Es muss so gegen 22.25 Uhr gewesen sein, als allmählich klar wurde, dass nichts mehr geht, als die die Italiener in der Sportsbar, in der ich mir das Halbfinale angeschaut habe, jede noch so kleine defensive Inter-Aktion bejubelten, obwohl sie, in der Mehrheit aus dem Süden stammend, sonst für milanesischen Fußball gar nichts übrig haben. Auf einmal wurde einer dieser unvermeidlichen Spielstatistiken eingeblendet, und was man da las, war kaum zu fassen: Mehr als 500 „completed passes” von Barca standen ungefähr 70 bei Inter gegenüber, bei 77 Prozent Ballbesitz für die Katalanen, am Ende waren es dann wohl 75 Prozent.
Ich habe erst an einen Computerfehler geglaubt, dann mal kurz mitgezählt und bemerkt, dass die Zahlen wohl stimmen. Die Barca-Akteure, die mit fortschreitender Spielzeit wirkten, als seien sie ihres eigenen Pass- und Positionsspiels überdrüssig, ohne deshalb damit aufhören zu können, schoben sich in hoher Frequenz die Bälle zu, die Mailänder hatten ihnen einen Teil des Mittelfeldes überlassen, um sich wie eine Handballmannschaft am Kreis vor dem eigenen Strafraum zu formieren. Und Barca versuchte immer wieder, die Außen anzuspielen, die wieder zur Mitte zurückpassen mussten, wo Xavi oder Messi die Lücke suchten für das, was beim Handball ein Kreisläuferanspiel ist, weil sie keinen Rückraumschützen hatten. Da kommen natürlich endlose Ballstafetten zusammen, bei denen man im Handball Zeitspiel pfeifen würde, weil niemand versucht, zum Abschluss zu kommen. Durchschnittlich sieben Pässe pro Minute, das dürfte ein Rekord sein, dessen Sinnlosigkeit ihn reif fürs Guinness-Buch macht.
Diese Zahlen, auch wenn sie einen das Spiel nicht anders sehen lassen, erzählen doch die ganze Geschichte: eine Geschichte von ohnmächtiger Dominanz und wachsender Ratlosigkeit, von einem Positionsspiel, das, gegen den Willen der Akteure, immer mehr wie ein Selbstzweck aussah. Und wenn man in die Gesichter schauen konnte, wenn man auf die Gestik und Körpersprache eines Xavi achtete, wurde spürbar, dass sie vor lauter Verzweiflung einfach weiterspielten. Dass ein kantiger Abwehrspieler wie Pique das einzige Tor machte, war nur folgerichtig, weil er in seiner aufrechten Haltung, seiner Schnörkellosigkeit und entschlossenen Vorwärtsbewegung als einziger diesen Kampfgeist ausstrahlte, der sonst von dem diesmal gesperrten Puyol ausgeht.
Es ist aber auch eine Geschichte, die vom Schönen und vom Hässlichen handelt, von dem ästhetischen Mehrwert eines Fußballspiels, von dem man immer dann gerne spricht, wenn er in keinem Verhältnis zum Endergebnis steht. An diesem Abend im Camp Nou war die Lage allerdings komplizierter, weil nicht einfach der schöne vom hässlichen Fußball um den verdienten Lohn gebracht wurde, was letztlich nur ein moralisches, aber kein ästhetisches Urteil ist. Der schöne Fußball verschwand einfach, ohne alle Tragik, ohne verzweifelte Gegenwehr, er löste sich unaufhaltsam auf, weil er sich selbst genug war, weil seine Repräsentanten nicht willens oder nicht fähig waren zu begreifen, dass Inter nicht mitspielen wollte, da Jose Mourinho natürlich gesehen hatte, wohin das bei Arsenal im Viertelfinale geführt hatte. Und der hässliche, taktisch ausgefeilte, ultradisziplinierte Fußball, den Mourinho seinen jeweiligen Mannschaften verordnet, setzte sich durch, nie triumphal, meist unansehnlich, immer zweckmäßig, gerechtfertigt durch das Ergebnis – nach dem alten Designergrundsatz „form follows function”, was letztlich auch ein ästhetisches Urteil ist.