So viele Naturgesetze gibt es auf der Welt: Zeit, Raum, Geschwindigkeit. Für eine vormoderne Gesellschaft, die ihre Gärtlein bestellt, kann das alles einigermaßen egal sein, Hauptsache es regnet irgendwann, das Korn sprießt und die Kuh gibt Milch. Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, der Rest sind Feinheiten. Wenn eine Gesellschaft sich jedoch anschickt, diesen Zustand hinter sich zu lassen und das Zeitalter der Entdeckungen einläutet und das der Seefahrt und des Handels, dann werden Zeit und Raum und Geschwindigkeit plötzlich eminent wichtig. Eine Abweichung im Raum von wenigen hundert Metern entscheidet über das Auflaufen auf ein Riff oder das sichere Umsegeln, entscheidet also über Leben und Tod.
Und aufgrund des besseren Verständnisses von Raum und Zeit werden übersichtliche Einteilungen erfunden, die Erdkugel wird längs und quer mit Linien unterteilt, die Zeit wird gemessen, dazu der Sonnenstand, und so weiß man auf See immer genau, wo man sich befindet. Aber alle diese Prinzipien werden erst dann verständlich, wenn sie verdinglicht, wenn sie also irgendwie abgebildet werden. Die imaginäre Linie, der Nullmeridian, ist in den Boden des Old Royal Observatory in Greenwich bei London eingelassen. Das ist, global gesehen, das Eichmaß des Raumes. Und zwar seit 1884, als eine Internationale Meridian-Konferenz genau das beschloß. Nun liegt er also da, in Metall gegossen und nachts beleuchtet, es gibt einen Shop mit Meridian-Kaffeebechern und T-Shirts und die wenigen Touristen, die in diesen kalten Januartagen den Weg durch die Docklands hier hinaus gefunden haben, stellen sich drauf und fotografieren sich gegenseitig.
Zuerst lag der Nullmeridian auf El Hierro, einer Insel der Kanaren und bis zur Entdeckung Amerikas westlichster Punkt der damals bekannten Welt. Ptolemäus legte diesen Ferro-Meridian im Jahr 150 fest, und er galt bis ins 19. Jahrhundert hinein. Die deutsche Landesvermessung verwendete ihn sogar bis 1990. Wahlweise galt aber auch der Meridian von Paris, der durch das dortige Observatorium läuft und 1718 durch den Astronomen Jacques Cassini festgelegt wurde. Das Zentrum der Welt ist eben eine Frage der Perspektive, und manchmal auch eine des politischen oder nationalen Standpunktes.
Und die technische Entwicklung bleibt auch nicht stehen. So kommt es, daß seit 1984 der eigentliche Meridian eigentlich nicht mehr da ist, wo die Markierung ist, nämlich im Hof des Old Observatory, sondern etwa 100 Meter weiter östlich irgendwo im verschneiten Park. Das aber liegt daran, daß man auf ein anders Ergebnis kommt, wenn man nicht annimmt, die Erde sei rund, wie das im 18. Jahrhundert üblich war, sondern ihre tatsächliche Abplattung an den Polen miteinberechnet.
Und die Zeit, die ist oben auf dem Dach zu sehen: Eine Kugel, die jeden Mittag, genau ein Uhr Greenwich Meantime, an einem Stab herunterfällt. Die Kapitäne unten im Hafen können ihre Uhren danach stellen. Und die Uhren nehmen sie mit auf die Reise, damit sie immer die Heimatzeit dabei haben, damit sie auch im Pazifik wissen, wieviel Uhr es gerade in London ist. Nicht, um die Teatime korrekt einzuhalten, sondern um den Längengrad zu bestimmen.
Im Jahr 1767 erschien ein Nautischer Almanach für Navigatoren, der sich erstmals auf die Ortszeit von Greenwich bezog. Verfasser des Werkes war ausgerechnet jener Nevil Maskelyne, der jahrzehntelang die Lösung des Längengradproblems blockierte. Der Breitengrad nämlich ist auf See recht einfach zu errechnen, der Längengrad jedoch nur, wenn man eine möglichst genaugehende Uhr mitnimmt. Denn aus der Differenz zwischen Ortszeit, die anhand von Sonnenstand oder Sternenhimmel bestimmt werden kann, und der Greenwich-Zeit am Nullmeridian kann der momentane Längengrad ermittelt werden. Je genauer die Uhr geht, desto präziser die Positionsbestimmung. Eine Alternative bieten Mondtabellen, die in dem erwähnten Almanach verzeichnet waren: Diese Lösung war billig, aber ungenau. Und genaugehende Uhren gab es damals nur als Pendeluhren – die gehen allerdings auch nur solange genau, bis man sie auf ein schwankendes Schiff stellt.
1675 gab König Charles II dem Drängen der seefahrenden Nation nach und etwas Geld für ein Observatorium aus: Das Flamsteed House bildet den Kern des Old Royal Observatory. Es ist klein, eng und sparsam gebaut: Mit Steinen, die man am Tower of London gerade nicht mehr brauchte, und Balken aus abgewrackten Schiffen. Eine etwas halbherzige Lösung, aber besser als nichts. Richtig intensiv wurde die Suche nach einer Lösung erst, wie so oft, als es zu einer Katastrophe gekommen war: 1707 verloren über 2000 Mann ihr Leben, nachdem sie mit ihrer siegreichen Flotte nach einer Schlacht auf dem Heimweg auf die Scilly-Inseln aufliefen. Das Parlament lobte eine Prämie von 20.000 Pfund aus, für damalige Verhältnisse ein ungeheures Vermögen, das durchzubringen man schon mehrere Generationen braucht.
Ausgerechnet ein schottischer Tischler brachte die Lösung. John Harrison war Autodidakt, Tüftler und Perfektionist und baute die vier genauesten Uhren seiner Zeit. H1 bis H3 basierten auf dem Prinzip der Pendeluhr, jedoch waren die Pendel durch Federn gesichert, daher konnte ihnen das Schwanken auf See wenig anhaben. Alle drei unterschieden sich in ihrer Konstruktionsweise, aber alle drei waren große, schwere, messingglänzende Präzisionsinstrumente. Doch immer noch nicht genau genug, erst H4 brachte den Durchbruch: Eine kleine, silberne Uhr mit zierlichem weißen Zifferblatt, etwas größer als eine Taschenuhr, aber auf deren Federprinzip basierend. Nur eben sehr viel genauer als alle anderen Taschenuhren ihrer Zeit. James Cook nahm 1775 eine genaue Kopie von H4 mit auf seine zweite Weltreise und konnte ihre Funktion bestätigen.
Schon 1728 stellte Harrison sein Konzept vor, 1735 vollendete er H1. Auf einer Fahr nach Lissabon bewährte sie sich, doch die Testphase war zu kurz. Harrison bekam jedoch von der Längengradkommission ein wenig Geld zur Weiterentwicklung seines Prototyps zugesprochen. 1759 schließlich war es soweit, H4 konnte sich einmal nach Jamaica und zurück bewähren. Doch Harrison hatte Gegner, die Verfechter der Mondtabellen etwa. Erst 1773, nachdem er mit H5 ein weiteres, verbessertes Modell vorstellte, das sogar König George III beeindruckte („By God, Harrison, I will see you righted!“ soll er gesagt haben) und ihn veranlaßte, mit seinem persönlichen Erscheinen zu drohen, wenn Harrison nicht endlich die Prämie zugesprochen werde, kamen die Dinge in Bewegung und Harrison mit 79 Jahren endlich zu seinem Geld.
Inzwischen wurde die Greenwich Mean Time ersetzt durch die koordinierte Weltzeit. Das ist keine ortsgebundene Zeitangabe mehr, denn die Erde ruckelt mitunter und dreht nicht ganz gleichmäßig. Die neue Zeit richtet sich daher nicht nach einem Planeten, der irgendwie ungeölt läuft, auch wenn sie meist noch als GMT bezeichnet wird. Die neue Zeit ist abstrakt, aber man sieht es ihr nicht an, weil sie noch immer an einer Uhr abzulesen ist, die Zeiger hat und nicht viel anders aussieht als das Zifferblatt von Harrisons H4. Mittags fällt noch immer der Ball auf dem Dach des Old Observatory, auch wenn im Hafen von Greenwich schon lange keine Schiffe mehr liegen, wenn das Queens House eine Bildergalerie ist und der Rest Museum und Weltkulturerbe, wenn in den Docklands schon lange keine Waren mehr gelöscht werden. Hinten am Horizont sieht man die Türme der modernen Canary Wharf, der Bürostadt, dort geht es, wie überall, nur noch um Zahlen. Zahlen, bei denen sich niemand mehr bemüht, sie in Metall zu gießen. Nur ab und zu, wenn sich überhaupt keiner mehr vorstellen kann, was da eigentlich geschieht, stellt sich jemand hin und macht eine Powerpoint-Präsentation.