Ding und Dinglichkeit

Weltschmerz in schlafloser Nacht – das falsche Kopfkissen

Die Alten sagen leicht erhaben: Die Diskussion um die Atomenergie und alle ihre Argumente sei dieselbe wie in den Achtzigern. Im Stillen gärt gewiss auch Frust, niemand erlebt, dass die Menschen klüger würden. Ökonomie und Utopie streiten sich, wie immer. Das hat man alles schon gesehen. Doch bei mir hat sich etwas geändert, seit die Debatte der Achtziger aus gegebenem Anlass wieder aufgeführt wird: auf einen Schlag bin ich dreißig Jahre älter.

Lass es vierzig Jahre sein: Bettflucht gehört jedenfalls nicht zu den typischen Lastern einer Twenty-something Jährigen. Auch nicht die zwei Falten zwischen den Augenbrauen, die sich beim Blick auf worldnews bilden. Krähenfüße hacken in die Ränder der Lider, wenn Augen sich zusammenkneifen wie bei grellem Licht, weil sie ins Unfassbare stieren – zu jeder Nachrichtensendung aufs Neue. Es prügeln mich die Berichte ununterbrochen, und dennoch fordere ich sie von den Sendern zu jeder meiner individuellen Programmzeiten. Dabei überblicke ich nicht einmal, ob die Nachricht tatsächlich stimmt, noch nicht oder nie. Es macht mir Angst. Im Sturm der Katastrophenbilder zieht Schmerz in meine Rückenmuskeln und verhärtet den Nacken. Hilflos strömt Mitleid in die Sphäre, nach Japan, in den Jemen, nach Libyen und Lampedusa. Doch wen wird ein europäisches Mäuschen schon erreichen können?

Ein Ende soll jeder meiner Tage finden, Decke drüber und ausgeschaltet sei der Kopf. Doch Unruhe wirbelt weiter. Jeder Gedanke ein Seitenwechsel von links nach rechts. Ausgestreckt auf dem Rücken wird die Matratze zur harten Platte. Nichts passt sich mehr der Körperform an. Wütend haut die Faust ins Kopfkissen. Pragmatismus im Kleinen ist mein einziger Vorschlag zur Besserung: Ich habe das falsche Kopfkissen. Mit so einem weichen Kopfkissen konnte ich noch nie schlafen. Wenn ich erst ein anderes Kopfkissen hätte, wäre alles gut und ich würde mir nicht die Kraft rauben lassen, die ich für den Tag so dringend brauche.

Einsame Krämpfe in der Nacht bringen niemanden voran. Die Haltung der Großeltern, die wahrhaft selbst das Grauen kannten, klingt an. Und mit ihr die stille Verurteilung  von Zipperlein – Beschwerden, die doch nur im Glück der sicheren Existenz vorgebracht werden können. Dankbar sollte man in Gedenken ihrer sein, dass man überhaupt ein Kissen hat und eine warme Unterkunft. Was hatten sie alles verloren: die Heimat durch Vertreibung, ihre Häuser durch Bombenwellen, Männer und Väter im Krieg. Jahrelang hingen die Listen der Verschollenen in den Ämtern, stundenlang wurde ein Name nach dem anderen studiert. In Angesicht der Zerstörung konnte alles danach nur besser sein als das überstandene Elend. Doch der größtmögliche Unfall ist jetzt auf der Welt. Giftige Luft strömt in die Gene der Menschen, die tatsächlich auf harten Böden in Notunterkünften schlafen. An der Grenze Europas tobt Krieg mit all seinen Forderungen, Flüchtlinge strömen aus dem Land des Hungers. Zu Tausenden riskieren sie den Tod im Mittelmeer, alles scheint ihnen besser als Verbleiben im brennenden Land.

In dieser Weltsituation kann ich gar nicht anders, als meinem Kopfkissen die  Schlafstörung anzulasten. Zu viele Schuldige ließen sich an dreihundertvierundvierzig Händen abzählen. In Anbetracht des Leids bin ich nichts außer klein und unbedeutend, und dankbar dafür. Kein Held steckt in mir, der sich in die Katastrophe wagen würde und vor dem Kraftwerk ein Feuerwehrauto parken könnte.

Ich tue nichts mehr, als aus sicherer Distanz mitfühlen. Zumindest bin ich nicht die einzige. „Die Welt brennt und du scherst dich um so etwas Belangloses wie…“ höre ich oft. Mag sein, dass es wie eine Ausrede daher kommt, doch sie zieht. Bei mir zumindest, scheint es anderen zuweilen also auch den Boden unter den Füßen wegzureißen. Nicht wissend, wie diese Zäsur zu verdauen ist. Als hätte sich ein Vorhang geöffnet, auf der Bühne spielen sie „Reigen im Meinleid“, angesetzt für drei Monate. Dann wird wohl alles wieder beim Alten sein, die Ergriffenheit ausgewaschen, die Bundesliga auch vorbei, man wird wieder Spielfilme statt Frontal 21 sehen, die Wahlergebnisse sind bekannt und die Atomkraftwerke werden weiter für ihren Brückenweg gerüstet.

Mag sein, dass in drei Monaten das Muster der Gleichgültigkeit wieder einsetzt. Doch mich wird das nicht einen Tag mehr jünger machen – nach diesen dreißig Jahren mehr und noch drei Monaten. Angst braucht wohl nur einmal ihren Weg zu walzen, jede weitere schießt dann plötzlich und ungehemmt hindurch. Anders als Schmerz, der in Relation, mit „nicht so schlimm, wie“ gemessen wird.

Ich werde die richtige Kopfstütze schon finden. Am besten suche ich mir gleich ein anderes Bett.

 

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