Der Anfang ist gar nicht so wichtig, dachte Anna und zog ihren ersten Pinselstrich auf der Leinwand. Wie Gedanken kurz vorm Einschlafen vertieften sich ihre Züge im dunklen Blau mit Weiß. Doch schon die fünfte oder sechste Fahrt über das raue Papier verlor an Kraft und Richtung. Es sollte ein Bild entstehen, nur welches? Anna suchte in ihrer Rumpelkammer gesammelter Momente nach dem einen, der jetzt sein Auftreten im Augenscheinlichen feiern durfte. Dieses erste Gemälde sollte nicht umsonst entstehen, indem es nur ihr selbst gelten würde. Es sollte etwas Großartiges sein, eines das berührte, das verband und trennte. Etwas, das gewonnene Erkenntnisse entlarvte und Verlerntes neu begreifen ließ.
Weit davon entfernt, diesen Anspruch zu erfüllen, und wozu eigentlich, verharrte sie einen Moment. Statt den Pinsel wieder siegesgewiss in den Klecks gemischte Farbe zu tunken, griff sie bei jedem zweiten Ansatz zu ihrer Teetasse oder ihrem Wein oder den Zigaretten. Oder suchte das Feuerzeug für die Zigaretten; oder kochte schnell noch Wasser, um den Tee neu aufzubrühen. So kam sie zurück an den Platz, wo nichts entstand, und buhlte um die eine Ruhe, in der Gehaltvolles erst Beachtung findet.
Doch statt erlösender Klänge in glühenden Farben, hörte sie nur Stampfen und Trampeln zu schlechter Musik. Ein Stockwerk über ihr übten ihre Nachbarn mitten in der Nacht ihre neu gelernten Schritte aus der Tanzstunde. Zu solcher Musik tanzten höchstens Animateurinnen im Clubhotel, wobei sie sich als Torero-Barbie verkleideten, dazu ein Plastikleid trugen und eine knallrote Blume im Dutt, die mit Gel festgekleistert jeder Drehung standhielt.
Hotellobby-Musik – immer wieder ausgespuckte Beethoven-Air atmen und Sinatras Nächte würgen – doch es fiel den Gästen nicht auf, denn es passte zu den langen, dünnen Zigaretten der Aufsteigerfrauen, die ihre Eleganz aus vergangenen Jahrzehnten abkupferten, und zu den Aufsteigermännern in eckigen Schuhen, die Budapester werden wollten. Sollte sie diese bescheuerten Menschen nun malen, nur weil sie ihr im Kopf spukte? Es schien ihr recht zufällig; sie schloss die Augen.
Anna kannte das Paar aus dem Treppenhaus und vom typischen Nachbargedöns, wenn man sich mal einen Dosenöffner leihen musste. Einmal war sie deswegen in deren Wohnung gewesen. Es sah bei ihnen aus wie bei Ikea, nur stammte nichts von Ikea. Sorgsam hatten sie ihre Möbel auf Straßenmärkten, in Antikläden oder beim Interior-Designer zusammen gesucht und demonstrierten sich und jedem Besuch, dass man den nächsten Schritt genommen hatte: Man richtete sich individuell ein, hatte Geschmack entwickelt und wollte um Himmels willen nicht mehr vergleichbar sein. Es hatte zutiefst genervt, wenn ein Gast rief: dein Vorhang ist bei mir der Bettbezug. Ihr Heim sollte etwas ganz besonderes werden. Doch es half alles nichts, denn die Anordnung der Möbel und der Deko-Kunst war und blieb wohl für immer so wie Ikea es in ihre Köpfe gepflanzt hatte.
Außer den beiden kannte Anna in ihrem Haus nur noch ihre Nachbarin eine Tür weiter, die ihre Wohnung nie zu verlassen schien. Als Anna einmal nach einem großen Topf fragen wollte, öffnete ihr ein spindeldürres Mädchen. Ihr strähniges aschblondes Haar lag den hohlen Wangen auf, die Daumen der spinnenartigen Hände steckten mit verlogener Lässigkeit im Bund einer Jogginghose Größe 34, die großzügig um ihre Beine schlackerte. Es war Anna öfter schon aufgefallen, dass bei ihrer Nachbarin häufig Einkaufstüten vor der Tür standen. Ihr Vater brachte ihr die von Zeit zur Zeit vorbei. Einmal war Anna ihm begegnet, als er die vollen Tüten vor der Tür abstellte. Wie ertappt schien er, als Anna ihn begrüßte. Sorge sprang aus seinen tiefen Stirnfalten. „Sie macht nicht auf“, sagte er unmittelbar „deswegen stehen die Tüten hier manchmal.“ Seine Entschuldigung hat sie gerührt und irritiert zugleich. Es war ihr peinlich, in die Sorgen eines fremden, traurigen Mannes eingeweiht zu werden. Schnell hatte Anna beteuert, dass das doch kein Problem sei und sie sich noch nie an den Tüten gestört hatte, schließlich kenne sie seine Tochter ein wenig. Erstaunt blickte er sie an, als spräche sie von einem Geist. Wahrscheinlich war sie das mittlerweile auch. Armes Ding.
Anna schlug die Augen wieder auf und blickte auf die Leinwand. Der Leichtigkeit beraubt, kämpfte sie um das Ziel, wohin die nächsten Striche führen sollten. Spindeldürre Mädchen vielleicht oder pralle Barbies? Diese verdammte Zufälligkeit, nach der sich Ideen spinnen. Wer sollte das nur kapieren?
Vor einer halben Stunde noch hatte sie nach gefühlten Stunden, ohne Einschlafen zu können, genervt auf ihr Handy geblickt. Halb zwei. Großartig. Morgen wollte sie doch früh aufstehen und viel zustande bringen! Sich gut konzentrieren, ganz dem Vorsatz der Erfolgreichen entsprechend: wer schneller denkt, hat weniger zu tun. Nur tat sie meistens lange nichts und noch weniger, wenn sie müde war. Die Aufgaben auf der Liste blieben trotz Zeit im Überfluss unausgeführt. Von Selbstdisziplin befreit, wurde Anna nur unter Druck willig, langweilige Bewerbungen oder Rechnungen zu sortieren. Bis ein unterschriebener Brief am trägen Tag im Umschlag mit Briefmarke zum Briefkasten gelangte, brauchte es gewiss drei Anläufe, bis sich das schlechte Gewissen gegen den Widerwillen durchsetzen konnte.
Vom Liegen gelangweilt, war sie dann ins Wohnzimmer gegangen und hatte ein paar Minuten auf die Straße unter ihrem Balkon geblickt. Straßenbahn, U-Bahn und Lastwagen fuhren hier tagsüber im Minutentakt, nachts war es etwas besser. Sie sollte sich eine Hängematte über ihren Balkon spannen, hatte Anna gedacht. Dann hätte sie beim Schlafen auch noch ein wenig Abwechslung. Nur Abwechslung macht müde. Nun hatte sie keine Hängematte, also hatte sie entschlossen, was sie immer beschloss, wenn sie vom Wachsein nicht entlassen wurde. Sie wollte malen.
Doch zögernd und gewiss bald missmutig stand Anna vor der Leinwand. Warum sie malte, wusste sie noch lange nicht. Vielleicht, weil sie gerne erzählte, dass sie am liebsten ihr ganzes Leben lang nur malen wollte. Dann wäre sie eine Künstlerin, was ihr als eine recht bedeutungsvolle, dennoch charmante Berufung erschien. Als Künstlerin dürfte keiner mehr versuchen, ihr Schablonen starrer Gedankengerüste überzustülpen: Was rechtens war und anerkannten Erfolg versprach. Auch gerne auf der Liste gutgemeinter Ratschläge: was noch nie funktioniert hatte, denn zuletzt sei der Mensch immer schlecht, ungerecht und dafür fast entschuldigt, weil zu jeder Zeit dem eigenen Vorteil erlegen.
Künstlerin sein war ihre Chance, sich aus ihrer bisherigen Existenz zu schälen. Nebenbei war es auch verlockend, dass sie sich erst einmal nicht den mühsamen Bewerbungsprozessen unterziehen müsste, um dann in vorgefertigten Bahnen eine Karriere zu planen! Bäh. Nein, sie wollte einen besonderen Weg gehen. Einen, der nur von ihr selbst bestimmt wurde und auch nur von ihr selbst ausgefüllt werden konnte. Unaustauschbar. So sehr drängte es in ihr nach Bedeutung, als wäre sie einmal ihrer beraubt worden.
Vielleicht wollte sie sich auch einfach nicht mit den anderen messen: An denen, die schon immer mit der Nase im Wind und einem festen Ziel vor Augen ihren Weg beschritten hatten. Was auch immer Anna sich auch für eine passende Richtung überlegt hatte, immer waren die anderen ihr voraus. Wie der Igel dem Hasen, der die Rennstrecke hin und her rannte bis sein Herz aus seiner Hasenbrust heraus springen wollte. Blöder Igel!
Sie schloss die Augen noch einmal. Sagenhafte Technik. Was sollte sie nun zustande bringen? Es wäre so viel einfacher, wenn ein bestimmtes Bild sich im Kopf eingepflanzt hatte. Etwas, was sie einmal beobachtet hatte, einen Blick, eine Geste, ein Sonnenschein. Derlei hatte sie schon oft in Skizzen und Aquarellen festgehalten, doch jetzt drängte nichts davon aus ihr hervor. Erzürnt wollte Anna aber, dass dieser Moment jetzt ein magischer sein sollte. Gleich würde sie den Pinsel für immer wegschmeißen. Gescheitert mit dreiundzwanzig Jahren, konnten sie dann auf ihren Grabstein schreiben, denn alles, was danach kommen möge, würde sie nicht mehr interessieren.
<p>ich verewige mich mit einem...
ich verewige mich mit einem satten Farbkleks; den Text lese ich spaeter.
Hasta luego...
Hasta luego
<p>Ja, der Anfang ist immer...
Ja, der Anfang ist immer das schwerste. Kenn ich aus eigener Erfahrung. Wenn man dann aber erst mal dabei ist…
… und wann folgt die Fortsetzung?
Nächste Woche!...
Nächste Woche!
<p>Beste...
Beste Sophie
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Bin ich froh, dass es eine Fortsetzung gibt (zum Glück Ihr Versprechen!). Denn mit 23 den Pinsel abgeben – das ist ungefähr so wie wenn Goethe noch vor seinem Werther gescheitert wäre….
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Danke für das federleichte Aquarell !
<p>Endlich wieder!</p>
<p>I...
Endlich wieder!
I love love love it!!!!!
Übe jetzt noch schneller zu denken, um noch weniger zu tun zu haben. Dann beginne ich mit Malen nach Zahlen 🙂
<p>Aber Sophie, wozu den diese...
Aber Sophie, wozu den diese eklige Panscherei mit den Farben. Malen tut man doch heute digital. Gibt es sicher auch schon als App für das Ei-Pädd…
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Und vor allem nicht die Teetasse mit dem Pinselspülglas verwechseln. 😉
Manfred hat recht! Soll sich...
Manfred hat recht! Soll sich doch der Taschenrechner mit frischen Inspirationen abmühen!
<p>erst jetzt habe ich zu den...
erst jetzt habe ich zu den Buchstaben gefunden und die sind mehr als traurig
und depressiv vielleicht steigen deshalb viele auf Drogen um damit sie solche Farben ploetzlich im Kopf haben aber mit 23 soll man einfach das Leben angehen ohne hochtrabende Plaene der Rest kommt ganz automatisch gute Besserung (ich bekomme bei einem Rezeptfoto schon Farbraeusche)
erfrischend geschrieben,...
erfrischend geschrieben, schöne prosa! gefällt mir!