehen“ einzuhalten, nur in Deutschland nicht. Was mag die Ursache sein? Nicht nur hält sich jung und alt nicht daran, sondern es wird sogar als exotisch oder gar unhöflich(!) angesehen, wenn jemand (auf der linken Seite) gehen will. Es muss einen tief sitzenden Irrglauben im deutschen Wesen geben, dass man auf Rolltreppen ausschließlich stehen darf. Hat das schon mal jemand wissenschaftlich erforscht?
Don Ferrando, ich hatte auch...
Don Ferrando, ich hatte auch so ein altes Englischbuch, wo brav gequeuet wurde. Und dann tun diese Engländer das einfach nicht, und nicht einmal einen Bowler tragen sie. Vermutlich kann man in Tokio auch S-Bahn fahren, ohne daß man von einem Menschendrücker mit weißen Handschuhen in den Wagen gedrückt wird. Überall wird man nur belogen und betrogen. Ein Skandal ist das!
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Tschonni, „guckst du hier“ ist ja eine allgemein gebräuchliche Wendung, die ihren Weg aus dem Soziolekt herausfand. Überhaupt finde ich mitgehörte Gespräche ja noch recht interessant. Bei Gerüchen oder Körperkontakt ist meine Grenze für unfreiwillige Sinneswahrnehmungen dann aber erreicht.
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Black Jack, gesunde Halbbildung ist Berufsvoraussetzung für Journalisten. Nur müssen die dann noch googeln können.
Auch in Frankfurt sind...
Auch in Frankfurt sind Prügelfrauen unterwegs. Und wieder half niemand demjenigen, der helfen wollte. Was ich mich bei sowas frage: wenn ich einem angegriffenem Helfer helfen möchte, darf ich da eigentlich auch mal richtig auf die Angreifer losprügeln oder muss ich warten, bis die auf mich einschlagen, um mich dann mit Notwehr rechtfertigen zu können? In Deutschland sind ja die Täter häufig Opfer, daher meine Frage. Eigentlich wollte man nur helfen und wird dann wegen Körperverletzung angeklagt.
https://www.sueddeutsche.de/,ra2m1/panorama/925/490303/text/
Mit Prügelfrauen war ich auch...
Mit Prügelfrauen war ich auch mal konfrontiert. Es war nicht sonderlich spät, so halb zehn, und lauter Schaulustige im Wagen, die interessiert beobachteten, daß mich diese Damen offenbar gewaltsam am Aussteigen hindern wollten. Gerettet hat mich dann ein Grüppchen älterer Türken. Seitdem hab ich einen Hau weg und werde paranoid, wenn ich in eine Gegend komme, in der es zu wenig Türken gibt, die mich im Zweifelsfall retten könnten. Völlig irrational, aber sowas prägt.
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Moritz, daß ich gerne Zug fahre, wäre ein bißchen übertrieben. Ich nehme es so hin. Ich dulde. Ich bin vermutlich zuviel Zug und zuviel ÖPNV gefahren, weil ich noch nicht lange Führerschein habe, und irgendwann ging es mir so auf die Nerven, daß ich mir gesagt habe: Okay, jetzt gehst Du zur Fahrschule und meldest Dich an. Das sagt einiges.
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gewappnet, früher einmal gab es Schilder, auf denen stand: Rechts stehen, links gehen, die waren vorn an den Rolltreppen und erklärten dem Benutzer, wie er sich zu verhalten hat. Ich weiß nicht mehr, wann das abgeschafft wurde und warum. Gerade am Bahnhof, wo Menschen Züge erreichen müssen, sollte man es doch schaffen, Eilige hindurchzulassen. Aber nein.
@ Don Nutella: Also mein...
@ Don Nutella: Also mein Gefühl sagt mir, dass englische Jugendliche + Langeweile + ggf. Alkohol ähnlich konfliktträchtig sein können wie unsere Herrschaften. Googlen Sie mal…
@gewappnet: Daraus könnte man auch schließen, dass die Regel in Deutschland nicht gilt. Ich würde sogar die Existenz einer Regel bezweifeln, die weder niedergeschrieben ist, noch beachtet wird. Was Sie persönlich wollen (z.B. auch der Rolltreppe gehen) ist anderen womöglich unersichtlich. Aber fragen Sie doch einfach höflich, vielleicht werden Sie ja vorgelassen und gewinnen 2,3 Sek.
Nee nee... eher brennt die...
Nee nee… eher brennt die BVG…
Zu diesem Thema fällt mir sofort Rio Reisers „Mensch Meier“ ein.
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Ich bin überzeugter Nutzer des ÖPNVs, obwohl ich gestehen muss, dass ich dabei eine der angenehmeren Strecken hier in Hamburg nutze. Aber an_ekdoten fehlt es mir auch hier nicht. Doch eines der unschönsten Erlebnisse hatte ich – jetzt kommts – in Berlin!! Dort meinte eine bebirkenstockte Mittdreissigerin mit ihrem Fussnagelknipser etwas unkontrolliert eben diese durchs Abteil zu schnipsen. Scheinbar hat es die umsitzenden Berliner nicht gestört, die scheinen einiges gewohnt zu sein.
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Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich einen Stöpsel meines MP3-Players
aus dem Ohr nehme, um den Dialogen der Umsitzenden zu folgen. Es ist wirklich interessant, manchmal auch unfassbar.
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Das mit den Rolltreppen ist wirklich nicht schön, schon gar nicht, wenn ganz clevere Mitmenschen vor Rolltreppen stehen bleiben.