Ding und Dinglichkeit

Von einer, die fern blieb: Das Wiesn-Ticket

Nein, hab ich gesagt, wenn mich einer von Juni an fragte, an welchem der drei Wochenenden ich zur Wiesn fahre. Wirklich, du willst gar nicht fahren? In der Stimme schwingt Mitleid mit, als hätte ich gerade erzählt, dass ich ein Jahr lang nicht Geburtstag hatte. Nein, hab ich gesagt, ich fahre dieses Jahr überhaupt nicht zum Oktoberfest. So wie im letzten Jahr auch schon nicht, und zwei Jahre davor ebenso nicht. Vorab war ich allerdings gleich zwei Jahre hintereinander dort gewesen. Die Abstände werden stetig länger, – wie angenehm.

Wer im Juni damit anfängt, ein Wochenende auf dem Oktoberfest zu planen, kommt sowieso zu spät. Denn es gibt nur einen Weg, die Zeit im Zelt mit dem kleinst möglichen Verlust zu überstehen: Die Eintrittskarte, – ohne einflussreiche Freunde aus dem Schützenverein oder der Tierkreis-Sitzgruppenversammlung braucht man die weite Reise nicht anzutreten, um sich durch die am härtesten bewachten Türen Deutschlands zu quetschen. Doch die Plätze sind Jahre im voraus schon ausgebucht. Spontan geht nur, was auf echter Freundschaft, offenbarungsfähiger Anziehungskraft oder tiefer Ergebenheit fußt.

Ohne Karte: keine Wiesn-Maß; ohne Karte: kein Wiesn-Händl. Jedenfalls nicht zu erträglichen Konditionen, sondern für den Wiesn-Tourist ab morgens um sieben mit vierhundert drängelnden anderen vor den sich für zehn Minuten öffnenden Türen, – bis abends um elf Uhr, wenn das Zelt leer gefegt wird. Wer vorher geht, steht wieder draussen.  

Ich möchte hier nun nicht all zu zerbrechlich wirken, das wäre gelogen. Natürlich liebe ich es, mit tausend anderen feschen Kerlen und Zuckermadln auf den Tischen zu tanzen, – falle, wer wolle. Natürlich lache ich, wenn ich mit einer Freundin zwei Hocker an der Schnapsbar entdeckt habe und Bestellungen an die Barfrau weitergebe: Fünfzehn Schnaps und zwei für uns, Vermittlung hat ihren Preis. Noch nie empfand das einer als unverschämt. Hier lässt sich jeder ausnehmen, darüber ärgert man sich doch auf der Wiesn nicht!

Dennoch, die zwei Stunden im Zelt, in denen ich nur noch schwammige und rot geäderte Wangen sehe, bleiben häßlich in Erinnerung. Oder die zwei, drei Stunden, in denen ich Wortfetzen mit Menschen teile, deren Augen mehr rück- als vorwärts blicken. Mag sein, dass das alles nur erschöpfender Empfindsamkeit zuzuschreiben ist. Mag sein, dass ein Wiesn-Tag auch nicht viel anstengender ist, als eine Nacht tanzen im Techno-Club; oder früher in der Disko. Aber da ist es zumindest dunkel.

Wenn ich noch einen Grund bräuchte, um zu rechtfertigen, dass mich das Wiesn-Erlebnis wohl niemals überzeugen wird: Es ist mir auch zu hierarchisch. Schon während der Planung macht sich strikte Unterteilung zwischen Leuten in den Köpfen breit. Wer hat eine Einladung und damit eine Karte, wer nicht. Wer kennt den Zeltbesitzer, wer nicht. Wer die Barfrau Anke, wer nicht. Zwei Sparten werden angelegt und einer nach dem anderen einsortiert. Und dann – zwangsläufig – bringt die soziale Hierarchie eine ihr anhaftende Denkweise hervor, die mir äußerst unangenehm ist, denn die Menschen beginnen, abfällig zu werden.

Abfälligkeit und ihre Mitspielerin, die als Bedeutung oder Selbstaufwertung zu diagnostisieren ist, gewinnen stetig mehr Einfluss. Immer schwingt in dem, der über die Holzbretter ins Zelt treten darf, während sich andere hilflos die Nasen an den Türen platt drücken, ein Gefühl wie auf dem roten Teppich mit. Man ist privilegiert, juhuu. Andere Freunde werden dann besser ignoriert, Verwandte nicht erkannt. Was sollte man auch schon für sie tun, damit auch sie es ins Zelt schaffen, wenn man doch selbst nur mit Glück und aktuell guten Verbindungen in die Arena durfte.

Einmal drinnen, ist das Gefühl schnell vergessen, denn der Zirkus in Lederhosen und hochgeschnalltem Holz vor der Hütten tobt und nimmt dich mit. Außerdem gehst ja an deinen Tisch, hast einen Platz und darfst dir Maß und Hendl bestellen. Hier bist du sicher vor Türstehern, die alle paar Stunden jeden, wirklich jeden, der gerade im Gang steht, wie Bulldozer durch die offenen Türen nach draussen schieben, denn das Zelt ist viel zu voll. Schuhe, Jacken, Ehefrauen – für nichts darf man noch einmal zurück. Aber mit einem Platz am Tisch bist du sicher, und darfst sogar sitzen. Kannst hinab schauen aus deiner Box und dich glänzend fühlen.

Aber was wäre das für ein Leben, wenn Privilegien blieben bis zum Schluss. Die Wiesn funktioniert da nicht anders, im Gegenteil: extremer, schneller, exzessiver. Im einem Moment bist du am schicken Tisch – , genauer: von zehn bis ein Uhr, von eins bis vier oder von vier bis sieben. Danach wird Platz gemacht für die Frischen, und dann stehen sie wie alle anderen auch zwischen dem Wiesn-Mob und kaum einer kann noch auseinander halten, wer einmal aus welcher Ecke kam. Ist das gerecht? Vielleicht. Mühsam? In jedem Fall. Verlockend? Tja, natürlich.

 

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