Haben Sie schon einmal getötet? Um jetzt die Hand heben zu können, reicht nicht ein besonderes Geschick mit der Fliegenklatsche. Nein, getötet, um zu essen? Dieser archaischen Idee räumen wir selten oder nie Platz in unserem Alltag ein. Stattdessen geben wir lieber hektisch das Filetsteak im Restaurant zurück, sollte nur ein Blutstropfen aus dem rosa Fleisch hervorquellen.
Deswegen möchte ich Sie gerne mitnehmen, auf einen Ausflug in den Wald zu einer unauffällig agierenden, weil kulturell oft angefeindeten Spezies: dem Jäger. Viele Landmenschen sind mit dem Jagen vertraut. Man hat vielleicht einen urigen Onkel oder Großvater, der sich seit Jahren mit seinen Kumpanen im Dorfkrug zum Trophäenklatsch trifft. Oder man kennt einen Hundeführer, der mit größtem Engagement seinen Bayerischen Gebirgsschweißhund für die schweren Prüfungen des Deutschen Jagdverbandes trainiert. Recht sympathisch eigentlich, das Duo. Dass derselbe Hund im nächsten Moment ein angeschossenes Wildschwein stellt und auch zu Fall bringt, ist schon ein problematischeres Bild. Und dass sich der Hundeführer gar selbst auf das Wild stürzt und es mit dem Messer erlegt, muss zart besaiteten Großstädtern erst einmal wie Barbarei erscheinen.
Aber Jagen ist keine wüste, chaotische oder blutgierige Form des Mordens. Im Gegenteil. Morgens früh um sieben packt der Jäger seinen grünen Leinenrucksack: Munition, Fernglas, Jagdmesser mit Säge, Thermoskanne, Flachmann, Regenzeug, Taschenwärmer, Entfernungsmesser, hauchdünne Neoprenhandschuhe, Sitzstock, beheizte Sohlen in den Stiefeln, Munitionshalterung ums Handgelenk, ein wärmender Ansitzsack (ähnlich einem Schlafsack), Ohrenschützer als Vorbeugung gegen den Tinnitus, der sich im Laufe der Jahre dann doch einstellen wird – um nur die Hälfte möglicher Accessoires zu nennen, die sich die Fachgeschäfte für die Verhätschelung des modernen Jägers haben einfallen lassen. Den Rucksack auf der einen Schulter, die Büchse auf der anderen, geht er zur Begrüßung des Jagdherrn, wo sich die Schützen sammeln.
Der Sicherheitsbelehrung schenkt er genauso viel Aufmerksamkeit wie den Stewardessen im Flugzeug, er weiß schließlich, wie es geht. Mehr Achtung kriegt die Menükarte der heute freigegeben Wildarten. Wie viel Kilo darf die Sau schwer sein? Wie viel Enden darf der Hirsch an seinem Geweih aufweisen? Achtung: keine führenden Bachen, das sind weibliche Wildschweine, die ihre Frischlinge durch den Winter bringen. Am besten gar keine Bachen im Winter, nie! Ein wirklich nützlicher Jagdgast hat ein Horn dabei und bläst, begleitet vom Gejaule der Hunde, auf zur Jagd.
Der Jäger nimmt seinen Platz auf dem Hochsitz ein. Während die so genannte Ansitzjagd eine besinnliche Angelegenheit ist, bei der sich auch gut schmökern lässt, bis die Dämmerung einsetzt und das Wild langsam auf die Wiese zieht, ist die Drückjagd mit Treibern und Hunden ein akustischer Thriller. Ein Rascheln links, ein Knacken von hinten, der Wald kommt in Bewegung. Dann bellt ein Hund, er hat Spur aufgenommen, vielleicht ein Rudel in der Dickung hoch gebracht, ein zweiter fällt mit ein. Die Schüsse knallen und hallen durch die Baumstämme.
In der ganzen ersten Stunde hat der Jäger seine Büchse nicht einmal aus der Hand gelegt, auch keinen Schluck Tee getrunken. Er spürt die Kälte nicht und auch nicht den leichten Regen. Der erste Moment Achtlosigkeit, mit der Stulle zwischen den Zähnen, wird nämlich meist mit einer passierenden Rotte auf drei Metern Entfernung geahndet. Noch schnell hinterher gezielt, aber von hinten klappt das nicht. Am besten volle Breitseite, sodass der Schuss perfekt im Herzen oder Lunge trifft, am besten still stehend mit dem Haupt nach oben, am besten mit aufgelegter Waffe und nicht aus der freien Bewegung, und mit Ruhe. Dreimal tief durchatmen, um das Klopfen im Hals nicht auf die Büchse zu übertragen. Schuss.
Was für ein Wunschdenken auf der Drückjagd. Tatsächlich ist für Zögern keine Zeit zwischen dem richtigen Ansprechen, dem Erkennen der Wildart – Alter, Geschlecht, Platz in der Rangordnung, Krankheiten oder bereits gesetzte Schüsse – und dem Ziehen des Abzugs. Gut gemeinte Tipps aus der Jagdschule wie Vorhalten bei einem Bewegungsschuss, linkes oder rechtes Auge zu oder beide Augen auf – nichts davon ist jetzt noch von Bedeutung. Nur die Einstellung zählt, nämlich „Dich kriege ich, dich kriege ich, dich … Bumm!“
Das Blut rauscht in den Ohren, das eigene Herz zerschlägt fast den Brustkorb, die Hände zittern wie elektrisierter Pudding. Der Körper weiß genau, was er gerade getan hat. Jagdfieber nennt es sich, doch kein guter Jäger darf dem nachgeben. Alle Aufmerksamkeit gilt dem Moment nach dem Schuss. Liegt das Stück Rehwild sofort, knickt es vorne ein oder rutscht von hinten weg? Selbst ein tödlicher Schuss bedeutet nicht, die erlösende Gewissheit, alles richtig gemacht zu haben. In Sekunden mag das Wild schon in den dichten Brombeerdornen verschwunden sein, und nichts kann der Jäger noch tun, außer abwarten, bis das Treiben vorbei ist. Niemals verlässt er seinen Stand, bevor die Jagd abgeblasen ist – um ihn herum wird schließlich noch scharf geschossen. Die Treiberkette kommt vorbei. Könnte einer nachsehen, ob da vorne das erlegte Wild liegt? Nein, nichts? Durchatmen. Immer wieder spielt sich die Szene im Kopf ab. Die Kugel muss gesessen haben, er hatte doch gespürt, dass er gut abgekommen ist. Sie muss. Bitte.
Endlich ist die Jagdzeit um. Der Jäger darf nun nachsehen, doch er findet nichts. Kein Schweiß (im Jägerjargon: ausgetretenes Blut), nur Schleifspuren im Laub, die beweisen, dass der Schuss irgendwie getroffen haben muss. Wenn doch nur Schnee läge. Dann wäre es einfacher, die Fährte zu verfolgen. Jetzt kommt auch noch sein Ansteller, der ihn anfangs an seinen Hochsitz gebracht hat, und will ihn abholen. Schnell, schnell eine Nachsuche. Ob er die Anschussstelle markiert hat, dass man sie gut wiederfindet? Ja, hat er. Dann soll er erstmal zur Mittagssuppe kommen und sich mit den Hundeführern besprechen. Die nächste Stunde ist eine Qual, auch wenn er nach außen ruhig erscheint. Nein, er möchte kein Stück Kuchen nach der Suppe, vielen Dank auch. Er will wieder in den Wald und Gewissheit.
Erst als der Hundeführer die Hintertür von seinem Auto aufmacht und seinen Schweißhund aus der Box holt, wird der Jäger ruhiger. Die Routine der Nachsucher überträgt sich auf ihn. Der Hund schnüffelt beim Anschuss und nimmt erfreut die Spur auf. Am langen Riemen zieht er die Gruppe durch den Wald. Der Jäger selbst geht ungefähr zehn Meter hinter dem Hundeführer gemeinsam mit einem, der Spuren lesen kann. „Der Hund hat die Nase, ich meine Augen“, sagt er und zeigt auf braune Schmiere, die er am Waldboden ausmacht. Waidwund geschossen, also in die Gedärme, der Menge des Verdauten nach aber gewiss tödlich. Der Hund gibt Spurlaut, die Fährte wird frischer und das Wild kann nicht mehr weit sein. Er ist in Gedanken jetzt ganz bei dem Tier. Mann, alter Fährtenleser, rede nicht so viel und tu nicht so, als wäre der Fall schon klar. Da endlich ist das Reh in Sicht, der Hund wird vom Riemen geschnallt. Das Tier hat sich bereits ins Wundbett gelegt. Es ist ein leichtes, den Fangschuss zu geben.
Ob er aufbrechen könne? Was für eine Frage, er ist schließlich kein Sonntagsjäger. Erleichtert zückt er sein Messer, stößt es durch das Fell und öffnet die Bauchdecke. Dann waidet er die Innereien aus und trägt das Stück zu den anderen am Sammelplatz. Das Blut an seinen Händen ist schon lange getrocknet, als sich alle Schützen, alle Hundeführer und Treiber zusammen finden, um dem Wild die letzte Ehre darzubieten. Jede erlegten Wildart wird ein eigenes Lied geblasen und ihm vom Jagdherrn seinen Bruch, einen kurzen Zweig von einer Tanne oder einer Eiche, überreicht. Die Jagd ist vorbei, und nun auf zum Schüsseltreiben, dem gemeinsamen Abendessen.
Da kann er dann, wie alle Jäger es so gerne tun, stundenlang seine Geschichten aus dem Wald erzählen.