Es ist nicht schlimm, wenn man missverstanden wird,
schlimmer ist, wenn man verstanden wird.
(Donatien Alphonse F. Marquis de Sade)
„Hast du Koks im Ohr?“ Der Techno-Hippie ist wie magnetisiert von dem weißen Leuchten in meinen Ohren. Im Schwarzlicht des Clubraums entfalten meine notbehelfsmäßigen Papierkügelchen gegen Ohrenschmerz tatsächlich neue Strahlkraft. Begeistert, eine neue Einnahme des Narzissmus-Boosters entdeckt zu haben, versucht er mir seinen Finger in den Gehörgang zu stecken. Kopfscheu wie ich bin, halte ich schnell beide Hände vor meine Ohren. „Zu laut hier“ flüstere ich mit großen Mundbewegungen. Damit er mich tatsächlich hört, müssten sich meine Lippen sehr nah an seine Ohren begeben. Nur um ihm diese platte Wahrheit entgegen zu brüllen? Er merkt doch selbst, wie sein Brustkorb im Takt mit dem Bass pocht, ja sogar die Nasenflügel mitvibrieren. Lieber schone ich meine Stimme, die brauche ich noch für Wertvolleres wie „xx ist auch hier“, „xy legt in der P-Bar auf“ oder: „Taxi?“
Man hört nichts mehr vom Gegenüber, man redet nicht mit ihm und ist doch vollständig amüsiert, wenn in den Morgenstunden die Finger eine elektronische Tonleiter auf und ab spielen, die Füße rhythmisch zucken und der nickende Kopf den ständig wechselnden Beats hinterherjagt. Hirn auf Null, Blick auf Unendlich. Dreht der DJ einen besonderen Klang auf, strahlen sich Fremde mit orgiastischem Lachen an. Sie teilen Herzenswärme, als wären sie aus einem Guss, und verfallen danach wieder in sich selbst überlassene Ekstase. Stunden über Stunden, wer sich nicht genug amüsiert oder nur den Anschein macht, wird nicht dazu gebeten. Das tut uns aber leid, hat der Türsteher dich nicht reingelassen? Du merkst doch selbst: du interessierst hier nicht, dort nicht, mich selbst auch nicht.
Einen Schritt vorbei an der wartenden Schlange, hinein in die verlockende Ausblendung der Nacht und schon ist es wieder geschehen. Flucht ins Verdrängen, geliebtes Vergessen, keine Peinlichkeit mehr kennen. Tanzen will ich mit elektrischem Gefühl. Schein oder Sein? Könnte ich wählen, ich wollte das Eine und kann doch bloß das Erste. Nur dem Anschein nach verschmilzt für wenige Momente, was innen und außen ist, Gewesenes und Gewolltes, Verrücktes und Gebliebenes in trügerischer Vollständigkeit: ein gedämpftes Ganz-bei-sich-Sein in der Musik.
Die Mode, der Betäubung als Hochgenuss gilt, geht nicht vorbei. Zu jeder Gelegenheit wieder dieselbe Verzückung: Der Tänzer fühlt sich attraktiv, geht er in die Tiefen seines Selbst und verharrt dort im andauernden Karussell bis die Ohren klingen und der Taktstock um den Schmalz sich dreht. Erst am nächsten Tag, nach komatösem Schlaf, wird krustig Verklebtes sichtbar, beschämt sieht er sich dann nur hässlich, egoistisch und dumm.
Mehr Schonung statt Selbstzerstörung ist der Vorsatz an jedem Sonntag, an dem postalkoholische Depressionen und ein Sozialkater die Selbstachtung zerkratzen. Tief im Inneren pochen die bösen W-Fragen: Warum muss es immer so viel von allem sein und wozu? Oder konkreter: Wo ist man gewesen und mit wem? Wie nach Hause gekommen? Was hat man von sich preisgegeben? Wen beschimpft, geküsst oder beides? Aber, wer will das schon genau wissen? Wer kann aus der verrauschten Erinnerung überhaupt noch entziffern, was passiert ist?
Yoga-Stunden oder sonntagabends einen Gottesdienst besuchen, sind gute Maßnahmen, um das zerschlagene Ich wieder zusammenzufügen. Bei umschmeichelnden Orgelklängen spricht mir ein Mann Gottes allgemeinen Mut zu, damit ich meinen Alltag in der nächsten Woche gut bewältigen kann. Doch, während hier demütig die Laster von der Seele geputzt werden, flirrt ein hohes Fiepen in meinen Ohren, schwillt an, schwillt ab. So gut haben die Papierkügelchen nicht geschützt, die empfindlichen Härchen im Trommelfell haben sich doch den Schallwellen gebeugt.
Mich schälen aus meinen Körper, das ist ich mein Wunsch am Rande der Erschöpfung. Könnte man doch einfach herauskatapultiert werden: hoch über die Wolken, hinter die Berge, unter die Flüsse. Ich müsste mich und meine Kopfschmerzen nicht mehr ertragen, sondern ginge seicht im Strom auf, in kleinen, leichten Flüssen, bis auch diese sich verlieren. Lästig ist mir mein Sein, mein gieriges Leben, mein dummes Gehirn. Doch nicht nur ich bin es, die das Überflüssige verherrlicht. Im Munde aller wird elender Dreck, der sich Event und Kunst nennt, geehrt, doch vermag keiner aus der Dauerschleife der Exzesse auszusteigen. Immer tiefer nur dreht sich die Schraube der vergötterten Nutzlosigkeit.
Ich wünschte so sehr, im Supermarkt verkauft zu werden. In einer Tüte zu verschwinden und einen Herrn zu haben, der mich erwählt und mit Genuss vernascht. Ich wünschte so sehr, niemals im Supermarkt verkauft zu werden. Es ist das größte Grauen in einer Tüte zu verschwinden, einen Herrn zu haben, erwählt und vernascht zu werden. Doch die einzige Rettung ist die Gleichgültigkeit, so autonom und frei zu werden; niemandem gefallen zu müssen, dass man jedem gefällt. Zwei Seelen sind in meiner Brust, doch lieben sie mich beide nicht.
Das Leben nimmt mich nicht ernst. Es fühlt sich wohl durch meine Eskapaden nicht ausreichend gewollt und hofiert. Launisch wird es dann und geizt mit dem Schönen, verschleiert die Wege und gefällt sich in grausamen Plagen. Es will, getragen auf Händen, kein einziges Mal einen Fuß auf die Erde setzen, nie ohne verlässliche Stütze und seine auf Appell getrimmten Sklaven. Erst dann nimmt es mich gnädig wieder auf. Vielleicht.
Besser wäre nicht.
"Aber schön war es doch. Und...
„Aber schön war es doch. Und ich möcht‘ es noch einmal erleben!“ (Hildegard Knef)
<p>"„xy legt in der...
„„xy legt in der P-Bar auf“ -> Wirt-shaus promo-tions
„Wo ist man gewesen und mit wem?“ -> daß diese Frage Gottesdienstbesucher beschäftigt ist mir absolut klar. Immerhin gründet deren ganze Religion auf einen Saustall/Wirtshaus und die vor 2010 Jahren noch nicht zweifelfrei klärbare Frage wer denn nun Erzeuger sei.
"Wo ist man gewesen und mit...
„Wo ist man gewesen und mit wem“ – Und wie schaffen Sie es, sich ganz aufzulösen, dass die Frage sich erübrigt?
<p>Einfach die...
Einfach die Handtaschen-version kaufen http://www.reclam.de/…/978-3-15-001241-3 man ist ja frei sich postalkoholisch depressiv zurückzulehnen und zu schauen welche Alternativen sich bieten.
<p>Das mir wohlbekannte, aber...
Das mir wohlbekannte, aber für mich bisher namenlose Phänomen des „Sozialkaters“ – woher haben Sie den Begriff? Etwa… ergoogelt?
http://www.assoziations-blaster.de/…/Sozialkater.html
Köstlich krankes Zeug.
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Es legt sich übrigens im Alter (also, von der Häufigkeit her meine ich, leider nicht in der Intensität).
Sozialkater - schon oft...
Sozialkater – schon oft gehört, schon oft selbstbelächelnd benutzt.
„leider nicht in der Intensität“ – das beruhigt mich.
<p>Hach ja die Postdelirialen...
Hach ja die Postdelirialen Depressionen. Gibt aber schlimmeres, zumindest wenn sie mal weit genug zurueck liegen. Oft genug gut fuer nette Anekdoten, wenn man sich selber nur nicht zu ernst nimt.
<p>grosse musik, sophie!</p>...
grosse musik, sophie!
<p>Was sollte das denn jetzt...
Was sollte das denn jetzt werden: Hegemann reloaded?
Dann bitte aufpassen, daß Sie die richtige Quelle zitieren…
Schöner Artikel! Amüsant zu...
Schöner Artikel! Amüsant zu lesen.