Ding und Dinglichkeit

Ding und Dinglichkeit

Keine Frage, die Welt ist voller dinglicher Phänomene. Um viele davon wird einiges Gewese gemacht, etwa um Autos, Mobiltelefone, Schuhe. Das sind die

Das Herz von Raum und Zeit: Greenwich

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Eine Linie: Das ist der Raum. Eine Kugel: Das ist die Zeit. So einfach lassen sich schwer vorstellbare, unendliche Prinzipien abbilden. In Greenwich ist beides auf Null gestellt: Im alten Observatorium laufen die Fäden zusammen, der Nullmeridian und die Greenwich Mean Time. Eine Geschichte aus der Vergangenheit einer einst großen Seefahrernation.

So viele Naturgesetze gibt es auf der Welt: Zeit, Raum, Geschwindigkeit. Für eine vormoderne Gesellschaft, die ihre Gärtlein bestellt, kann das alles einigermaßen egal sein, Hauptsache es regnet irgendwann, das Korn sprießt und die Kuh gibt Milch. Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, der Rest sind Feinheiten. Wenn eine Gesellschaft sich jedoch anschickt, diesen Zustand hinter sich zu lassen und das Zeitalter der Entdeckungen einläutet und das der Seefahrt und des Handels, dann werden Zeit und Raum und Geschwindigkeit plötzlich eminent wichtig. Eine Abweichung im Raum von wenigen hundert Metern entscheidet über das Auflaufen auf ein Riff oder das sichere Umsegeln, entscheidet also über Leben und Tod.

Bild zu: Das Herz von Raum und Zeit: Greenwich

Und aufgrund des besseren Verständnisses von Raum und Zeit werden übersichtliche Einteilungen erfunden, die Erdkugel wird längs und quer mit Linien unterteilt, die Zeit wird gemessen, dazu der Sonnenstand, und so weiß man auf See immer genau, wo man sich befindet. Aber alle diese Prinzipien werden erst dann verständlich, wenn sie verdinglicht, wenn sie also irgendwie abgebildet werden. Die imaginäre Linie, der Nullmeridian, ist in den Boden des Old Royal Observatory in Greenwich bei London eingelassen. Das ist, global gesehen, das Eichmaß des Raumes. Und zwar seit 1884, als eine Internationale Meridian-Konferenz genau das beschloß. Nun liegt er also da, in Metall gegossen und nachts beleuchtet, es gibt einen Shop mit Meridian-Kaffeebechern und T-Shirts und die wenigen Touristen, die in diesen kalten Januartagen den Weg durch die Docklands hier hinaus gefunden haben, stellen sich drauf und fotografieren sich gegenseitig.

Zuerst lag der Nullmeridian auf El Hierro, einer Insel der Kanaren und bis zur Entdeckung Amerikas westlichster Punkt der damals bekannten Welt. Ptolemäus legte diesen Ferro-Meridian im Jahr 150 fest, und er galt bis ins 19. Jahrhundert hinein. Die deutsche Landesvermessung verwendete ihn sogar bis 1990. Wahlweise galt aber auch der Meridian von Paris, der durch das dortige Observatorium läuft und 1718 durch den Astronomen Jacques Cassini festgelegt wurde. Das Zentrum der Welt ist eben eine Frage der Perspektive, und manchmal auch eine des politischen oder nationalen Standpunktes. 

Und die technische Entwicklung bleibt auch nicht stehen. So kommt es, daß seit 1984 der eigentliche Meridian eigentlich nicht mehr da ist, wo die Markierung ist, nämlich im Hof des Old Observatory, sondern etwa 100 Meter weiter östlich irgendwo im verschneiten Park. Das aber liegt daran, daß man auf ein anders Ergebnis kommt, wenn man nicht annimmt, die Erde sei rund, wie das im 18. Jahrhundert üblich war, sondern ihre tatsächliche Abplattung an den Polen miteinberechnet.

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Und die Zeit, die ist oben auf dem Dach zu sehen: Eine Kugel, die jeden Mittag, genau ein Uhr Greenwich Meantime, an einem Stab herunterfällt. Die Kapitäne unten im Hafen können ihre Uhren danach stellen. Und die Uhren nehmen sie mit auf die Reise, damit sie immer die Heimatzeit dabei haben, damit sie auch im Pazifik wissen, wieviel Uhr es gerade in London ist. Nicht, um die Teatime korrekt einzuhalten, sondern um den Längengrad zu bestimmen.

Im Jahr 1767 erschien ein Nautischer Almanach für Navigatoren, der sich erstmals auf die Ortszeit von Greenwich bezog. Verfasser des Werkes war ausgerechnet jener Nevil Maskelyne, der jahrzehntelang die Lösung des Längengradproblems blockierte. Der Breitengrad nämlich ist auf See recht einfach zu errechnen, der Längengrad jedoch nur, wenn man eine möglichst genaugehende Uhr mitnimmt. Denn aus der Differenz zwischen Ortszeit, die anhand von Sonnenstand oder Sternenhimmel bestimmt werden kann, und der Greenwich-Zeit am Nullmeridian kann der momentane Längengrad ermittelt werden. Je genauer die Uhr geht, desto präziser die Positionsbestimmung. Eine Alternative bieten Mondtabellen, die in dem erwähnten Almanach verzeichnet waren: Diese Lösung war billig, aber ungenau. Und genaugehende Uhren gab es damals nur als Pendeluhren – die gehen allerdings auch nur solange genau, bis man sie auf ein schwankendes Schiff stellt.

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1675 gab König Charles II dem Drängen der seefahrenden Nation nach und etwas Geld für ein Observatorium aus: Das Flamsteed House bildet den Kern des Old Royal Observatory. Es ist klein, eng und sparsam gebaut: Mit Steinen, die man am Tower of London gerade nicht mehr brauchte, und Balken aus abgewrackten Schiffen. Eine etwas halbherzige Lösung, aber besser als nichts. Richtig intensiv wurde die Suche nach einer Lösung erst, wie so oft, als es zu einer Katastrophe gekommen war: 1707 verloren über 2000 Mann ihr Leben, nachdem sie mit ihrer siegreichen Flotte nach einer Schlacht auf dem Heimweg auf die Scilly-Inseln aufliefen. Das Parlament lobte eine Prämie von 20.000 Pfund aus, für damalige Verhältnisse ein ungeheures Vermögen, das durchzubringen man schon mehrere Generationen braucht.

Ausgerechnet ein schottischer Tischler brachte die Lösung. John Harrison war Autodidakt, Tüftler und Perfektionist und baute die vier genauesten Uhren seiner Zeit. H1 bis H3 basierten auf dem Prinzip der Pendeluhr, jedoch waren die Pendel durch Federn gesichert, daher konnte ihnen das Schwanken auf See wenig anhaben. Alle drei unterschieden sich in ihrer Konstruktionsweise, aber alle drei waren große, schwere, messingglänzende Präzisionsinstrumente. Doch immer noch nicht genau genug, erst H4 brachte den Durchbruch: Eine kleine, silberne Uhr mit zierlichem weißen Zifferblatt, etwas größer als eine Taschenuhr, aber auf deren Federprinzip basierend. Nur eben sehr viel genauer als alle anderen Taschenuhren ihrer Zeit. James Cook nahm 1775 eine genaue Kopie von H4 mit auf seine zweite Weltreise und konnte ihre Funktion bestätigen.

Schon 1728 stellte Harrison sein Konzept vor, 1735 vollendete er H1. Auf einer Fahr nach Lissabon bewährte sie sich, doch die Testphase war zu kurz. Harrison bekam jedoch von der Längengradkommission ein wenig Geld zur Weiterentwicklung seines Prototyps zugesprochen. 1759 schließlich war es soweit, H4 konnte sich einmal nach Jamaica und zurück bewähren. Doch Harrison hatte Gegner, die Verfechter der Mondtabellen etwa. Erst 1773, nachdem er mit H5 ein weiteres, verbessertes Modell vorstellte, das sogar König George III beeindruckte („By God, Harrison, I will see you righted!“ soll er gesagt haben) und ihn veranlaßte, mit seinem persönlichen Erscheinen zu drohen, wenn Harrison nicht endlich die Prämie zugesprochen werde, kamen die Dinge in Bewegung und Harrison mit 79 Jahren endlich zu seinem Geld.

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Inzwischen wurde die Greenwich Mean Time ersetzt durch die koordinierte Weltzeit. Das ist keine ortsgebundene Zeitangabe mehr, denn die Erde ruckelt mitunter und dreht nicht ganz gleichmäßig. Die neue Zeit richtet sich daher nicht nach einem Planeten, der irgendwie ungeölt läuft, auch wenn sie meist noch als GMT bezeichnet wird. Die neue Zeit ist abstrakt, aber man sieht es ihr nicht an, weil sie noch immer an einer Uhr abzulesen ist, die Zeiger hat und nicht viel anders aussieht als das Zifferblatt von Harrisons H4. Mittags fällt noch immer der Ball auf dem Dach des Old Observatory, auch wenn im Hafen von Greenwich schon lange keine Schiffe mehr liegen, wenn das Queens House eine Bildergalerie ist und der Rest Museum und Weltkulturerbe, wenn in den Docklands schon lange keine Waren mehr gelöscht werden. Hinten am Horizont sieht man die Türme der modernen Canary Wharf, der Bürostadt, dort geht es, wie überall, nur noch um Zahlen. Zahlen, bei denen sich niemand mehr bemüht, sie in Metall zu gießen. Nur ab und zu, wenn sich überhaupt keiner mehr vorstellen kann, was da eigentlich geschieht, stellt sich jemand hin und macht eine Powerpoint-Präsentation.


73 Lesermeinungen

  1. Don Ferrando sagt:

    Ich würde liebend gerne ich...
    Ich würde liebend gerne ich ein Geschäft der Belleville gehen, um meine (mechanische) Uhr nach GMT zu stellen.
    Ich stelle mir holzgetäfelte Wände vor und eine Glocke an der Tür. Höfliche Bedienung.
    Wie traurig und profan dagegen sind doch die Uhren aus Internet und Fernsehen!

  2. fraudiener sagt:

    Moritz, ich kenn das. Ich...
    Moritz, ich kenn das. Ich wäre auch gern eine Bank , die jeden Euro, den sie besitzt, mehrfach verwenden darf. Und wenn die Euros, die ich für die Leica ausgegeben habe, dann plötzlich bei der Stromrechnung fehlen, dann hätte ich gern Hilfe.
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    Elbsegler, nur keine Scheu, ich habe ihre kleine Korrektur nicht negativ aufgefaßt. Ich lerne ja gerne dazu, vergessen tu ich eh schon genug in meinem Leben.
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    Zeitterror ist etwas fürchterliches. Ein wenig hat das nachgelassen, seit ich einige S-Bahn-Fahrten mit dem Auto erledige. Fahrpläne sind ein Graus, entweder man rennt oder man steht herum und wartet. Ud wer will schon bei minus zwei Grad und Schneetreiben am windigen Bahnsteig das Buch herausholen? Eben. So viel tote Zeit.
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    Don Ferrando, ich habe ja eine Schwäche für Uhren an Gebäuden und im öffentlichen Raum. Leider aber werden es immer weniger. Der Frankfurter Hauptbahnhof wurde strategisch entuhrt. Ich frage mich, welchen Plan die Bahn damit verfolgt.

  3. elbsegler sagt:

    @A.D.
    Die Uhren an...

    @A.D.
    Die Uhren an öffentlichen Gebäuden haben, wie die kleinen eben auch, viel von ihrem Zauber verloren, seit man im Zweifel hinter jedem Ziffernblatt nur noch einen schnöden Elektroantrieb vermuten darf, der über das Zeitsignal aus Mainflingen gesteuert wird. Ich habe als Kind früher am Bahnhof immer versucht, möglichst viele Uhren im Blick zu haben, um festzustellen, ob sie denn auch wirklich alle zur gleichen Zeit zur nächsten Minute springen. Die Bahnhofsuhren wurden (bzw. werden zum Teil heute noch) von „Mutteruhren“ gesteuert, von denen sie minütlich ein Stellsignal erhalten. deshalb bleibt der Sekundenzeiger manchmal kurz auf der Zwölf stehen, bis er weiterläuft.

  4. B.A.H. sagt:

    Belleville, nichteuklidisch:...
    Belleville, nichteuklidisch: auf einem Platz in Tel Aviv musste kurz nach der Stadtgründung eine Standuhr amtlich verschlosssen werden, weil Passanten sie immer wieder nach ihrer Armbanduhr stellten.

  5. > "Der Frankfurter...
    > „Der Frankfurter Hauptbahnhof wurde strategisch entuhrt. Ich frage mich, welchen Plan die Bahn damit verfolgt.“
    Fragen Sie nach. Ich habe den bösen Verdacht, dass es weniger eine Strategie als eine Taktik der Gewinnminimierung ist. Oder wie wird die Dienstleistung des Uhrstellens (heute) abgerechnet?
    S.a. den leider in dieser Frage nicht relevant herausgearbeiteten Artikel über T&N https://de.wikipedia.org/wiki/Telefonbau_und_Normalzeit inkl. Spamlink 🙂

  6. Filou sagt:

    ...die Zeit, die Zahlen, die...
    …die Zeit, die Zahlen, die Physik, die Englaender und die Messbarkeit:
    .
    https://www.youtube.com/watch?v=a1CGAh49Cj8

  7. fraudiener sagt:

    Markus Merz, das habe ich....
    Markus Merz, das habe ich.
    Meine Frage: https://gig.antville.org/stories/1228664/
    Antwort der Bahn: https://gig.antville.org/stories/1230194/
    Danach habe ich still resigniert.
    .
    Wobei ich „Telefonbau und Normalzeit“ als Firmenname viel schöner und anschaulicher finde als Avaya-Tenovis. Das könnte auch ein unseriöses 0815-Startup sein oder irgendwas mit Gentechnik.
    .
    elbsegler, schon wieder was gelernt.

  8. Savall sagt:

    Ich bin mir wirklich nicht...
    Ich bin mir wirklich nicht sicher, Andrea, ob die exakte Bestimmung der Teatime für einen Gentleman nicht wesentlicher ist als die Position auf See. Die Position ist ja volatil, die Teatime sakrosankt. Im Übrigen kann es durchaus von Vorteil sein, nicht so genau über den Längengrad Bescheid zu wissen. Wenn Columbus‘ Männer die tatsächliche Entfernung gewusst hätten, wären sie erschrocken und bei der Ankunft auf Hispaniola, der geschundenen Insel, wären sie enttäuscht gewesen. Denn bis Zipangu waren es schon noch einige Meilen. Überhaupt ist die einheitliche Zeitmessung noch so jung. Wenn ich daran denke, wie der Geheimrat der Frau von Stein im Reisejournal die italienische Uhr zu erklären versucht, kriege ich jedes Mal Schreikrämpfe. Das unternimmt er nach dem Motto: alles ganz einfach. Dann kommen wirre Skizzen, stundenlange Erklärungen und am Ende hat man nichts begriffen. Naja, im Winter wird es früher dunkel, das versteht man schon.

  9. Der Gärtner sagt:

    Filou: Ihr Youtube-Link ist...
    Filou: Ihr Youtube-Link ist eine grandiose, skurile kleine Lektion zur englischen Präzision. By the way: England hat seine Obsession NICHT aufgegeben internationale Standards zu setzen. Die entsprechenden Institutionen werden m.E. zu diesem Zweck erhalten und besonders gefördert. Beispiel NIBSC, wo ich bei der Erstellung einiger der internationalen Standards mitarbeiten durfte. Dort erfuhr ich in schönen Lektionen was von England an Diplomatie, Höflichkeit und Durchsetzungsvermögen in die neue Zeit gerettet werden konnte.

  10. elbsegler sagt:

    Telefonbau und Normalzeit, das...
    Telefonbau und Normalzeit, das war ein Name der vor allem wegen des Begriffs „Normalzeit“ irritierte. Avaya hört sich nach einer weiteren exotischen Frucht an, die in den Gemüseecken unserer Supermärkte vor sich hin gammelt. Der Wikipediaeintrag zu T+N ist leider ein typisches Beispiel für unsere Wirtschaft. Ein starkes Unternehmen wird so lange verkauft, geteilt und umstrukturiert bis es von der Bildfläche verschwunden ist.

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