Ding und Dinglichkeit

Das Leben der Nachbarn: Die Gardine

Ein Freund von mir ist frisch in einen Wohnblock aus den sechziger Jahren eingezogen. Keine architektonische Seltenheit in Frankfurt. Gleich an gleich reiht sich eine Fensterfront an die andere. An die Fensterbänke könnte man ein Lineal mit einer Wasserwaage anlegen. Jeder Stock ist auf gleicher Höhe angelegt, die Waagerechten ziehen sich ungebrochen die ganze Straße entlang. Und das nicht nur auf einer Seite, nein, man könnte in der Mitte der Straße einen Spiegel aufbauen. Das Bild ist das gleiche, links wie rechts der parkenden Autos. Die Türen, die Fenster, die Regenrinne, alles ist genau eingegepasst: quadratisch, praktisch, ohne verspielte Winkel. Es gibt keine Verzierungen, keine Vorsprünge, keine Fensterläden. Man hat freie Sicht.

Es scheint in der ganzen Straße keine einzige Gardine zu geben, die ihre Geheimnisse für sich behalten kann. Die meisten sind weiß oder aus Spitze. Die Decken hängen zu tief, als dass man dunkle Stoffe in die schmalen Zimmer stopfen wollte. Wer hat eigentlich behauptet, dass Fernsehen ein untergehendes Medium sei? In dieser Straße nicht. Am Lichtspiel in den Vorhängen lässt sich das Fernsehprogramm leicht ablesen. Wenn grün und noch mehr blau durch den weißen Stoff flackert, muss ein Krimi auf dem dritten Programm laufen. Ändert sich das Licht im Nessel nur wenig, schaut man Phoenix. Zucken Blitze, haben die perfekt geföhnten Kommissarinnen des CSI Miami wohl die Führung übernommen.

Am großzügigsten unter den Vorhängen sind Lamellen. Es gibt keinen Winkel, in dem eine Lamelle blickdicht ist. Selbst wenn man gewissenhaft den Zylinder aus Plexiglas ganz bis ans Ende gedreht zu haben meint – immer wieder verrutscht die Konstruktion. Wie könnte es anders sein: Das Mädchen aus dem zweiten Stock wollte bestimmt nicht dabei gesehen werden, wie sie vor ihrem Sofa kniet, die Arme unter die Sitze schiebt und ihr Gesicht sich in die Sofakissen knautscht. Einen verstaubten Gegenstand nach dem anderen zieht sie vor. Ein Buch hat sie schon gefunden, Kopfhörer auch, was sucht sie eigentlich? Das Ding muss weit nach hinten gerutscht sein, jetzt liegt sie schon mit dem Gesicht auf dem Boden. Einmal drückt sie sich noch fest ins Gestell, dehnt den Arm und dann hat sie ihn – ihren zweiten Schuh.

Wirklich trügerisch sind eingelassene Milchglasscheiben vor Badezimmerfenstern. Mag sein, dass tagsüber wirklich kein fremder Blick in die intime Szene einfallen kann. Aber sobald es dunkel wird, lässt die trübe Scheibe empirische Stimmungsstudien unter fremden Duschen zu. Es gibt dynamische Duschtage: Mit nur wenig Zeit bis zum nächsten Termin ist der Mann nach seiner Arbeit in die Wohnung geeilt. Der Rücken ist gerade, die Brust nach vorne geschoben und seineHände wirbeln um den Oberkörper und die Hüfte. Drei mal greift er auf den oberen Rand der Duschwand, wo die Utensilien stehen. Duschgel, Poren-gel, Shampoo. Das ganze Programm. Bestimmt hat er eine attraktive Verabredung. Und es gibt die trägen Duschtagetage. Ohne positiven Zeitdruck gibt die Silhouette wenig her. Minutenlang bewegt sich nichts unter der Duschbrause. Die Schulter hängen runter, die Arme schlaff zur Seite, der Kopf dreht sich mal nach links, mal nach rechts. Bloß keine Aktivität mehr vortäuschen.

Ganz anders die junge Frau im vierten Stock und damit auf gleicher Höhe mit unserem Posten. Mit Elan statt Kraft zieht sie den Gurt der Fensterläden in einem Schwung nach unten. Kerzengerade steht sie vor uns in einem rosa T-Shirt und schwarzen Leggings. Sie nimmt die Ferse in die Hand und zieht ihren Oberschenkel an die Brust. Langsam streckt sie ihr Bein kerzengerade nach vorne, dann zur Seite und immer höher, höher, noch höher. Gleich müsste sie umfallen. Sie wankt schon leicht. Wir stoppen die Uhr. Dreißig Sekunden hält sie sich in der Dehnung, dann ist das nächste Bein dran. Ob es hier in der Gegend ein gutes Yoga-Studio gibt?

Je später der Freitagabend, desto voller werden die Wohnungen. Erst eins, dann zwei, dann sammeln sich fünf Freunde im Wohnzimmer. Der Tisch zwischen dem Sofa und den vier Plastikstühlen füllt sich mit Chips, Bierflaschen, Weingläsern und Zigarettenschachteln. Leben hier eigentlich auch etablierte Menschen mit Ruhezeiten? Hören kann man sie nicht. Wahrscheinlich kriechen sie am Freitagabend hinter ihre vollständig heruntergelassenen Rollläden. Schade eigentlich, denn aus immer mehr Wohnungen klingt Musik auf die Straße und schallendes Lachen. 

Und was passiert bei Ihnen vorm Balkon?

Die mobile Version verlassen