Ding und Dinglichkeit

Was die Welt im Schauspiel Frankfurt zusammenhält

„Fluch allem!
Fluch vor allem der Geduld!

Es gehört zum Erfahrungskanon eines heranwachsenden Bildungsbürgers, sich einmal Goethes „Faust I. & Faust II“ in einem Stück zu geben. So würde es zumindest mein alter Philosophie-Lehrer ausdrücken. Seine Mundwinkel würden sich dabei spöttisch kräuseln, indes in seinen Augen Sehnsucht schimmern.

Auch ich habe mir Karten für die Vorstellung im Schauspiel Frankfurt besorgt. Nicht nur, um mitreden zu können; vielmehr von der Lust getrieben, dass ich, die folgsame Christin, mich an dem Stück hemmungslos ergötzen werde.

Vorab werde ich beim Smalltalk von ehemaligen Faust-Marathon-Zuschauern gewarnt: Dem ersten Teil habe man noch gut folgen können. Beim Zweiten sei man verloren gegangen. Manche in der Pause gar geflüchtet.

Auch ich habe bei der Lektüre von Faust II. im Deutsch-LK aufgegeben. Immerhin wurde dieser in der Klausur vom Lehrer nicht abgefragt, – mit Ankündigung und voller Gnade.

Auch das Schauspiel Frankfurt ist gnädig mit seinem Faust-Publikum. Zwischen dem ersten und dem zweiten Teil dauert die Pause ganze drei Stunden. Man kann schlendern, etwas essen gehen und dabei auf Reset drücken. Was gut tut, denn Faust II. ist eine unabhängige Produktion mit neuem Regisseur und neuen Schauspielern.

Hätte ich das vorab gewusst,
hätte ich mich, mit noch mehr
Applaus, von Alexander Scheer,
dem Mephisto im Faust I.
verabschiedet.
Hätte, hätte,
hätte.

Im Ersten Teil poltern die Geister, die Faust rief, von großen Bildschirmen herab. Drogen-Spritzen gleiten über ein Firmament aus geometrischen Videscreens. Pop-Lieder werden von Elektrogitarren begleitet. Der Osterspaziergang wurde vorab als Kunstfilm gedreht: Im gleichen Kostüm wie auf der Bühne sieht man Faust (Marc Oliver Schulze) und seinen Diener Wagner (Mathis Reinhardt) durch die Straßen Frankfurts flanieren. Derweil Faust seine innere Zerrissenheit offenbart: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.“

Ich fühle mich auf Anhieb wohl in der crossmedialen Bildsprache von Regisseur Stefan Pucher. Meine Sitznachbarn, ein spießbürgerlich gereiftes Ehepaar, an dem Loriot große Freude gehabt hätte, dagegen ganz und gar nicht: mit säuerlich angespitzen Lippen folgen sie dem Schauspiel.

In der Pause motzen sie mich an. Was ich denn die ganze Zeit mit meinem Telefon mache? Das wäre unerhört. Ich gestehe, ich habe mich schlecht benommen. Ich habe während der Vorstellung auf meinen digitalen Notizzettel im Smartphone Sätze getippt, die mir gefallen haben. Und sogar – ich werde es dem Priester beichten – Fotos gemacht. So etwas aber gehört sich nicht im Theater.

Ich versuche mich zu verteidigen. „Ich bin Blogger“, sage ich.
Als das nichts hilft, behaupte ich, dass ich aus der Vorstellung live twittere. Doch die ehrenwerten Theatergänger, die gewiss in einem, von Udo Jürgens besungenen ehrenwerten Haus leben, brabbeln nur: „Blogger? Was soll das sein?“ Liebe Blogger, kennen Sie dies Leid? Was sind wir doch noch für Kuriositäten im realen Leben!
Dennoch, ganz so einfach lasse ich die Oldies nicht davonkommen.
„Ich kann Ihren Punkt nicht nachvollziehen“, argumentiere ich. „Bei all den riesigen Bildschirmen auf der Bühne, können Sie sich doch nicht ernsthaft von meinem Mini-Bildschirm gestört fühlen!?“

Doch keine Gnade für die unerzogene Jugend! Wir einigen uns wortlos auf gegenseitige Ignoranz. Dennoch kann ich, bei jedem Beinumschlagen oder Zurechtsetzen im Sessel, ein scharfes Luftholen von rechts hören.


Beim Zweiten Teil, eine Inszenierung von Günter Krämer, hätte ich noch viel lieber fotografiert als im Ersten. Oder, besser: gemalt! In Öl auf großer Leinwand.
Im Hintergrund: die Zelte der Occupy-Bewegung, bewacht von einem patrouillierenden Polizisten mit echtem Schäferhund.
(Echte Tiere müssen in der Theaterwelt gerade hoch im Kurs stehen. Auch in Faust I. spielte ein echter Pudel mit.)
Davor also eine Bühnenzeile für die Geigerin, welche der Szene mit ihrem Instrument einen tinnitusartigen Ton unterschiebt. Davor dann … himmel, was war es noch … hätte ich doch ein Foto machen können…; vorne am Bühnenrand jedenfalls vollendet das Bild eine Stuhlreihe mit den Schauspielern, die am endgültigen Urteil über die Menschheit feilen. Ganz wunderbar.

Also. Nun. Nach sechs Stunden Faust. Was ist es, das die Welt im Innersten zusammenhält? Ich habe dazu eine, von großer Kenntnis ungetrübte, These.

Es ist die Zeit.

Die Zeit ist, was Faust I. und II. dramaturgisch zusammenhält. Faust I. beginnt in der Gegenwart des Professor Faust. Der Zweite Teil geht in der Zeit immer weiter zurück. Bis in die Antike. Ja, sogar bis ins Himmelreich. Bis in die Ewigkeit. In Ewigkeit. Amen.
Die Zeit ist, was die erste Inszenierung mit der zweiten zusammenhält. Erst Stefan Puchers Faust I. mit allem Feuerwerk der neuen Medien. Dann Günter Krämers Faust II. mit der akzentuierten Ruhe des klassisch-modernen Theaters.
Die Zeit ist sogar, was mich mit meinen spießigen Sitznachbarn zusammenhält. Sogleich es auf den ersten Blick nach einem Getrennt-Sein ausschaut. Doch immerhin sitzen wir nebeneinander zur selben Zeit im selben Theater.

Die sympathische junge Frau, die eine Einführung zu Faust II. in der Panorama-Bar gehalten hat, versuchte Faust als typisch modernes Phänomen zu beschreiben.
Was gewiss richtig ist. Doch viel relevanter, finde ich, hat Goethe in seiner Tragödie versucht,
den immerwährenden Wahrheiten der Welt auf den Grund zu folgen.
Welche natürlich auch auf die Moderne zutreffen.
q.e.d.
(Und wohl auch in Zukunft wahr sein werden)

Und nun, zu allerletzt, das Ding dieses Blogbeitrags.
Wer weiß es schon, wer ahnt es noch?

Hochaktuell präsentiert, weil crossmedial:

 

Mit Verlaub, ein Nachtrag. Sozusagen meine Beute aus der Vorstellung. Echtes Schauspiel-Bühnengeld, in dessen Kreis Faust im Zweiten Teil steht und das Kapital verklagt.

Einen echten Zehner hab ich daneben gelegt. Für den Vergleich.

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