Das Mädchen trinkt einen Schluck Wasser aus der Flasche. Um sie herum stehen ihre Freunde, manche sitzen auch am Tisch und frühstücken noch. Ihr Haar wuselt im Nacken durcheinander, die Spitzen vertüddeln sich in kleinen Knoten. Ihr großzügig aufgetragenes Make-up verdeckt nur mühsam die Schatten der Nacht.
Ich weiß nicht, wer sie ist, aber ich kenne sie. Von letzter Nacht. Von vor sechs Stunden. Als sie jubelnd auf der Tanzfläche stand. Als sie vor ihrem Tanzpartner den Liedtext mitgesungen hat, als stünde sie beim Popkonzert in der ersten Reihe und hinter ihr eine euphorische Masse im Taumel der Klänge.
Heute wirkt sie schüchtern. Spricht wenig und wenn doch, dann mit tief kratzender Stimme. Gestern hätten wir nebeneinander stehen und uns nach Minuten vorkommen können wie beste Freundinnen. Hätten einstimmig lachen, singen und tanzen können. Doch heute ist der Zauber der Musik dem Kopfschmerz gewichen. Immerhin hat sie es zum Brunch geschafft und ist nicht mit Sozialkater im Bett geblieben: Was gestern lustig war, scheint heute peinlich. Was gestern interessant war – Lebenslauf, Beziehungskiste, haltlose Aversion – strengt heute den Zuhörer an.
Am nächsten Morgen beim Katerfrühstück mag man nicht mit Fremden sprechen. Die Schublade mit neuen Eindrücken ist rappelvoll, eine zusätzliche Information kann schnell Ernüchterung hervorrufen. Aber mit Unachtsamkeit den anderen beleidigen will man auch nicht. Lieber auf Tuchfühlung mit den Wohlfühlmenschen bleiben, mit denen, die einen kennen und auch schweigend in die Luft starren lassen, statt eine Antwort zu fordern.
Physisch anwesend, doch noch nicht wach. Noch im Traumland. Noch auf der Tanzfläche. Wie heillos doch alle durcheinander gewirbelt sind, die heute wieder gerade stehen und sich bei den Gastgebern höflich verabschieden.
Langsam gewinnt die Konvention wieder Oberhand. Gleich wird sie ihr eigenes Fest feiern. Dann, wenn es ans Verabschieden geht. Beim Einhalten der nicht formal festgeschriebenen Verabschiedungs-Regeln, die von einer Gruppe von Menschen aufgrund eines Konsenses eingehalten werden, bilden sich unterschiedliche Typen raus:
Der bequeme Typ:
Bleibt am liebsten an seinem einmal eingenommenen Platz und lässt die anderen zu sich kommen. Winkt lieber über den Tisch rüber, statt sich mühsam aus der Reihe auf der Bierbank zu schälen. Muss er selbst bald aufbrechen, hängt er sich an seine Begleitung, die die konversative Führung übernimmt, sodass er nur noch zu nicken braucht.
Der minimalistische Typ:
Nimmt nur den Weg zu den Gastgebern auf, um sich zu bedanken, den Blumenschmuck zu loben und zu verabschieden und möglichst zu niemandem sonst. Auf die Frage, wohin er denn nun noch fahren muss, sagt er Berlin und nicht Neustrelitz oder Frankfurt statt Flughafen, womit er sich die Erläuterung spart, wohin sein Flugzeug geht und was er dort macht und wie lange schon.
Der sportliche Typ
Hat den Ehrgeiz, allen auf Wiedersehen zu sagen. Gibt jedem ein Bussi oder einen Handschlag, auch denen, die er gar nicht kennt. Hält seine Konversation aber knapp. Es bleibt beim harmlosen Geplänkel über die kürzeste Route nach Hause oder die nächste Möglichkeit sich wiederzusehen.
Der barocke Typ
Das dauert. Hauptsächlich bei weiblichen Gästen zu beobachten. Es wird der Koffer wieder abgestellt und nochmal auf halber Pobacke Platz genommen. Nun hat man einmal noch die Chance, das Gespräch vom Vorabend zu Ende zu führen. Man versichert sich, wie herrlich man es fand, sich endlich mal wiedergesehen zu haben und, dass man das unbedingt wiederholen müsse. Wann könnte das möglich sein? Kalender werden verglichen, die Infrastruktur zwischen Schlafplatz, Ab- und Anreise und Kleiderwahl schon angerissen. Das Ganze mit so vielen wie möglich. Bis die Reisegruppe ungeduldig wird, mit der man nach Hause fährt. Aber man hat ja noch gar nicht den Gastgebern Tschüß gesagt. Das muss noch sein. Und auf dem Weg zu ihnen jedem, den man noch dazwischen schieben kann.
Das Mädchen mit der Wasserflasche oszilliert wahrscheinlich zwischen der ersten und der zweiten Kategorie, merke ich, als sie mit ihrer Reisegruppe eigentlich schon am Ausgang steht, sich die Gruppe aber nur mit 2m/10min voran bewegt, weil immer einer ausbricht, um kurz dem und dem noch tschüß zu sagen. Ich laufe mit einer Freundin an ihnen vorbei, weil sie ihr Gepäck aus meinem Auto holen muss. Wir verabschieden uns von jedem einzelnen, die Gruppe ist überschaubar und fast alle meine Freunde. Als ich dem Mädchen mit der Wasserflasche ein Küßchen rechts und links gebe – die Hand reichen ist doch schrecklich förmlich in unserem Alter – sagt sie nichts außer leise ,ciao‘.
In keinem Winkel ihres Gesichts steht, dass sie sich an mich erinnert.
Doch dann: ein Zwinkern.