Ding und Dinglichkeit

Ding und Dinglichkeit

Keine Frage, die Welt ist voller dinglicher Phänomene. Um viele davon wird einiges Gewese gemacht, etwa um Autos, Mobiltelefone, Schuhe. Das sind die

Im toten Winkel der Poesie: Die Plastiktüte

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Ihr Dasein beginnt hoffnungsfroh mit freudigem Konsum, ihr Ableben ist meist ein würdeloses an der Seite leicht verschrobener Existenzen. Dabei ist die Plastiktüte ein vielseitig einsetzbares Ding, mit dem manche ihr gesamtes Leben organisieren. Ja, sogar zu großer Schönheit und Poesie ist sie fähig – oder, mit den Worten des Wiener Opern- und Sackerlkenners Marcel Prawy: "Das Plastiksackerl ist das Heiligtum".

Ich hätte es wissen müssen, als ich mich auf den Platz direkt neben dem Mann mit der gebraucht aussehenden Plastiktüte setzte. Bei Lesungen oder Ausstellungseröffnungen tauchen immer diese Männer mit gebraucht aussehenden Plastiktüten auf, und die sind alle ein bißchen irr. Die meisten kommen nur, wenn der Eintritt frei ist und besonders dann, wenn es was umsonst gibt und ganz besonders dann, wenn es Wein umsonst gibt. Dieser Abend war also ganz nach dem Geschmack des Mannes mit der Plastiktüte.

„Haben Sie schon einmal an so einer Veranstaltung teilgenommen?“ fragte er mich, kaum, daß ich mich gesetzt und die Handschuhe ausgezogen hatte. 
„Wie – im Publikum? Ja, durchaus“, sagte ich.
„Ist das heute Abend eine Lesung oder eine Podiumsdiskussion?“ fragte er.
„Eine Lesung“, sagte ich leicht irritiert. Ich denke ja immer, Menschen, die auf Lesungen gehen, sind wenigstens grob darüber orientiert, was sie sich da gleich zu Gemüte führen. Anscheinend nicht alle.

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Der Plastiktütenmann klärte mich dann darüber auf, daß er öfter hier am Hause vorbeigehe und nun einmal an so einer Veranstaltung teilnehmen wolle. Dabei krallte er sich an seiner Plastiktüte fest, an der er sich augenscheinlich schon so oft festgekrallt hatte, daß die Farbe ganz abgewetzt war und das weiße Material hervorschien wie bei einer Moonwashed-Jeans aus den Achtzigerjahren.

Die abgewetzte Plastiktüte ist die Handtasche des einsamen alten Mannes. Meist schon mehr als ein bißchen wunderlich und mit einer leichten Neigung zum Suff stopft er die Plastiktüte voll mit Zeitungen, wahllos zusammengesammeltem Informationsmaterial und anderen Dingen, ohne die er das Haus nicht zu verlassen sich in der Lage sieht und begibt sich auf seine abendliche Wanderung durch die Kulturinstitutionen der Stadt. Er ist sehr höflich, spricht jeden an und riecht meist etwas streng. Es gibt ihn in jeder Stadt, bei nahezu jeder Veranstaltung und manchmal auch in weiblicher Ausführung. Manchmal erzählen sie einem ihr Leben, dann erfährt man, daß sie seit 40 Semestern Germanistik studieren.

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Vorne auf dem Podium liest ein junger Lyriker, und während die Wörter an mir vorbeihuschen, denke ich über die Melancholie der Plastiktüte im Endstadium nach. Denn der Beginn ist ja so hoffnungsfroh, wenn im Laden Frischgekauftes in die Tüte gepackt und stolz nach Hause getragen wird. Sie ist ein Symbol gerade eben vollzogenen Konsumverhaltens, seht her, ich tu was für die Wirtschaft, ich habe gerade eben dazu beigetragen, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Man tut heute ja nichts mehr einfach so privat, kaufen oder Kinderkriegen, man tut es für das ökonomische Wohlergehen des geschätzten Vaterlandes.

Dann tritt die Plastiktüte ihren ersten Gang an, bis sie im Heim des Käufers ankommt. Alles, was nun folgt, ist schon eine Zweitverwertung, für die sie nicht hergestellt wurde. Sie deckt Dinge ab, die nicht naßwerden sollen, sie transportiert Gegenstände, die keine Griffe haben, sie wird mit alten Kissen gestopft und als Knieposter für Gartenarbeit verwendet – ihre Einsatzgebiete sind mannigfaltig und immer irgendwie provisorisch. Man verwendet sie, wenn man nichts besseres hat. Die Nachkriegsgeneration konnte mit einer Plastiktüte, etwas Draht und Isolierband praktisch alles reparieren. So jemand war auch mein Großvater: Immer mehr kaputte Gegenstände im Haus wurden durch Konstruktionen aus diesen drei Materialien ersetzt, was nicht schön war, aber billig. 

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Ein besonders abgewetztes Exemplar, auf dem man die Hertie-Rosette kaum noch erkennen konnte, nahm Gartenschere und Handrechen auf und kam regelmäßig einmal in der Woche mit zum Friedhof. Es hing in seiner ganzen in Würdelosigkeit gealterten Pracht am Lenker des Fahrrads, bis mein Großvater wieder zu Hause ankam und die Tüte die Woche über an einem Haken im Keller hing. Jahrelang lebte diese Plastiktüte mit uns. Und als sie endlich einen Riß bekam, was lange dauerte, wurde sie noch immer nicht ersetzt, obwohl sich neue, kaum gebrauchte Plastiktüten massenweise im Haushalt einfanden. Man trennt sich nicht so leicht.

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In Österreich gilt das Plastiksackerl als Ausweis von zerstreuter Genialität. Der bekennende Messie Hermes Phettberg sammelt Staub jahrgangsweise und die Jagdbeute täglicher Sammeltouren in solchen Sackerln, dem Wiener Opernspezialisten Marcel Prawy dienten sie einstmals als Organisationsgrundlage seines Daseins. In rund tausend beschrifteten Sackerln sammelte er Dokumente, die er nach seinem Tod der Stadt Wien vermachte. In Phettbergs legendärer Sendung „Phettbergs Nette Leit Show“ tauschten sich die beiden einstmals über ihren Sackerlfetischismus aus (Teil 1, Teil 2), der vom Hosensackerl über das Papiersackerl schließlich im Plastiksackerl seine Apotheose findet: „Das Plastiksackerl ist das Heiligtum“, befand Prawy. Dies ist das Land, in dem eine große Supermarktkette mit drei- und überdimensionalen, leuchtenden Sackerln als Logo wirbt, davon können wir nur lernen.

Aber auch ohne Dichter ist die Plastiktüte zur Poesie fähig, wie eine schöne Sequenz aus dem Film „American Beauty“ zeigt. Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen aber fristet die Plastiktüte eine unbeachtete Existenz im toten Winkel der Gegenwartskultur. Edle Geschäfte, die viel auf sich halten, verwenden keine Plastiktüten, dort gibt es Papiertüten mit Schnurgriff und fest gefaltetem Boden, wie ein Karton. Mit dem ordinären Gegenstand Plastiktüte möchte man sich dort nicht gemein machen, denn sie hat immer etwas billiges an sich, auch in ganz neuem, noch leicht stinkendem Zustand frisch vom Block. Der Rest der Menschheit greift mittlerweile zum handbedruckten Leinensackerl mit Heimatmotiv, das den etwas drögen Jute-statt-Plastik-Beutel abgelöst hat, während das praktische, faltbare Einkaufsnetz in Regenbogenfarben mit Druckverschlußetui nahezu ausgestorben ist. Zusammen mit einem zweiten Druckverschlußttui, das eine Regenhaube aus Plastik beinhaltete, war es einstmals unverzichtbarer Bestandteil ein jeder Tantenhandtasche.

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Der junge Lyriker beendete seine Lesung, es folgte die Einladung zum Wein im Foyer.
„War ganz interessant, oder?“ sagte der Plastiktütenmann zu mir.
„Ja, war es“, sagte ich.
Wir standen gleichzeitig von unseren Stühlen auf, dann verlor ich ihn aus den Augen. Im Foyer traf ich ihn wieder, er stand vor mir am Ausschank. Es gehört zu den unheimlichen Fähigkeiten des Plastiktütenträgers, stets der erste beim Wein zu sein. Er nahm sich noch eine Brezel, setzte sich mit Glas und Tüte aufs Sofa, während ich noch in der Schlange stand, und begann mit wohldosierter Penetranz, auf eine dort bereits sitzende Dame einzureden. Er verhielt sich, kurz gesagt, völlig plastiktütenträgerkonform.


55 Lesermeinungen

  1. Vor einem Jahr war ich bei...
    Vor einem Jahr war ich bei einem Vorstellungsgespräch, wo es darum ging, die Direktorenposten eines wissenschaftlichen Institutes zu besetzen. Ein aussichtsreicher Bewerber um die 60 scheiterte nicht zuletzt daran, daß er eine Jutetasche mitgebracht und sie auch noch gut sichtbar auf den Tisch gelegt hatte.
    Gerade die junge Lehrstuhlinhaberin hatte von allen Beiratsmitgliedern dafür am allerwenigsten Verständnis.

  2. muscat sagt:

    Genau!! Wie der eine Typ an...
    Genau!! Wie der eine Typ an der Uni, geschätzte Mitte 60 („Universität des dritten Lebensalters“), der immer zu spät ins Seminar gehuscht kam (der Professor daraufhin: „Und mit pünktlicher Verspätung erscheint wie immer unser Herr XY….“).
    .
    Bin selbst mittlerweile auf ein unverwüstliches pinkes Nylonfabrikat (inklusive zweier Plastik-Einkaufsmünzen im Seitenfach) eines Herstellers ausgewichen, dessen Produkte u.a. als Prämie für das Bestellen eines Jahresabos einer Tageszeitung angeboten werden. War ein Geschenk einer guten, extrem praktisch veranlagten Freundin. Pink hätte ich sonst nicht genommen. Ehrlich.

  3. fraudiener sagt:

    Ich schwöre auf die...
    Ich schwöre auf die Buchmesse-Leinentaschen in dezentem Schwarz mit geschmackvoller Aufschrift. Auch die baugleichen schwarzen arte-Taschen sind gern gesehen. Aber zum Vorstellungsgespräch würde ich doch auf die klassische Aktentasche zurückgreifen, auch in wissenschaftlichem Umfeld. Sobald der Posten gesichert ist, geht dann wieder ausgebeultes Cordsakko plus Birkenstocks an Jutebeutel.

  4. Filou sagt:

    In meiner Studienzeit war die...
    In meiner Studienzeit war die Plastiktuete das Behaeltnis all meiner Bildungsgueter. Das blieb bis heute so. Einen gab es, der hatte einen Samsonite. Der hat es dannn auch geschafft: Segelyacht in Nizza, Restaurantbesitzer in Vence.
    Die Plastiktuete haelt einen auf Dauer unten.

  5. ilnonno sagt:

    Das war zwar eigentlich was...
    Das war zwar eigentlich was für Mädchen, dennoch habe ich seit ewigen Zeiten Körbe. Kann man auf den Gepäckträger des Fahrrads spannen, fällt im Auto nicht gleich um und schneidet beim Tragen nicht in die Finger. Da liegen mit der Zeit zehn Einkaufszettel drin, und wenn ich im Laden stehe, weiß ich nicht, welcher der richtige ist…

  6. Ich habe mal einen Mann...
    Ich habe mal einen Mann kennengelernt, der doch allerlei Grund zur Hoffnung gab. Auf der ersten gemeinsamen Reise entpuppte sich eine Plastiktüte als sein Kulturbeutel. Von meinem entsetzen Blick hätte ich heute noch gern ein Foto.
    Aber gibt es eigentlich wirklich keine Einkaufsnetze mehr? Ich glaube, das fände ich schon wieder schräg schön. Ich werde mal ein paar Tantenhandtaschen durchstöbern.

  7. Commentatore sagt:

    In den 80ern trugen wir damit...
    In den 80ern trugen wir damit unsere punkig-wavige Attitüde in die Kleinstadt hinaus. Am ranghöchsten war, glaube ich, wer eine schwarz-weisse, schachbrettkarierte Tüte ohne Logo oder jeglichen Werbeaudruck am Handgelenk baumeln hatte.

  8. fraudiener sagt:

    ilnonno, Körbe sind fein,...
    ilnonno, Körbe sind fein, solange es nicht regnet, denn dann regnet es rein. Und auch eher was für die Kurzstrecke, da voluminös, deshalb muß man die immer irgendwie vom Körper weghalten, sonst schlackern die einem an den Beinen herum. Der Korb und ich kommen im Alltag nicht so recht zusammen.
    .
    Holly Golightly, das ist disqualifizierend. Ich habe ein Auslauf-Trauma, deshalb packe ich Shampoo und Körperöl auch in Plastiktüten, wenn ich verreise. Aber den Kleinkram dann doch nicht.
    Das mit den Netzen werde ich mal eruieren, aber auf der Straße sieht man sie kaum noch.
    .
    Commentatore, interessant. Daß Plastiktüten subkulturelle Relevanz haben, wußte ich so noch nicht. Wobei: Bei uns gab es so rucksackartige Tüten, die oben mit Schnüren zusammengezogen werden konnten. Dafür mußte man in sehr coolen Läden einkaufen und galt dementsprechend was. Aber das war ja auch Höhere-Kinder-Anstalt und auch nicht Kleinstadt.

  9. Ich hab ihn dann ja auch...
    Ich hab ihn dann ja auch trotzdem genommen u. zu Weihnachten erstmal einen ordentlichen Kulturbeutel verschenkt. Romantik wird bei mir ganz groß geschrieben.
    Da aber der Rest wirklich passt, darf man(n) dann auch auslaufparanoid alles verzippern. Was haben Menschen wie ihr eigentlich auf Reisen getan, bevor es Zipperbeutel oder Plastiktüten gab? 😉

  10. Na war doch klar (.. es gibt...
    Na war doch klar (.. es gibt sie noch, die guten…):
    https://www.manufactum.de/Produkt/0/760981/EinkaufsnetzEisengarn.html?suchbegriff=einkaufsnetz

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