Ding und Dinglichkeit

Blogpremiere: Gut auf dem Papier

Was für ein seltsames Ding ist doch, was uns von fünfzehn bis fünfunddreißig bestimmt. Es wird zur Messlatte des Seins, zur Geißel aller Entscheidungen, zur Krönung der Selbstaufwertung. Nein, ich meine nicht den Verlobungsring, liebe Damen. Es ist vielmehr ein simples Blatt Papier ohne Eigenwert, den man beim Pfandverleiher umsetzen könnte: Es ist der Lebenslauf.

Als strukturiert, erfolgsorientiert und qualifiziert verkauft er mich.  Mein geliebtes Chaos, ständiges Sinnieren oder mein einziger Zugang zu nachhaltigem Wissen, die Autodidaktik, zählen auf ihm nicht. Also muss ich eine Rahmenhandlung darüber stülpen, ein Studium zum Beispiel. Im Grunde nutzt mein Lebenslauf mir vielmehr um zu verheimlichen, was ich besonders gut kann: Schlafen bis zur Mittagshitze und tagelang Backgammon spielen am Strand während des Auslandssemesters, staffelweise meine Einsamkeit ignorieren mit Hilfe von TV-Serien während des Praktikums weit weg von allen meinen Freunden. Oder Flüchten in schmeichelnde Zukunftsmomente nach einem anstrengenden Tag im Büro, direkt vor den Kamin mit einem Ehemann, der mir aus Dostojewski vorliest.

Sätze wie „ich möchte keine Lücke auf meiner Vita“ höre ich oft, als könnte das Leben einfach aussetzen, wenn sich beispielsweise eine längere Reise nicht als Eintrag im Lebenslauf eignet. Wirklich kompliziert wird es für Absolventen, wenn die Bewerbungszeit nach dem Studium selbst zur Lücke wird. Jobs recherchieren, Anschreiben abschicken, Interviews führen, Assessment Center ertragen, dazu kommt die Warterei auf Zu- oder Absagen. Derweil regelmäßig zu Hilfseinsätzen nach Hause abkommandiert werden – man hat ja nichts zu tun.  Außerdem jobben in der Kneipe nebenan, umgeben von Kreativen, die noch nie eine Bewerbung losgeschickt haben. Die Galerie entdeckt schließlich den Künstler, alles andere gilt als unzurechnungsfähig.

Auch schon oft gehört: „das ist nicht gut für meinen Lebenslauf“. Ein Bruch in der Ausrichtung, von Modejournalismus über Buchhaltung zu Personalberatung zum Beispiel, kommt sehr schlecht an; Unternehmen wollen keine Tausendsassa. Auch ein Jobwechsel nach weniger als zwei Jahren darf nicht sein, ist der Chef auch noch so cholerisch, die Kollegen dickbramsig und Aufstiegschancen nicht vorhanden. Gut auf dem Papier, so heißt das Ziel. Überträgt man diese Bezeichnung auf einen möglichen Lebenspartner, bedeutet es zwar Tantentäuschung und gähnende Langeweile, doch nur so läuft es.

Ausbildung

Anfangs weiß niemand, was er in die Zeilen reinschreiben soll. Also kriegt das kleinste Talent großer Bedeutung: Gute Deutsch-Noten in der Grundschule heben eine besondere Ausdrucksstärke hervor, Bäume pflanzen in der Schüler-AG gilt als Indiz für Teamfähigkeit, das Amt des Klassensprechers beweist Führungsqualitäten. Als Zehntklässlerin sagte mir eine Freundin, ich sollte bei dem Schülerplanspiel „Models of United Nations“ teilnehmen. Hierfür kommen Schüler aus aller Welt zusammen, um einen Kongress der Vereinten Nationen protokolltreu nachzuspielen. Dieser Eintrag auf dem Lebenslauf belegt eindeutig, ob ich nun anwendbare Resolutionen für das Übel der Welt verfasst habe oder nicht, eine Anwärterin auf die Weltherrschaft zu sein.

 

Wenn das Studium beginnt, ist ein Leben danach erst einmal unvorstellbar. Es überwiegt die Erleichterung, endlich zu wissen, wo man die nächsten drei Jahre leben wird. Existentielle Fragen nach dem Ich lähmen derweil den Geist, die Einordnung in das System scheint unmöglich. Wer nicht weiß, wer er ist, kann auch nicht nach vorhandenen Chancen greifen.  Doch dann der Blick auf die anderen, die nicht rasten, sondern fleißig beim Praktikum im Sommerloch die Däumchen drehen. Man wird nun wer und manche haben es verdammt eilig damit. Schnell fühlt man sich überholt, es muss was passieren. Vor allem, wenn man, wie die anderen heimlich auch, im fünften Semester immer noch nicht sicher ist, überhaupt das richtige zu studieren. Ein Abgleich mit dem echten Berufsleben soll helfen, schließlich sind Praktika dafür da, um sich auszuprobieren, am besten in Vollzeit. Und so heißen Ferien bald Urlaub und Leben ist das, was man tut, während sich der Lebenslauf füllt.

Berufserfahrung

Es ist sogar schon so weit, dass die Zeitspanne der Semesterferien nicht mehr ausreicht. Damit ein Praktikum auf dem Lebenslauf überhaupt erst anerkannt wird, sollte es mindestens sechs Monate dauern, sonst fällt es durch das Raster der Online-Bewerbung und gelangt erst gar nicht zu den prüfenden Augen der Personaler oder deren Praktikanten. Also werden Urlaubssemester beantragt und gegebenenfalls Kredite aufgenommen, die Liebe nur unter Vorbehalt und mit Enddatum zugelassen, das eigene Bett mit einem Sofa in einer Fünfer-WG eingetauscht oder, etwas züchtiger, im Gästezimmer einer entfernten Tante genächtigt, wo man sich der Etikette des Biedermeiers unterwirft: keine Partys, keine laute Musik nach elf, keine Männerbesuche.  

 

Wirklich absurd wird es, wenn der Lebenslauf aus allen Nähten platzt. Zwei Studienabschlüsse in drei verschiedenen Ländern, vier Publikationen, sieben Praktika und zehn Projektarbeiten passen nicht auf eine Seite und niemals darf der Lebenslauf länger sein als eine Seite. Also wird aussortiert und umgeschrieben, gerade so wie es am besten zur Jobbeschreibung passt. Der Schwerpunkt lässt sich beliebig stricken, Hauptsache die Dramaturgie ist nachvollziehbar, der berühmte Rote Faden erkennbar, ganz so, als hätte ich immer schon gewusst, was die Aufgabe meines Lebens ist.

Sonstiges

Die Anpassungsfähigkeit geht soweit, dass auch Hobbies gnadenlos abgestimmt sind. Für eine Bewerbung beim Immobilienmakler spiele ich Polo, für Public Relations eignet sich Yoga, als Unternehmensberater gehe ich ins Theater, im Kunsthandel auf die Jagd, bei einer Werbeagentur trainiere ich für den Triathlon.

Und doch reichen all diese Anstrengungen noch nicht aus, um sich besser zu fühlen als die anderen. Voller Unruhe bemerken Anwärter auf einen soliden Berufseinstieg im mittleren Management, dass sie nicht nur als Karrieristen gelten dürfen. Unverzichtbar und vielleicht ausschlaggebend, mehr noch als das Golf-Handicap, ist die Kategorie „Soziales Engagement“.

Je näher das Ende des Studiums rückt, desto schneller muss diese Lücke geschlossen werden. Praktisch, wenn attraktive Gutmenschen bereits im Hospiz um die Ecke Besuche abstatten oder die Armensuppe zweimal die Woche ausschenken. Man schließt sich für ein paar Wochen an und macht nebenbei noch interessante Kontakte. Im Verbund der Engagierten sind Mitläufer zwar schnell erkannt, doch jede Hand wird gebraucht und wer weiß, vielleicht dringt das Erlebnis, einen kleinen Dienst an der Menschheit vollbracht zu haben, tiefer in die Persönlichkeit ein, als vom kurzweiligen Helfer geplant.

Sehr gut lässt sich das soziale Engagement auch mit einem Auslandsaufenthalt verbinden. Tierpflegedienst in Afrika, Popo-Abputzen in einem bolivisches Waisenhaus, einen Hilfsgütertransport nach Weißrussland organisieren. Die Möglichkeiten sind so vielfältig wie die Welt groß und schlecht; und ich klein, mein Herz nicht rein und der Wunsch nach Bedeutung übermannend. Aber das schreibe ich wohl besser auch nicht auf meinen Lebenslauf.

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